Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Der Unverwundbare“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Der Unverwundbare

In der Wissenschaft der Unterlassung
hat er es weit gebracht.
Blutrünstig die Verbrechen,
die er nicht beging,
endlos die Heerschar der Fehler,
die er vermieden hat.
Passende Bemerkungen,
ungeschwängerte Mädchen
säumen seinen Weg.
Seine Geruchlosigkeit
ist atemberaubend,
sein Leumund
macht jede chemische Reinigung brotlos,
er ist weiß, er niest nicht,
er segnet uns, ist gesegnet.
Andere Lebenszeichen
von seiner Seite
sind nicht zu befürchten.
Warzenlos verschwindet er
in seinem eigenen Foto.

1980er Jahre

aus: Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991

 

Konnotation

In seinem lyrischen Spätwerk hat sich Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) gerne als Meister eines stoischen Skeptizismus inszeniert. In seinen Gedichtbänden seit dem Band Die Furie des Verschwindens (1980) ist er seither beharrlich mit der sanften Dekonstruktion von Utopie und Pathos beschäftigt. Enzensbergers lyrisches Ich präsentiert sich als abgeklärter Ironiker, der die Welt lieber verschont, anstatt ihr mit verbissenen Heilsbotschaften zuzusetzen.
Als hartnäckiger „Verteidiger der Normalität“ hat Enzensberger immer ein gewisses Vergnügen daran gefunden, seine Helden der „Gewöhnlichkeit“ auch in ihren Schwächen bloßzustellen. Sein „Unverwundbarer“ hat alles richtig gemacht, alle fatalen Fehler und Fehltritte im Leben konsequent vermieden. Diese Korrektheit reizt den Dichter zu bösem Spott. Denn der Preis für die Risikovermeidung und die Übererfüllung gesellschaftlicher Normen ist hoch. Es ist eine markante Eigenschaftslosigkeit des Subjekts, sein Verzicht auf eine lebendige Individualität.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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