Martin Heidegger: Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichtes

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedichten aus Georg Trakl: Die Dichtungen. –

 

 

 

Georg Trakl

– Eine Erörterung seines Gedichtes. –

Erörtern meint hier zunächst: in den Ort weisen. Es heißt dann: den Ort beachten. Beides, das Weisen in den Ort und das Beachten des Ortes, sind die vorbereitenden Schritte einer Erörterung. Doch wagen wir schon genug, wenn wir uns im folgenden mit den vorbereitenden Schritten begnügen. Die Erörterung endet, wie es einem Denkweg entspricht, in eine Frage. Sie fragt nach der Ortschaft des Ortes.
Die Erörterung spricht von Georg Trakl nur in der Weise, daß sie den Ort seines Gedichtes bedenkt. Solches Vorgehen bleibt für das historisch, biographisch, psychoanalytisch, soziologisch, an der nackten Expression interessierte Zeitalter eine offenkundige Einseitigkeit, wenn nicht gar ein Irrweg. Die Erörterung bedenkt den Ort.
Ursprünglich bedeutet der Name „Ort“ die Spitze des Speers. In ihr läuft alles zusammen. Der Ort versammelt zu sich ins Höchste und Äußerste. Das Versammelnde durchdringt und durchwest alles. Der Ort, das Versammelnde, holt zu sich ein, verwahrt das Eingeholte, aber nicht wie eine abschließende Kapsel, sondern so, daß er das Versammelte durchscheint und durchläutet und dadurch erst in sein Wesen entläßt.
Jetzt gilt es, denjenigen Ort zu erörtern, der das dichtende Sagen Georg Trakls zu seinem Gedicht versammelt, den Ort seines Gedichtes.
Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht. Die Größe bemißt sich daraus, inwieweit er diesem Einzigen so anvertraut wird, daß er es vermag, sein dichtendes Sagen rein darin zu halten. Das Gedicht eines Dichters bleibt ungesprochen. Keine der einzelnen Dichtungen, auch nicht ihr Gesamt, sagt alles. Dennoch spricht jede Dichtung aus dem Ganzen des einen Gedichtes und sagt jedesmal dieses. Dem Ort des Gedichtes entquillt die Woge, die jeweils das Sagen als ein dichtendes bewegt. Die Woge verläßt jedoch den Ort des Gedichtes so wenig, daß ihr Entquellen vielmehr alles Bewegen der Sage in den stets verhüllteren Ursprung zurückfließen läßt. Der Ort des Gedichtes birgt als die Quelle der bewegenden Woge das verhüllte Wesen dessen, was dem metaphysisch-ästhetischen Vorstellen zunächst als Rhythmus erscheinen kann.
Weil das einzige Gedicht im Ungesprochenen verbleibt, können wir seinen Ort nur auf die Weise erörtern, daß wir versuchen, vom Gesprochenen einzelner Dichtungen her in den Ort zu weisen. Doch hiefür bedarf jede einzelne Dichtung bereits einer Erläuterung. Sie bringt das Lautere, das alles dichterisch Gesagte durchglänzt, zu einem ersten Scheinen.
Man sieht leicht, daß eine rechte Erläuterung schon die Erörterung voraussetzt. Nur aus dem Ort des Gedichtes leuchten und klingen die einzelnen Dichtungen. Umgekehrt braucht eine Erörterung des Gedichtes schon einen vorläufigen Durchgang durch eine erste Erläuterung einzelner Dichtungen.
In diesem Wechselbezug zwischen Erörterung und Erläuterung verharrt jede denkende Zwiesprache mit dem Gedicht eines Dichters.
Die eigentliche Zwiesprache mit dem Gedicht eines Dichters ist allein die dichtende: das dichterische Gespräch zwischen Dichtern. Möglich ist aber auch und zu Zeiten sogar nötig eine Zwiesprache des  D e n k e n s  mit dem Dichten, und zwar deshalb, weil beiden ein ausgezeichnetes, obzwar je verschiedenes Verhältnis zur Sprache eignet.
Das Gespräch des Denkens mit dem Dichten geht darauf, das  W e s e n  der Sprache hervorzurufen, damit die Sterblichen wieder lernen, in der Sprache zu wohnen.
Die Zwiesprache des Denkens mit dem Dichten ist lang. Sie hat kaum begonnen. Dem Gedicht Georg Trakls gegenüber bedarf sie einer besonderen Zurückhaltung. Die denkende Zwiesprache mit dem Dichten kann dem Gedicht nur mittelbar dienen. Darum steht sie in der Gefahr, das Sagen des Gedichtes eher zu stören, statt es aus seiner eigenen Ruhe singen zu lassen.
Die Erörterung des Gedichtes ist eine denkende Zwiesprache mit dem Dichten. Sie stellt weder die Weltansicht eines Dichters dar, noch mustert sie seine Werkstatt. Eine Erörterung des Gedichtes kann vor allem nie das Hören der Dichtungen ersetzen, nicht einmal leiten. Die denkende Erörterung kann das Hören höchstens fragwürdig und im günstigen Fall besinnlicher machen.
Eingedenk dieser Beschränkungen versuchen wir zuerst, in den Ort des ungesprochenen Gedichtes zu weisen. Hierbei müssen wir von den gesprochenen Dichtungen ausgehen. Die Frage bleibt: von welchen? Daß jede der Traklschen Dichtungen, gleich unverwandt, wenn auch nicht gleichförmig, in den einen Ort des Gedichtes zeigt, bezeugt den einzigartigen Einklang seiner Dichtungen aus dem einen Grundton seines Gedichtes.
Der jetzt versuchte Hinweis auf seinen Ort muß sich indessen mit einer Auswahl weniger Strophen, Verse und Sätze behelfen. Der Anschein ist unvermeidlich, daß wir dabei willkürlich verfahren. Die Auswahl ist jedoch von der Absicht geleitet, unsere Achtsamkeit fast wie durch einen Blicksprung an den Ort des Gedichtes zu bringen.

