Herta Müllers Gedicht „DER EINE NACHBAR STARB zweimal im Bett im Januar…“

HERTA MÜLLER

DER EINE NACHBAR STARB zweimal im Bett im Januar
am selben Tag sogar in diesem und im nächsten
Jahr der andere saß mit seinem Schachbrett
vorm Haus zog die Quastenmütze und die Zeit
groß raus lachte verwirrt damit das Wetter besser
wird ich wiederum hielt eh nicht viel schier weniger
als ihr von mir so derart jung zog nur den
Vorhang an und lief durchs Fenster zur Beerdigung
zur Begleitmusik musste ich weinen dem einen
Kantor tropfte meine Nase auf den Schuh bis
es ihm zuwider war da riß er eins der Grablieder
aus seinem Notenbuch gab es mir als Taschentuch
und sagte wenn’s trocken ist krieg ich es wieder
ist das klar

nach 2000

aus: Herta Müller: Die blassen Herren mit den Mokkatassen. Carl Hanser Verlag, München 2005

 

Konnotation

Die Wörter gehören mir gar nicht“: So beschreibt die 1953 im rumänischen Nitzkydorf geborene Herta Müller ihre Collage-Dichtung als eine Poesie des gelenkten Zufalls. Tatsächlich sind die Elemente des „Alphabets der Angst“, das die Autorin aus Zeitungen und Illustrierten ausschneidet und dann zu einer kühnen Traumpoesie zusammenklebt, Bauteile einer vorgefundenen Sprache. Die Autorin spielt mit Binnenreim und Assonanz, die collagierten Gedichtzeilen changieren zwischen schwarzer Moritat und makabrem Bänkelsang.
Die Traumata aus der rumäniendeutschen Herkunftswelt Herta Müllers sind in diesen surrealistischen Collage-Poemen ständig präsent. So kann es plötzlich geschehen, dass ein Fremder vor der Tür steht und der geliebte Vater abgeholt wird. Oder ein Nachbar stirbt – wie in diesem nach 2000 entstandenen Gedicht – gleich zweimal. Es dominiert eine finstere Traumlogik. Und die Atmosphäre der Bedrohung will nicht weichen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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