Friederike Roths Gedicht „Herbstlied“

FRIEDERIKE ROTH

Herbstlied

Die Bäume
einsam und schlank, an der Erde
immer röter und gelber die Blätter
verwitternd in Nässe und Glut.

Zum Schlafen legen sich
die Tiere in die Erde
dunkel und dicht
still wird das Leben langer Tage.

Voll Unruhe
was das für ein Schlaf sei
freun wir uns auf die Feste im Warmen.
Die Tage wachsen nach wie Gras
und unsre Augen glühn.

1970er Jahre

aus: Friederike Roth: Tollkirschenhochzeit. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1978

 

Konnotation

Ich will die Liebe wie in den alten Liedern“, konstatiert eine anonyme Stimme im Buch des Lebens (1983–1993) der Dichterin und Dramatikerin Friederike Roth (geb. 1948). Das Scheitern dieses Wunsches lieferte den Stoff für die frühen lyrischen Erfolgsbücher Tollkirschenhochzeit (1978) und Schieres Glück (1980). Die Bilder einer aufbegehrenden weiblichen Subjektivität sind dabei oft gekoppelt an symbolisch auszudeutende Naturzeichen.
Das „Herbstlied“ beschwört nur in der ersten Strophe die klassische Szenerie des Blätterfalls und des allmählichen Erlöschens der soeben noch blühenden Natur. Danach erscheint der Herbst als dunkle, fast bedrohliche Jahreszeit des Rückzugs, in der allein der Schlaf und die Stille regieren. Aber dieser Schlaf hat nichts Beruhigendes mehr, sondern weitet sich zum unkontrollierbaren Zustand der Daseins-Unsicherheit, dem erst das Frühjahr und die erwachenden Leidenschaften ein Ende setzen. In späteren Büchern hat Friederike Roth ein ambivalentes Bild des „schlaflosen Schlafs“ entfaltet – der alle Lebensregungen lähmt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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