 

I

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

sagt eine der Dichtungen. Unversehens finden wir uns bei diesem Satz in einer geläufigen Vorstellung. Sie stellt uns die Erde als das Irdische im Sinne des Vergänglichen dar. Die Seele gilt dagegen als das Unvergängliche, Überirdische. Die Seele gehört seit Platons Lehre zum Übersinnlichen. Erscheint sie aber im Sinnlichen, dann ist sie dahin nur verschlagen. Hier „auf Erden“ hat es mit ihr nicht den rechten Schlag. Sie gehört nicht auf die Erde. Die Seele ist hier „ein Fremdes“. Der Leib ist ein Gefängnis der Seele, wenn nicht gar Schlimmeres. So bleibt der Seele anscheinend keine andere Aussicht, als den Bereich des Sinnlichen, der, platonisch gesehen, das Nicht-wahrhaft-Seiende und nur Verwesende ist, möglichst bald zu verlassen.
Doch wie merkwürdig! Der Satz

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

spricht aus einer Dichtung, die „Frühling der Seele“ überschrieben ist (149f.).1 Von einer überirdischen Heimat der unsterblichen Seele verlautet darin kein Wort. Wir werden nachdenklich und tun gut daran, auf die Sprache des Dichters zu achten. Die Seele: „ein Fremdes“. In anderen Dichtungen sagt Trakl oft und gern aus derselben Wortprägung: „ein Sterbliches“ (S. 51), „ein Dunkles“ (S. 78, 170, 177, 195), „ein Einsames“ (S. 78), „ein Abgelebtes“ (S. 101), „ein Krankes“ (S. 113, 171), „ein Menschliches“ (S. 114), „ein Bleiches“ (S. 138), „ein Totes“ (S. 171), „ein Schweigendes“ (S. 196). Diese Wortprägung hat, abgesehen von der Verschiedenheit ihres jeweiligen Inhaltes, nicht immer denselben Sinn. „Ein Einsames“, „ein Fremdes“ könnte etwas Vereinzeltes meinen, das von Fall zu Fall „einsam“, das zufällig, nach einer besonderen und beschränkten Hinsicht „fremd“ ist. „Fremdes“ dieser Art läßt sich in die Gattung des Fremden überhaupt einordnen und dahin abstellen. So vorgestellt, wäre die Seele lediglich ein Fall des Fremden unter anderen Fällen.
Doch was heißt „fremd“? Man versteht unter dem Fremdartigen gewöhnlich das Nichtvertraute, was nicht anspricht, solches, das eher lastet und beunruhigt. Allein „fremd“, althochdeutsch „fram“, bedeutet eigentlich: anderswohin vorwärts, unterwegs nach…, dem Voraufbehaltenen entgegen. Das Fremde wandert voraus. Doch es irrt nicht, bar jeder Bestimmung, ratlos umher. Das Fremde geht suchend auf den Ort zu, wo es als ein Wanderndes bleiben kann. „Fremdes“ folgt schon, ihm selber kaum enthüllt, dem Ruf auf den Weg in sein Eigenes.
Der Dichter nennt die Seele „ein Fremdes auf Erden“. Wohin ihr Wandern bisher noch nicht gelangen konnte, ist gerade die Erde. Die Seele sucht die Erde erst, flieht sie nicht. Wandernd die Erde zu suchen, daß sie auf ihr dichterisch bauen und wohnen und so erst die Erde als die Erde retten könne, erfüllt das Wesen der Seele. So ist denn die Seele keineswegs zunächst Seele und dazu noch aus irgendwelchen Gründen nicht auf die Erde gehörig.
Der Satz:

