Bernd Jentzsch’ Gedicht „Arioso“

BERND JENTZSCH

Arioso

Ich bin der Weggehetzte.
Nicht der erste, nicht der letzte.

Von keiner Mine zerrissen.
Vorm Zaun nicht ins Gras gebissen.

Keine blaue Bohne in der Lunge
Nichtmal Blut auf der Zunge.

Mein Leib und meine sieben Sinne,
Alles frisch und unversehrt.

Das Leben, das ich nun beginne,
Lebt sich grade umgekehrt.

Ich bin der Weggehetzte.
Nicht der erste, nicht der letzte

Mir ist die Welt ins Herz gesprungen.
Mir, dem großen Lausejungen.

1978

aus: Bernd Jentzsch: Quartiermachen, Carl Hanser Verlag, München-Wien 1978

 

Konnotation

Zum dramatischen Sprechgesang („Arioso“) hielt der 1940 in Plauen/Vogtland geborene Bernd Jentzsch gehörigen Abstand, als er 1976 seinen Abschied aus seinem Heimatland DDR lyrisch resümierte. Dem Herausgeber der non-konformen Lyrikreihe Poesiealbum, in der zahlreiche junge DDR-Autoren erstmals publiziert wurden, hatten die Behörden hart zugesetzt. Nach Strafandrohungen wegen seines Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns ging Jentzsch in den Westen. Einer von vielen „Weggehetzten“.
Dem großen Pathos zieht der Emigrant die lässige Moritat vor, das Selbstporträt eines „großen Lausejungen“, der dem tragischen Schicksal einer tödlichen „Republikflucht“ gerade mal so entkommen ist. Die beiden Schlusszeilen lösen den existenziellen Ernst des Sprechens vom Ausgesetztsein in einen spielerischen Gestus auf: Denn „Lausejungen“ sind stets in der Lage, den politischen Verhältnissen eine Nase zu drehen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00