Marion Poschmanns Gedicht „in die Farne“

MARION POSCHMANN

in die Farne

waren gesättigt mit Schweiß und Rauch.
wir bezifferten Stämme, voller
Trauer schon und voll
Erbarmen

wir wählten die Orte nicht selber
wir erbten Odessa und Budapest,
Wolkenbewegungen, Hochspannungsmasten
ins Endlose, erbten
gescheiterte Gräser in Nebel
eingenäht. naht mehr und mehr

Doldengewächse am Straßenrand, Apfelkerne,
wir sprachen mit Zahnspange, wir
haben alles verlernt

2004

aus: Marion Poschmann: Grund zu Schafen. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Ich bevorzuge verschachtelte Gedichte“, so die Schriftstellerin Marion Poschmann (geb. 1969) in einer poetologischen Notiz, „vielschichtige, vieldeutige, aber manchmal bewundere ich anderswo Formen scheinbarer Einfachheit, Klarheit, ein reines Schauen, das gerade nicht simpel ist, sondern in seiner Klarheit schwer zu verkraften.“ Ihre moderne Form der Naturdichtung wird von zwei Elementen getragen: Von der Klarheit des reinen Schauens und der skeptischen Überprüfung zivilisatorischer Eingriffe in die Natur, der genauen Beobachtung der zersiedelten Landschaft.
Es sind nie unversehrte Naturrefugien, die hier poetisch aufgerufen werden, sondern durchweg Zivilisations- („Hochspannungsmasten“, „Straßenrand“) und Sprachlandschaften. Und wenn doch Motive traditioneller Naturpoesie auftauchen, dann werden sie im Gedicht einer Zerreißprobe unterzogen. So kommt es zur paradox anmutenden Fügung von den „gescheiterten Gräsern“, die in Nebel „eingenäht“ sind.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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