Hermann Hesses Gedicht „Knarren eines geknickten Astes“

HERMANN HESSE

Knarren eines geknickten Astes

Splittrig geknickter Ast,
Hangend schon Jahr um Jahr, Trocken
knarrt er im Wind sein Lied,
Ohne Laub, ohne Rinde,
Kahl, fahl, zu langen Lebens,
Zu langen Sterbens müd.
Hart klingt und zäh sein Gesang,
Klingt trotzig, klingt heimlich bang
Noch einen Sommer,
Noch einen Winter lang.

1962

aus: Hermann Hesse: Die Gedichte. 1892–1962. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001

 

Konnotation

Es wird nicht mehr lange dauern, und ein natürlicher Lebensprozess ist vollendet: im allmählichen Absterben. Ein gesplitterter Ast verliert gänzlich seine Bindung an den Organismus der Natur. Mit einem etwas plakativen Natursymbol bebildert Hermann Hesse (1877–1962) das Näherrücken des eigenen Todes.
Einen Tag vor seinem Tod am 9. August 1962 vollendete Hesse, der unerschütterbare Prophet der Lebensbejahung, in der dritten, endgültigen Fassung sein Abschiedspoem vom Dasein. Selbst in dieser melancholischen Vergegenwärtigung der Sterblichkeit artikuliert sich noch ein Wille zum Leben und ein Wunsch nach Poesie. Der Furcht vor dem Tod tritt der Dichter mit einem entschlossen mobilisierten Beharrungstrotz entgegen: Der „Gesang“ wird nicht verstummen, ebenso wenig die Hoffnung, der fortschreitenden „Müdigkeit“ noch ein weiteres Jahr Lebensfülle abzuringen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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