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

nennt vielmehr das Wesen dessen, was „Seele“ heißt. Der Satz enthält keine Aussage über die im Wesen schon bekannte Seele, gleich als ob, in der Form einer Ergänzung, nur festgestellt werden sollte, der Seele sei das ihr Ungemäße und darum Befremdliche zugestoßen, auf der Erde weder Zuflucht noch Zuspruch zu finden. Die Seele ist dem entgegen als Seele im Grundzug ihres Wesens „ein Fremdes auf Erden“. So bleibt sie das Unterwegs und folgt wandernd dem Zug ihres Wesens. Indessen bedrängt uns die Frage: Wohin ist der Schritt dessen, was in dem erläuterten Sinne „ein Fremdes“ ist, gerufen? Eine Strophe aus dem dritten Stück der Dichtung Sebastian im Traum (S. 107) antwortet:

O wie stille ein Gang den blauen Fluß hinab
Vergessenes sinnend, da im grünen Geäst
Die Drossel ein Fremdes in den Untergang rief.

Die Seele ist in den Untergang gerufen. Also doch! Die Seele soll ihre irdische Wanderschaft beenden und die Erde verlassen. Davon ist in den genannten Versen nicht die Rede. Aber sie sprechen doch vom „Untergang“. Gewiß. Allein der hier genannte Untergang ist weder Katastrophe, noch ist er das bloße Wegschwinden in den Verfall. Was den blauen Fluß hinab untergeht,

Das geht in Buh und Schweigen unter.
„Verklärter Herbst“ (S. 34)

In welche Ruh? In die des Toten. Aber welches Toten? Und in welches Schweigen?

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

Der Vers, in den dieser Satz gehört, fährt fort:

aaaaaaaaaaaGeistlich dämmert
Bläue über dem verhauenen Wald…

Vordem ist die Sonne genannt. Der Schritt des Fremden gellt in die Dämmerung fort. „Dämmern“ bedeutet zunächst das Dunkelwerden. „Bläue dämmert.“ Verdunkelt sich das Blaue des sonnigen Tages? Verschwindet es am Abend zugunsten der Nacht? „Dämmerung“ ist jedoch kein bloßes Untergehen des Tages als Verfall seiner Helle in die Finsternis. Dämmerung meint überhaupt nicht notwendig Untergang. Auch der Morgen dämmert. Mit ihm geht der Tag auf. Dämmerung ist zugleich Aufgehen. Bläue dämmert über dem „verhauenen“, über dem sperrigen, zusammengesunkenen Wald. Die Bläue der Nacht geht auf am Abend.
„Geistlich“ dämmert die Bläue. Das „Geistliche“ kennzeichnet die Dämmerung. Was dieses mehrfach genannte „Geistliche“ meint, werden wir bedenken müssen. Die Dämmerung ist die Neige des Sonnenganges. Darin liegt: die Dämmerung ist sowohl die Neige des Tages als auch die Neige des Jahres. Die letzte Strophe einer Dichtung, die „Sommersneige“ (S. 169) überschrieben ist, singt:

Der grüne Sommer ist so leise
Geworden und es läutet der Schritt
Des Fremdlings durch die silberne Nacht.
Gedächte ein blaues Wild seines Pfads,

Des Wohllauts seiner geistlichen Jahre!

