8. Mai

Mit den ›Notizen über das, was ich suche‹ hat Georges Perec, dessen oulipotisches Werk bekanntlich zu einem guten Teil aus immer wieder anders konzipierten Listen besteht, eine kleine Phänomenologie des Aufzählens vorgelegt. Der von 1978 datierte Text ist Beschreibung, Erzählung, Erklärung in einem und enthält auch ein Verzeichnis aller auf seinem Schreibtisch vorhandenen Objekte; das Verzeichnis lautet wie folgt: Eine Lampe, eine Zigarettendose, eine Einblumenvase, ein Feuerzünder, eine Pappschachtel, die kleine mehrfarbige Karteikärtchen enthält, ein großes Tintenfass aus Hartkarton mit inkrustierten Schuppen, ein gläserner Bleistifthalter, mehrere Steine, drei Behälter aus gedrechseltem Holz, ein Wecker, ein Kalender zum Schieben, ein Bleiblock, eine große Zigarrenkiste (ohne Zigarren, aber voll von kleinen Dingen), eine Stahlspirale, in die man Briefe zur Aufbewahrung stecken kann, ein Dolchgriff aus geschliffenem Stein, Registermappen, Hefte, lose Blätter, verschiedenartige Schreibgeräte oder -utensilien, ein großer Tampon mit Löschpapier, mehrere Bücher, ein Glas voller Bleistifte, ein Kistchen aus vergoldetem Holz. Diese Liste mag beim ersten Hinsehen als vollständig gelten, bedenkt man aber, dass mehrere Gegenstände nicht einzeln aufgezählt, sondern lediglich als ungefähre Menge angeführt werden (»Registermappen«, »mehrere Bücher«, »ein Glas voller Bleistifte« usf.), und dass auch jene Gegenstände unberücksichtigt bleiben, die sich in irgendwelchen Behältnissen befinden (»eine große Zigarrenkiste … voll von kleinen Dingen«), wird die behauptete Vollständigkeit fraglich. Doch ist die angeblich oder vermeintlich vollständige Liste in jedem Fall nur zu einem bestimmten Zeitpunkt »vollständig«, vielleicht bloß für einen Augenblick, für die Dauer ihrer Niederschrift; danach wird der Autor sein Schreibgerät aus der Hand auf den Tisch zurücklegen, und schon ist die Liste überholt und lückenhaft. Perec selbst gibt sich in seinen ›Notizen‹ Rechenschaft darüber, dass das Verzeichnis der vor ihm ausgebreiteten Gegenstände weder deren Wert noch deren Funktion und Form adäquat wiederzugeben vermag; dass aus ihm nicht hervorgeht, wie oft und mit welchem Nutzen die Gegenstände gebraucht werden, wie sehr ihm emotional an ihnen gelegen ist, wie lange und in welcher Ordnung sie auf dem Schreibtisch abgelegt bleiben, und auch nicht, in welcher Reihenfolge beziehungsweise nach welchen Prioritäten die Gegenstände auf der Liste benannt werden und ob er, der Autor und Besitzer, bei der Aufzählung allenfalls etwas übersehen, vergessen, falsch benannt hat. »Nichts scheint simpler, als eine Liste aufzustellen«, notiert Perec: »In Tat und Wahrheit ist es weit komplizierter, als es den Anschein macht: man vergisst immer etwas und ist versucht, ›usw.‹ zu schreiben, aber grade bei einem Inventar schreibt man doch nicht ›usw.‹« Die Liste vermag sich weder von ihrer zeitlichen noch ihrer räumlichen Bedingtheit zu emanzipieren, und als Inventar von geistigen Dingen, psychischen Daten, möglichen Welten bleibt sie notwendigerweise ungenau und unvollständig, selbst dann, wenn sie formal korrekt geführt und mit einem »letzten« Eintrag abgeschlossen wird. – Georges Perec hat diese Defizite in manchen seiner Verzeichnisse einsichtig gemacht, indem er – stets vergeblich – bestimmte Orte, Zeitabschnitte, Gefühlslagen verbal in sogenannten tentatives d’épuisement zu »erschöpfen« suchte; indem er z. B . »alles« auflistete, was er am 18. und 19. Oktober 1974 von seinem Eckplatz im Bistro mit Blick auf die Straße wahrnehmen konnte, oder »alles«, was er im Jahresverlauf 1974 an flüssigen und festen