Bettina von Arnims Gedicht „,Wer sich der Einsamkeit ergibt,…“

BETTINA VON ARNIM

,Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach der ist bald allein;
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und läßt ihn seiner Pein.‘

Wer sich dem Weltgewühl ergibt,
Der ist zwar nie allein.
Doch was er lebt und was er liebt,
Es wird wohl nimmer sein.

Nur wer der Muse hin sich gibt,
Der weilet gern allein.
Er ahnt, daß sie ihn wieder liebt,
Von ihm geliebt will sein.

Sie kränzt den Becher und Altar,
Vergöttlicht Lust und Pein.
Was sie ihm gibt, es ist so wahr,
Gewährt ein ewig Sein.

Es blühet hell in seiner Brust
Der Lebensflamme Schein.
Im Himmlischen ist ihm bewußt
Das reine irdsche Sein.

um 1820

 

Konnotation

Als Kind äußerte die hochbegabte Bettina von Arnim (1785–1859), die Schwester des Dichters Clemens Brentano (1778–1842) und spätere Aktivistin der Jenaer Romantik, einen ungewöhnlichen Berufswunsch: Sie wolle „Wolkenschwimmer“ werden – was sich als frühes Plädoyer für die literarische Phantasie lesen lässt. In ihrem Gedicht über die produktiven und die unproduktiven Arten der Einsamkeit hat sie ein dialektisches Gegenstück zu einer Sentenz aus Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Entwicklungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre geschrieben.
Gegen Goethes Einsamkeits-Begriff, der im Zitat der ersten Strophe aufgerufen wird, setzt Bettina den Hinweis auf die Konfusion des „Weltgewühls“, in dem man das Selbst und die eigenen Liebeswünsche verliert. Der zweite Teil des Gedichts ist dann eine emphatische Apologie der einsamen Produktion des Künstlers. Die „Muse“ ist eine imaginäre Begleiterin, die es ermöglicht, die schöpferische Einsamkeit als einen glückseligen Zustand zu erleben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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