Immer kehrt in Trakls Dichtung dieses „so leise“ wieder. Wir meinen, „leise“ bedeute nur: kaum merklich für das Ohr. In dieser Bedeutung wird das Genannte auf unser Vorstellen bezogen. Aber „leise“ heißt: langsam; gelisian heißt „gleiten“. Das Leise ist das Entgleitende. Der Sommer entgleitet in den Herbst, den Abend des Jahres.

aaaaaaaaaaaa… und es läutet der Schritt
Des Fremdlings durch die silberne Nacht.

Wer ist dieser Fremdling? Wessen Pfade sind es, deren „ein blaues Wild“ gedenken möchte? Gedenken heißt: „Vergessenes sinnen“,

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… da im grünen Geäst
Die Drossel ein Fremdes in den Untergang rief.
(vgl. S. 34, 107)

Inwiefern soll „ein blaues Wild“ (vgl. S. 99, 146) dem Untergehenden nachdenken? Empfängt das Wild sein Blaues aus jener „Bläue“, die „geistlich dämmert“ und als die Nacht aufgeht? Zwar ist die Nacht dunkel. Aber das Dunkle ist nicht notwendig Finsternis. In einer anderen Dichtung (S. 139) wird die Nacht mit den Worten angerufen:

O, das sanfte Zyanenbündel der Nacht.

Ein Bündel von Kornblumen ist die Nacht, ein sanftes. Demgemäß heißt das blaue Wild auch das „scheue Wild“ (S. 104), das „sanfte Tier“ (S. 97). Das Bündel aus Bläue versammelt im Grunde seines Gebindes die Tiefe des Heiligen. Aus der Bläue leuchtet, aber zugleich durch ihr eigenes Dunkel sich verhüllend, das Heilige. Dieses verhält, während es sich entzieht. Es verschenkt seine Ankunft, indem es sich in den verhaltenden Entzug verwahrt. Die ins Dunkel geborgene Helle ist die Bläue. Hell, d.h. hallend, ist ursprünglich der Ton, der aus dem Bergenden der Stille ruft und also sich lichtet. Die Bläue hallt in ihrer Helle, indem sie läutet. In ihrer hallenden Helle leuchtet das Dunkel der Bläue.
Die Schritte des Fremdlings läuten durch das silbern Glänzende-Klingende der Nacht. Eine andere Dichtung (S. 104) singt:

Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.

Anderswo (S. 110) heißt es von der Bläue:

… das Heilige blauer Blumen… rührt den Schauenden.

Eine andere Dichtung sagt (S. 85):

aaaaaaaaaaaaaaaaEin Tiergesicht
Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit.

Das Blau ist kein Bild für den Sinn des Heiligen. Die Bläue selber ist ob ihrer versammelnden, in der Verhüllung erst scheinenden Tiefe das Heilige. Angesichts der Bläue und zugleich durch lauter Bläue zum Ansichhalten gebracht, erstarrt das Tiergesicht und wandelt sich in das Antlitz des Wilds.
Die Starre des Tiergesichts ist nicht die des Abgestorbenen. Im Erstarren fährt das Gesicht des Tieres zusammen. Sein Aussehen sammelt sich, um, an sich haltend, dem Heiligen entgegen in den „Spiegel der Wahrheit“ (S. 85) zu schauen. Anschauen sagt: eingehen in das Schweigen.

Gewaltig ist das Schweigen im Stein.