Nahrungsmitteln zu sich nahm. Die einzigen »vollständigen« Listen, die bei Perec zu finden sind, dürften das Verzeichnis seiner publizierten Bücher und deren Inhaltsverzeichnisse sein. – Abends werfe ich nun doch noch einen Blick in die heutigen Zeitungen. Im Feuilleton der NZZ gibt’s eine ganze Seite über den Zickenkrieg zwischen Valérie Trierweiler und Ségolène Royal; außerdem – eine halbe Seite über Knabenbeschneidung im Islam; eine halbe Seite über Neofaschismus in Südafrika; eine ganze Spalte über Naziseilschaften im frühen bundesdeutschen Nachrichtendienst; eine halbe Spalte über den Anfang vom angeblichen Ende der deutschen Piratenpartei; eine Zweidrittelspalte über den »Todessprung des tollen Felix« aus dem Stratosphärenballon; nochmals je eine halbe Spalte über Uwe Barschels Tod vor zwanzig … vor fünfundzwanzig Jahren und über den Prozess gegen einen päpstlichen Kammerdiener vor dem Vatikangericht; dazu Kurzmeldungen über Preisvergaben, Kunstauktionen, Ratings, Jubiläen, Plagiatsvorwürfe und -anklagen. Und außerdem die vielen schönen großen Bilder aus dem hausinternen Art Directory Board, auf die man … auf die ein Leser wie ich gern verzichten würde zu Gunsten breiter und tiefer angelegter Textbeiträge. Nicht nur die NZZ, das überregionale deutschsprachige Qualitätsfeuilleton insgesamt scheint, beim Gleichziehen mit dem Boulevard, den Kulturbegriff ausweiten zu wollen auf all das, was vor … vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren unter den »Vermischten Meldungen« zwischen Börse und Sport oder im Editorial auf der Frontseite zu lesen war. – Ich disloziere auf den Balkon. Der Metallstuhl hat sich im heftigen Föhnschub angenehm aufgewärmt, ebenso der kleine runde Tisch, auf den ich nun Unterarm und Ellenbogen stütze beim Zurückblättern vom Feuilleton zum Ausland. Hier finde ich … hier halte ich ein bei einem Bericht zu einem Bericht von Amnesty International über Berichte zur angeblichen Ermordung von Muammar al-Gaddafi durch sogenannte Rebellen. Nehme die Informationen zur Kenntnis. Keine Überraschung. Wenig Bedauern. Frage mich nur (aber ernsthaft): Welche gerechte Strafe kann es für einen Massenmörder und Staatsterroristen von der Statur Gaddafis geben – Lynchtod in einem stinkenden Kanalisationstunnel im Beisein von ein paar applaudierenden Gaffern und zufälligen Zeugen? Monatelange Verhandlungen vor dem Menschenrechtstribunal, lebenslängliche Haft mit TV und Internet im klimatisierten Gefängnis? Womöglich ist’s ja nur einfach der unablässige Gewissensbiss, der letztlich Gerechtigkeit durchsetzt? Und vor dem keiner verschont bleibt. Nicht der abgebrühteste Verbrecher, nicht der Dopingsünder, nicht die Ladendiebin oder der zynische Millionenbetrüger. Auch ich nicht. – Dass der Mensch, also einer wie ich, ist, was er »isst«, verdankt er einzig dem Deutschen … verdankt er der deutschen Sprache, die für die dritte Person von »sein« und »essen« bloß das gleichlautende Formpaar »ist«/»isst« zur Verfügung hat. Weder dem Römer noch dem Russen bietet sich ein vergleichbares Wortspiel und mithin eine vergleichbare philosophische Einsicht an. Doch einsehen oder, allgemeiner, verstehen zu wollen, ist naturgemäß unaufwendiger, wenn schlichter Gleichklang dem Nachdenken (und der Nachdenklichkeit ohnehin) zuvorkommt. Das wissen und nutzen die Werbetexter, das wusste und kommentierte Platon in seinem ›Kratylos‹, damit hat Jacques – Lacan wie Derrida – ein poetisches Denken durchgesetzt, bei dem das Lauten die begriffliche Logik unterläuft und die Wahrheit auf der Klangebene sich ausleben lässt; eine Wahrheit, die unübersetzbar bleibt und eben deshalb keine Wahrheit