Jakob van Hoddis’ Gedicht „Der Bindfaden“

JAKOB VAN HODDIS

Der Bindfaden

Du bist der Zage, bist der Blasse,
Du bist der Nervigte und Krasse,
Du bist, der ohne Unterlasse
Dem Dienst der Völker sich geweiht.

Du bist der Hehre und Fürbasse
Du bist der Ritter im Kürasse,
Du bist die feuchte Kaffeetasse
In dieser fingerwunden Zeit.

Du bist Fluß und bist die Gasse,
Du bist der Blitzstrahl allem Hasse,
Der Sturm bist du, du bist die Masse,
Schwer schallt dein Bett, dein Fuß tritt breit.

Du bist die Klasse mit dem Basse,
Du bist das Walten und die Rasse,
Du bist Diogenes im Fasse,
Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

(nach Rainer Maria Rilke)

um 1910

aus: Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. Arche Verlag, Zürich 1987

 

Konnotation

Kurz nach seiner Gründung des Neopathetischen Cabarets in Berlin, das zur Keimzelle des literarischen Expressionismus wurde, verlegte sich der damals noch unbekannte Dichter Jakob van Hoddis (1887–1942) auf das Parodieren berühmter poetischer Zeitgenossen. Vor allem dem feierlichen, seraphischen Ton Rainer Maria Rilkes widmete er einige spöttische Gegengesänge.
Es sind die hohen Töne aus Rilkes Buch der Bilder (von 1906), die van Hoddis hier mit grimmigem Witz transformiert in eine ironische Entzauberung des Meisters. Die rhetorische Wiederholungsfigur „Du bist…“ hatte Rilke in mehreren Gedichten, z.B. „Der Schutzengel“, eingesetzt. Jakob van Hoddis macht daraus ein freches Spiel mit den Stereotypen, die damals über Rilke in Umlauf waren. Die weihevolle Aura, die Rilke umgibt, wird kunstvoll zersetzt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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