lautet der unmittelbar folgende Vers. Der Stein ist das Gebirge des Schmerzes. Das Gestein versammelt bergend im Steinernen das Besänftigende, als welches der Schmerz ins Wesenhafte stillt. „Vor Bläue“ schweigt der Schmerz. Das Antlitz des Wilds nimmt sich angesichts der Bläue in das Sanfte zurück. Denn das Sanfte ist dem Wort nach das friedlich Sammelnde. Es verwandelt die Zwietracht, indem es das Versehrende und Sengende der Wildnis in den beruhigten Schmerz verwindet.
Wer ist das blaue Wild, dem der Dichter zuruft, es möchte doch des Fremdlings gedenken? Ein Tier? Gewiß. Und nur ein Tier? Keineswegs. Denn es soll gedenken. Sein Gesicht soll ausschauen nach… und hinschauen auf den Fremdling. Das blaue Wild ist ein Tier, dessen Tierheit vermutlich nicht im Tierischen, sondern in jenem schauenden Gedenken beruht, nach dem der Dichter ruft. Diese Tierheit ist noch fern und kaum zu erblicken. So schwankt denn die Tierheit des hier gemeinten Tieres im Unbestimmten. Sie ist noch nicht in ihr Wesen eingebracht. Dieses Tier, nämlich das denkende, das animal rationale, der Mensch, ist nach einem Wort Nietzsches noch nicht fest gestellt.
Diese Aussage meint keineswegs, der Mensch sei noch nicht als Tatsache „konstatiert“. Er ist es nur allzu entschieden. Das Wort meint: die Tierheit dieses Tieres ist noch nicht ins Feste, d.h. „nach Haus“, in das Einheimische ihres verhüllten Wesens gebracht. Um diese Feststellung ringt die abendländisch-europäische Metaphysik seit Platon. Vielleicht ringt sie vergebens. Vielleicht ist ihr der Weg in das „Unterwegs“ noch verlegt. Das in seinem Wesen noch nicht festgestellte Tier ist der jetzige Mensch.
Im dichtenden Namen „blaues Wild“ ruft Trakl jenes Menschenwesen, dessen Antlitz, d.h. Gegenblick, im Denken an die Schritte des Fremdlings von der Bläue der Nacht er-blickt und so vom Heiligen beschienen wird. Der Name „blaues Wild“ nennt Sterbliche, die des Fremdlings gedenken und mit ihm das Einheimische des Menschenwesens erwandern möchten.
Wer sind sie, die solche Wanderschaft beginnen? Vermutlich sind es Wenige und Unbekannte, wenn anders das Wesenhafte sich in der Stille und jäh und selten ereignet. Der Dichter nennt solche Wanderer in der Dichtung „Ein Winterabend“ (S. 126), deren zweite Strophe beginnt:

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.

Das blaue Wild hat, wo und wann es west, die bisherige Wesensgestalt des Menschen verlassen. Der bisherige Mensch verfällt, insofern er sein Wesen verliert, d.h. verwest.
„Siebengesang des Todes“ nennt Trakl eine seiner Dichtungen. Sieben ist die heilige Zahl. Das Heilige des Todes singt der Gesang. Der Tod wird hier nicht unbestimmt und im allgemeinen als Beendigung irdischen Lebens vorgestellt. „Der Tod“ meint dichterisch jenen „Untergang“, in den „ein Fremdes“ gerufen ist. Darum heißt das so gerufene Fremde auch (S. 146) „ein Totes“. Sein Tod ist nicht die Verwesung, sondern das Verlassen der verwesten Gestalt des Menschen. So sagt denn die vorletzte Strophe der Dichtung „Siebengesang des Todes“ (S. 12): 

O des Menschen verweste Gestalt: gefügt aus kalten Metallen,
Nacht und Schrecken versunkener Wälder
Und der sengenden Wildnis des Tiers;
Windesstille der Seele.

Die verweste Gestalt des Menschen ist der Marter des Sengenden und dem Stechenden des Dorns ausgeliefert. Ihre Wildheit ist nicht durchschienen von der Bläue. Die Seele dieser Menschengestalt steht nicht im Wind des Heiligen. Sie ist deshalb ohne Fahrt. Der Wind selber, Gottes Wind, bleibt darum einsam. Eine Dichtung, die das blaue Wild nennt, das sich jedoch kaum erst aus dem „Dornengestrüpp“ lösen kann, schließt mit den Versen (S. 99):

Immer tönt
An schwarzen Mauern Gottes einsamer Wind.

„Immer“, dies meint: solange das Jahr und sein Sonnengang noch im Düsteren des Winters verharrt und niemand des Pfades gedenkt, auf dem der Fremdling „läutenden Schrittes“ die Nacht durchschreitet. Diese Nacht ist selbst nur die bergende Verhüllung des Sonnenganges. „Gehen“, ιεναι, heißt indogermanisch: ier-, das Jahr.

Gedächte ein blaues Wild seines Pfads,

Des Wohllauts seiner geistlichen Jahre!

Das Geistliche der Jahre wird aus der geistlich dämmernden Bläue der Nacht bestimmt.

