Ralf Rothmanns Gedicht „Tod des Vaters“

RALF ROTHMANN

Tod des Vaters

Abgebrannt trug ich seine Schuhe, den schwarzen Anzug.
Entfernte Verwandte verwechselten unsere Namen.
Gleich, dachte ich dem Bergmann nach, als sein Sarg
in der Erde verschwand, jetzt bist du unter Tage.
Nach dem Begräbnis schlief ich in seinem Bett und träumte,
daß meine Freundin endlich schwanger sei.
Ich wollte nichts mitnehmen, kein Hemd, kein Foto.
Doch Tage später fuhr ich zurück und holte mir sein
Rasierzeug. Seit er tot ist, wächst mein Bart stärker.

1990er Jahre

aus: Ralf Rothmann: Gebet in Ruinen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Jede neue Generation steigt über die Gräber der toten Väter hinweg – und bewahrt ihr Erbe oder verwirft es. Mit einer Mischung aus Empathie und Distanz nähert sich das lyrische Subjekt des Erzählers und Lyrikers Ralf Rothmann (geb. 1953) dem toten Vater. Schon das reportierende Parlando des Gedichts baut eine gewisse Distanz auf. Das Ich bemächtigt sich der Alltagsrequisiten des Toten und gedenkt seiner Arbeit als Bergmann unter Tage. Der Abschied vom Vater markiert zugleich einen trotzigen Aufbruch ins neue Leben.
Die partielle Identifikation des Ich mit dem Vater – durch das Anlegen seiner Kleidung – wird konterkariert durch die demonstrative Geste, keine Erinnerungsstücke an den Toten ins neue Leben mitzunehmen. Aber dann wird doch ein Zeichen der Verbundenheit gesetzt. Im Bett des toten Vaters taucht die auf, das Traumbild über die ersehnte(?) Schwangerschaft der Lebensgefährtin. Das ist auch ein Beitrag zum alten dichterischen Topos des „Stirb und Werde“. Aber auch hier kommt keine Emphase auf. Dem Nachgeborenen hilft nur das Pathos der Sachlichkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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