ist, sondern bestenfalls ein innersprachlicher Kalauer, den allein das Französische als virtuelle Denkfigur bereithält. Das gilt selbst für zentrale Begriffe wie je (ich) und jeu (Spiel), mots (Wörter) und maux (Wehen), animaux (Tiere) und animots (etwa: Tierunwort), suis (bin) und suis (folge) sowie die vielzitierten, nicht übertragbaren Paarungen différence/différance oder m’être/maître oder auch s’exprimer/sexprimer. – Heute bin ich mit Kathy Zarnegin zu einem späten Abendessen beim Inder verabredet; dort werden zur Zeit »Dehlikatessen« als Wochenhit angeboten. Noch ein Beispiel – banal wie alle andern – für die »Selbsttätigkeit« der Sprache, die durch lautliche Ambivalenzen konventionelle Bedeutungen ins Wanken bringt, manchmal außer Kraft setzt oder gar ins Gegenteil verkehrt. – Schönes Wetter, miese Stimmung. Früh beim Zahnarzt, Gaumen, Zunge, Zahnfleisch werden anästhesiert – bleibt nur das widerwärtige Klicken und Knacken der Instrumente, wenn sie auf den Kieferknochen treffen. Danach lange nichts. Bis der Schmerz erwacht. – Die ersten Verlagsvorschaukataloge für den Herbst treffen ein – zumeist eine deprimierende Lektüre … deprimierend, mit welchen Mitteln und auf welchem Niveau Autoren und Werke heute beliebt gemacht werden. Bei Ammann wirbt der Schriftsteller Handke für einen Newcomer mit dem folgenden feinsinnigen Diktum: »Es ist so viel Anmut in seinen Sachen, dass man davon im Lesen beschwingt wird.« – Und wieder eine lange Reihe von Neuerscheinungen, die vor allem durch ihren Umfang überzeugen sollen, der neue Pynchon, der neue Cervantes, gleich mehrere tausendseitige Spitzentitel. Wer das liest? Wer kann solche Lektüren – unter lebenszeitlicher Perspektive – bewältigen? Angeblich werden schwergewichtige Bücher verhältnismäßig gut verkauft … vielleicht deshalb, weil hier das Volumen, das Gewicht, die Seitenzahl, also quantitative Gegebenheiten den Preis zu rechtfertigen scheinen. Der materielle Wert und Besitz eines derartigen Buchs zählt mehr, ist auch leichter zu erkennen als literarische Qualität, die in Form einer schmalen unauffälligen Broschur auf den Markt kommt. Der allfällige intellektuelle oder ästhetische Gewinn gilt wohl weniger als das schwere Buch in seiner puren Objekthaftigkeit. Wenn ich auch bloß einen dieser aktuellen Großromane seriös lesen soll (den neuen Hultberg, den neuen Pelewin, den neuen Bolaño …) – was bleibt dann an Zeit und Sehkraft und Verständniswille übrig für den sonstigen Output der literarischen Saison? Man muss wohl annehmen, dass im besten Fall pro Halbjahr und Leser ein derartiges Werk adäquat verkraftbar ist, da für die Lektüre – und gerade für literarische Lektüre – in aller Regel bloß die Restzeit zur Verfügung steht, die nach allen andern Interessen, Bedürfnissen, Verpflichtungen am Rand des Tags noch zur Verfügung steht. Das waren noch Zeiten, als ein Kritiker oder eine passionierte Leserin – so wie im frühen 19. Jahrhundert in Russland – durchaus in der Lage war, alles zu lesen, was in der jeweiligen Saison im Druck erschien. Was aber Juroren oder Rezensenten heute quantitativ zu verarbeiten haben, übersteigt menschliche Möglichkeiten (Zeitaufwand wie Rezeptionsfähigkeit) um ein Vielfaches – nicht mal professionelle Literaturbetriebsteilnehmer sind in der Lage, auch bloß das (alles) zu lesen, was sie zu beurteilen und einzustufen haben. Dennoch maßen sie sich an, das »beste« Buch, d. h. das beste aller Bücher der Saison, des laufenden Jahrs, des vergangenen Jahrzehnts, der neueren Literatur oder auch bloß das »beste Buch seit dem letzten Krieg« benennen zu können.

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