Sarah Kirschs Gedicht „Wintergarten I“

SARAH KIRSCH

Wintergarten I

Ich liege unter dem Eis ausgestreckt
In einer Haut durchsichtigen Lichts.
Die Fische stoßen das Eis an, die Sonne
Stehet darüber, ich fühle
Zaunkönigs spitze Gesänge. Länger
Herrscht schwarze polternde windige Nacht.
Dröhnen und Brechen von Eis. Schwer
lastet das Meer auf mir und dem Land.

nach 1990

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlagsanstalt. München 2005

 

Konnotation

Der „Wintergarten“ der Dichterin Sarah Kirsch hat nichts gemein mit jenem lichtdurchfluteten Glasanbau, der als idyllisches Refugium in Wohnhäuser integriert wird. Das lyrische Ich sieht sich hier einer unheimlichen Gefangenschaft ausgesetzt in der „polternden windigen Nacht“ scheint es für längere Zeit noch eingeschlossen zu sein unter dem Eis. Und dennoch sind die Sonne und der sich im Gesang des Zaunkönigs ankündigende Frühling für das Ich zu erahnen.
Die Lage der eingeschlossenen Wasserfrau ist längst nicht so verzweifelt wie im berühmten „Winternacht“-Gedicht Gottfried Kellers (vgl. Lyrikkalender 2007  vom 24.1.), in dem die Nixe für immer in die schwarze Wassertiefe verbannt ist. Denn die 1935 geborene Dichterin hat trotz der Bilder nächtlicher Erstarrung und Bedrückung auch Zeichen der Hoffnung gesetzt. Der Weg ins Offene, zur Begegnung mit dem Vogelgesang ist in diesem nach 1990 entstandenen Gedicht noch erreichbar.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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