Paul Zechs Gedicht „Kleine Katastrophe“

PAUL ZECH

Kleine Katastrophe

Zehn Männer wurden vom Gestein erschlagen,
vom Rauch verschluckt und wieder ausgespien.
Der Doktor stolperte mit eingesackten Knien
und ließ die Leichen in das Schauhaus tragen.

Zerstückelt, schwarz verbrannt und rot zerschunden,
so lagen sie in Reih und Glied;
was in der Früh noch sang sein Morgenlied,
verblutete aus unverbundenen Wunden.

Schon schwärzen Ahnungen, die blinden Boten
sich in das Dorf hinunter und von Haus zu Haus
und trieben die erschrockenen Frauen hinaus.

Die stürmten das vergitterte Portal
des Beingebäudes in verbissener Qual
und schlugen sich verzweifelt um die Toten.

1922

aus: Paul Zech: Vom schwarzen Revier zur neuen Welt. Gesammelte Gedichte. Carl Hanser Verlag. München 1983

 

Konnotation

Sein an Kehrtwenden reiches Leben hat der expressionistische Lyriker Paul Zech (1881–1946) gerne zum großen Abenteuer stilisiert. Nicht alles, was er sich an beruflichen und politischen Erfahrungen zuschrieb, entsprach dabei der biografischen Wirklichkeit. Sein angeblich 1933 durch die politische Verfolgung seitens der Nazis erzwungenes Exil in Buenos Aires geht in Wirklichkeit auf einen massenhaften Bücherdiebstahl in der Berliner Stadtbibliothek zurück, in der Zech einige Jahre als Bibliothekar arbeitete. Gesichert aber ist, dass er eine Zeitlang in belgischen Kohlebergwerken die Welt des Industrieproletariats kennenlernte.
1922 entstand Zechs Sonett über das tragische Schicksal verunfallter Bergleute und das Leid ihrer Angehörigen. In den düsteren Farben und dem drastischen Realismus des expressionistischen Gedichts führt der Text die triste Alltagswirklichkeit der Bergbau-Arbeit vor. Die Intensität, mit der Zech die Einzelheiten der Tragödie vergegenwärtigt, verweist auf das Konzept, das in diesem Gedicht wirksam wird – eine Ästhetik des Schreckens.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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