Hans-Ulrich Treichels Gedicht „Lebensmitte“

HANS-ULRICH TREICHEL

Lebensmitte

Ich mal wieder, mittendrin
im Leben, in der Lauge,
im Gelächter, im Laden
mit den Sonderangeboten.

Immer noch der alte, wenn
auch nicht ganz so elastisch
wie früher: die Haut, das Gehirn,
das Brett vor der Stirn.

Ich mal wieder, mittendrin
Im Gewimmel, im großen Ganzen,
im Sparverein des Lebens,
verulken kann ich mich selbst.

2002

aus: Hans-Ulrich Treichel: Südraum Leipzig. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

Für ein ironisch gestimmtes Temperament wie das des Erzählers und Lyrikers Hans-Ulrich Treichel (1952) ist ein literaturgeschichtlich stark aufgeladenes Thema wie die „Hälfte des Lebens“ poetisch nur durch Moderierung der Affekte zu bewältigen. So wird Hölderlins Pathos entsprechend herunter gedimmt auf ein unspektakuläres Alltagsbewusstsein. Eine Utopie ist in der „Lebensmitte“ ebenso wenig fällig wie eine existenzielle Klage. Was bleibt, ist ein vermeintlich lässig dahin geworfener Pragmatismus.
In diesem Sound des kalkulierten Understatements hat die Literaturkritik nur „Phantasiearmut“ und „Banalitätshuberei“ (Peter Geist) erkennen wollen. Von der „Hälfte des Lebens“ bis zur Selbstbescheidung im „Sparverein des Lebens“ ist poesiegeschichtlich doch ein weiter Weg. Der hier Bilanz zieht, ist sich seiner Defizite aber durchaus bewusst: In der „Lebensmitte“ wird daher das Ich zur Zielscheibe des Spotts: „verulken kann ich mich selbst.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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