… O, wie ernst ist das hyazinthene Antlitz der Dämmerung.
„Unterwegs“ (S. 102)

Die geistliche Dämmerung ist so wesentlichen Wesens, daß der Dichter eigens eine der Dichtungen mit dem Wort „Geistliche Dämmerung“ überschreibt (S. 137). Auch in ihr begegnet das Wild, aber ein dunkles. Sein Wildes hat zumal den Zug ins Finstere und die Neige zur stillen Bläue. Indessen befährt der Dichter selbst „auf schwarzer Wolke“ den „nächtigen Weiher des Sternenhimmels“.
Die Dichtung lautet:

GEISTLICHE DÄMMERUNG

Stille begegnet am Saum des Waldes
Ein dunkles Wild;
Am Hügel endet leise der Abendwind,

Verstummt die Klage der Amsel,
Und die sanften Flöten des Herbstes
Schweigen im Rohr.

Auf schwarzer Wolke
Befährst du trunken von Mohn
Den nächtigen Weiher,

Den Sternenhimmel.
Immer tönt der Schwester mondene Stimme
Durch die geistliche Nacht.

Der Sternenhimmel ist im dichterischen Bild des nächtigen Weihers dargestellt. So meint es unser gewöhnliches Vorstellen. Aber der nächtliche Himmel ist in der Wahrheit seines Wesens dieser Weiher. Dagegen bleibt, was wir sonst die Nacht nennen, eher nur ein Bild, nämlich das verblaßte und entleerte Nachbild ihres Wesens. Oft kehrt im Gedicht des Dichters der Weiher wieder und der Weiherspiegel. Die bald schwarzen, bald blauen Wasser zeigen dem Menschen sein eigenes Antlitz, seinen Gegenblick. Im nächtigen Weiher des Sternenhimmels aber erscheint die dämmernde Bläue der geistlichen Nacht. Ihr Glanz ist kühl.
Das kühle Licht entstammt dem Scheinen der Möndin (σελáυυα). Rings um ihr Leuchten verblassen und erkühlen sogar, wie altgriechische Verse sagen, die Sterne. Alles wird „monden“. Der die Nacht durchschreitende Fremde heißt „der Mondene“ (S. 134). Die „mondene Stimme“ der Schwester, die immer durch die geistliche Nacht tönt, hört der Bruder dann, wenn er in seinem Kahn, der noch ein „schwarzer“ ist und kaum beglänzt vom goldenen des Fremdlings, diesem auf nächtiger Weiherfahrt zu folgen versucht.
Wenn Sterbliche dem in den Untergang gerufenen „Fremden“, d.h. jetzt dem Fremdling nachwandern, gelangen sie selber ins Fremde, werden sie selbst Fremdlinge und Einsame. (S. 64, 87 u.a.)
Durch die Fahrt auf dem nächtigen Sternenweiher, das ist der Himmel über der Erde, er-fährt die Seele die Erde erst als Erde in ihrem „kühlen Saft“ (S. 126). Die Seele entgleitet in die abendlich dämmernde Bläue des geistlichen Jahres. Sie wird zur „Herbstseele“ und als diese wird sie zur „blauen Seele“.
Die wenigen, jetzt genannten Strophen und Verse weisen in die geistliche Dämmerung, führen auf den Pfad des Fremdlings, zeigen Art und Fahrt derer, die, seiner gedenkend, ihm in den Untergang folgen. Zur Zeit der „Sommersneige“ wird das Fremde in seinem Wandern herbstlich und dunkel.
„Herbstseele“ nennt Trakl eine Dichtung, deren vorletzte Strophe singt (S. 124):

Bald entgleitet Fisch und Wild.
Blaue Seele, dunkles Wandern
Schied uns bald von Lieben, Andern.
Abend wechselt Sinn und Bild.

