Roman Ritters Gedicht „Der Vogel“

ROMAN RITTER

Der Vogel

Um diesen dunklen Vogel zu sehen
vor den schnell fliegenden Wolken
muß ich den Blick heben
über die Sonderangebote
über den Supermarkt
über die Fensterreihen
über den Betonrand
über die Antenne
um nichts
als diesen dunklen Vogel zu sehen
der nichts
als fliegt.

1977

aus: Roman Ritter: Einen Fremden im Postamt umarmen, Raith Verlag, München 1975

 

Konnotation

Der 1943 in Stuttgart geborene Roman Ritter exponierte sich mit seinem Debütband Einen Fremden im Postamt umarmen (1975) als Anhänger einer subjektiv geprägten Alltagslyrik, die ein einfaches Sprechen nah am Duktus der Umgangssprache zu ihrem Programm erhob. Politisch einst eher im Umfeld der Zeitschrift kürbiskern und ihrer Affinität zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) situiert, entwirft Ritter in seinen Gedichten zarte Genreszenen.
Um einen Vogelflug zu beobachten, muss sich der Beobachter zunächst aus der Fixierung auf die funktionalistischen Elemente der Konsumgesellschaft lösen. Ritters kleines Vogel-Poem, das wegen der völligen Abwesenheit direkter politischer Reflexion Ende der 1970er Jahre einem linken Autor fast schon als Wagnis erscheinen musste, war ein Beitrag für ein großes Hamburger Lyrik-Festival im Juni 1977, bei dem die Dichtung der „Neuen Subjektivität“ als neuer „Trend“ sichtbar wurde.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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