Ror Wolfs Gedicht „Der Gung“

ROR WOLF

Der Gung

Ein Mann kam wetterschwer daher,
vom Meer, vom Meer.
Er stieg so nebeldick hervor,
vom Moor, vom Moor.
Er lief, der Boden war sehr kalt,
im Wald, im Wald.
Das war ihm ungeheuer gleich,
am Teich, am Teich.
Er ging, er duckte sich, er kroch
durchs Loch, durchs Loch.
Dort ging er stiefelspitz entlang,
im Gang, im Gang.
Dann war das ganze Gehen aus,
im Haus, im Haus.
Er floß so wolkenweich dahin,
im Gin, im Gin.
Hart schlief und kellertief er ein,
wie Stein, wie Stein.
So endet in der Dämmerung,
der Gung, der Gung.

um 1990

aus: Ror Wolf: Aussichten auf neue Erlebnisse. Gedichte. Schöffling & Co, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

Die literarischen Helden des 1932 geborenen Schriftstellers Ror Wolf verstricken sich stets in absurde Tragikomödien: Den Zwangsverhältnissen der zweckrationalen Vernunft sind sie zwar entkommen, aber jeder Schritt kann sie ins Bodenlose führen. Auch in den Gedichten, Meisterwerken der Komik, durchquert man ein Feld der Überraschungen – selbst dann, wenn sich die Verse rein äußerlich an die Gesetze einer Ballade halten.
Alle nur denkbaren Ingredienzien einer grausigen Ballade sind in dieser 1993 erstmals veröffentlichten Geschichte vom ominösen „Gung“ versammelt – das Meer, das Moor, der Wald, der Teich. Das Gedicht mit seiner rhythmischen Verzögerungstechnik schreitet indes in schöner Langsamkeit dahin, immer knapp an der Grenze zu Banalität und Kalauer. Die poetische Logik gehorcht aber nicht einer psychologischen Wahrscheinlichkeit, sondern der Eigendynamik des Reims. Einem ziemlich absurden Reim auf „Dämmerung“ verdanken wir so die Erschaffung eines rätselhaften maskulinen Wesens: der „Gung“ ist geboren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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