Hermann Hesses Gedicht „Vergänglichkeit“

HERMANN HESSE

Vergänglichkeit

Vom Baum des Lebens fällt
Mir Blatt um Blatt,
O taumelbunte Welt,
Wie machst du satt,
Wie machst du satt und müd,
Wie machst du trunken!
Was heut noch glüht,
Ist bald versunken.
Bald klirrt der Wind
Über mein braunes Grab,
Über das kleine Kind
Beugt sich die Mutter herab.
Ihre Augen will ich wiedersehn,
Ihr Blick ist mein Stern,
Alles andre mag gehn und verwehn,
Alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewige Mutter bleibt,
Von der wir kamen,
Ihr spielender Finger schreibt
In die flüchtige Luft unsre Namen.

1919

aus: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1953, 1977

 

Konnotation

Man mag sich gegenüber diesen gravitätisch-feierlichen Versen von der Vergänglichkeit ein gewisses Misstrauen bewahren. Denn der zu poetischer Schlichtheit neigende Erzähler und Dichter Hermann Hesse (1877–1962) hat seine Botschaft von der Endlichkeit in allzu eingängige Bilder von Herbst, Blätterfall und Tod verpackt. Hinzu kommen einige Denkfiguren, die er den psychoanalytischen Schriften Carl Gustav Jungs (1875–1961) entnahm und die auch für den Roman Der Steppenwolf (1927) bedeutsam sind.
Das Bild der „ewigen Mutter“ ist eine Anleihe bei einem Topos C.G. Jungs: Es meint den mythisch mütterlichen Urgrund, die „Magna Mater“, die große Erdenmutter, die aus dunklen und hellen Elementen besteht und zugleich Eros und Thanatos ist. Das Gedicht ist Bestandteil der im Juli und August 1919 niedergeschriebenen Erzählung „Klingsors letzter Sommer“, die von der letzten rauschhaften Lebensmonaten des Malers Klingsor handeln. Dort erfindet Hesse ein Alter Ego des Künstlers, den chinesischen Dichter Thu Fu, dem er das Vergänglichkeits-Gedicht in den Mund legt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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