Thomas Klings Gedicht „Steinobst, Mirabelle“

THOMAS KLING

Steinobst, Mirabelle

so dicht an dicht, so zäh so weiß
besetzt: gespickt von süzzer blüthe!

so eng an eng, so reich: so sprachreich
der geruch –

und selbst der hagel, projektil vom bodn
federnd, hat ihr nichts angetan.

so schäumt die weiße sanft, an wilden
zweigen, während, april, der

steinobstmond – nervös, schwarzweiß,
textile nacht – in etwa überdauern kann.

(für Anja Utler)

2005

aus: Thomas Kling: Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Marcel Beyer u. Christian Döring. DuMont Buchverlag. Köln 2006

 

Konnotation

Ein Blick auf das Anmutige, auf das Blütenmeer eines Mirabellenbaums: Er konnte, folgt man der altertümlichen Rechtschreibung, von einem späten Barockdichter wie Barthold Hinrich Brockes (1680–1747) stammen, der „die Kirschblüte bey der Nacht“ mit „betrachtendem Gemüte“ lyrisch verewigt hatte. Aber das Gedicht hat Thomas Kling (1957–2005) geschrieben, der radikalste Dichter und Sprachekstatiker der Gegenwart.
In der wild wuchernden Flora seines „Denkgeländes“, einer ehemaligen Raketenstation nahe der Museumsinsel Hornbroich, ließ Kling in seinen letzten Lebensjahren immer häufiger seiner Sehnsucht Raum, sich zarter Naturphänomene zu vergewissern. Versteckt hinter einer Reihe erschütternder lyrischer Anatomien seines moribunden Körpers, platzierte Kling in seinem letzten Gedichtband Auswertung der Flugdaten (2005) zwei, drei betörend schöne Blumen- und Blütengedichte – die auch als Liebeserklärungen gelesen werden können.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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