Oskar Pastiors Gedicht „gliederwind ißt nebensonnen“

OSKAR PASTIOR

gliederwind ißt nebensonnen

drei schwindel hingen am winkelsprung
wie einfach zur verzweifelung
sie schwangen hin und stunden her
als ob auch ich ein schwengel wär
ach ihr verbund fing fingernd mir
zu schwinden an von rang und kür
der eine klang und ging und hing
der andere schlingerte und schlang
und ich der dritte schwamm im schwund
schwang eingemischt im sindelspund

1980er Jahre

aus: Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch. Hrsg. V. Klaus Ramm. Carl Hanser Verlag. München 1987

 

Konnotation

Es hat seine ästhetische Logik, dass zu diesem Gedicht des rumäniendeutschen Wortzauberers Oskar Pastior (1927–2006) ein „originalgrafisches Memory-Spiel“ entstanden ist. Denn es führt geradezu exemplarisch das Verfahren der Verschiebung und der Neu-Gruppierung und -Kombination von Wortbedeutungen und lautähnlichen Wörtern vor, das der Dichter zur ästhetischen Perfektion entwickelt hat. Das „Schwingen“ der Wörter, unterstützt durch Reim und Metrum, erzeugt eine hohe Musikalität – und eine sinnliche Erfahrung von Sprache.
Obwohl die semantischen Felder der Wörter bei aller Homophonie weit auseinanderliegen (etwa zwischen „Schwindel“, „schwengel“ und „schwund“), entsteht doch der Eindruck vollkommener poetischer Homogenität. Pastior selbst merkte in einer Notiz zum Gedicht an, dass das Spiel der Bedeutungen, ihrer Widersprüche und Interferenzen, auch noch von den „nicht ausgesprochenen aber heraufbeschworenen Kontexten“ überlagert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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