Die Wanderer, die dem Fremdling folgen, sehen sich alsbald geschieden „von Lieben“, die für sie „Andere“ sind. Die Anderen – das ist der Schlag der verwesten Gestalt des Menschen.
Unsere Sprache nennt das aus einem Schlag geprägte und in diesen Schlag verschlagene Menschenwesen das „Geschlecht“. Das Wort bedeutet sowohl das Menschengeschlecht im Sinne der Menschheit, als auch die Geschlechter im Sinne der Stämme, Sippen und Familien, dies alles wiederum geprägt in das Zwiefache der Geschlechter. Das Geschlecht der „verwesten Gestalt“ des Menschen nennt der Dichter das „verwesende“ Geschlecht (S. 186). Es ist aus der Art seines Wesens herausgesetzt und darum das „entsetzte“ (S. 162) Geschlecht.
Womit ist dieses Geschlecht geschlagen, d.h. verflucht? Fluch heißt griechisch πληγη, unser Wort „Schlag“. Der Fluch des verwesenden Geschlechtes besteht darin, daß dieses alte Geschlecht in die Zwietracht der Geschlechter auseinandergeschlagen ist. Aus ihr trachtet jedes der Geschlechter in den losgelassenen Aufruhr der je vereinzelten und bloßen Wildheit des Wildes. Nicht das Zwiefache als solches, sondern die Zwietracht ist der Fluch. Sie trägt aus dem Aufruhr der blinden Wildheit das Geschlecht in die Entzweiung und verschlägt es so in die losgelassene Vereinzelung. Also entzweit und zerschlagen vermag das „verfallene Geschlecht“ von sich aus nicht mehr in den rechten Schlag zu finden. Den rechten Schlag aber hat es nur mit jenem Geschlecht, dessen Zwiefaches aus der Zwietracht weg in die Sanftmut einer einfältigen Zwiefalt vorauswandert, d.h. ein „Fremdes“ ist und dabei dem Fremdling folgt.
Im Verhältnis zu jenem Fremdling bleiben alle Nachkommen des verwesenden Geschlechtes die Anderen. Gleichwohl hängt an ihnen die Liebe und die Verehrung. Das dunkle Wandern im Gefolge des Fremdlings geleitet jedoch in die Bläue seiner Nacht. Die wandernde Seele wird zur „blauen Seele“.
Aber zugleich wird sie geschieden. Wohin? Dorthin, wo jener Fremdling geht, der bisweilen dichterisch nur mit dem hinweisenden Wort „Jener“ genannt wird. „Jener“ lautet in der alten Sprache „ener“ und bedeutet der „andere“. „Enert dem Bach“ ist die andere Seite des Baches. „Jener“, der Fremdling, ist der Andere zu den Anderen, nämlich zum verwesenden Geschlecht. Jener ist der von den Anderen Hinweg- und Abgerufene. Der Fremdling ist der Ab-geschiedene.
Wohin ist ein solches, was in sich das Wesen des Fremden, d.h. das Voraus-Wandern übernimmt, gewiesen? Wohin ist ein Fremdes gerufen? In den Untergang. Er ist das Sichverlieren in die geistliche Dämmerung der Bläue. Er geschieht aus der Neige zum geistlichen Jahr. Wenn solche Neige durch das Zerstörende des nahenden Winters, des Novembers, hindurch muß, dann bedeutet jenes Sichverlieren gleichwohl nicht das Wegfallen in das Haltlose und in die Vernichtung. Sich verlieren besagt vielmehr nach dem Wortsinn: sich loslösen und langsam entgleiten. Der Sichverlierende entschwindet zwar in der, aber keineswegs in die Novemberzerstörung. Er gleitet durch sie hindurch weg in die geistliche Dämmerung der Bläue, „zur Vesper“, d.h. gegen Abend.

Zur Vesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung,
Unter morschem Geäst an Mauern voll Aussatz hin,
Wo vordem der heilige Bruder gegangen
Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns.

„Helian“ (S. 87). 

Der Abend ist die Neige der Tage der geistlichen Jahre. Der Abend vollbringt einen Wechsel. Der Abend, der sich dem Geistlichen zuneigt, gibt anderes zu schauen, anderes zu sinnen.

Abend wechselt Sinn und Bild.

Das Scheinende, dessen Anblicke (Bilder) die Dichter sagen, erscheint durch diesen Abend anders. Das Wesende, dessen Unsichtbarem die Denker nachsinnen, kommt durch diesen Abend zu anderem Wort. Der Abend verwandelt aus anderem Bild und anderem Sinn die Sage des Dichtens und Denkens und ihre Zwiesprache. Dies vermag der Abend jedoch nur deshalb, weil er selbst wechselt. Der Tag geht durch ihn zu einer Neige, die kein Ende ist, sondern einzig geneigt, jenen Untergang zu bereiten, durch den der Fremdling in den Beginn seiner Wanderschaft eingeht. Der Abend wechselt sein eigenes Bild und seinen eigenen Sinn. In diesem Wechsel verbirgt sich ein Abschied vom bisherigen Walten der Tages- und Jahreszeiten.
Doch wohin geleitet der Abend das dunkle Wandern der blauen Seele? Dorthin, wo alles anders zusammengekommen, geborgen und für einen anderen Aufgang verwahrt ist.
Die bisher genannten Strophen und Verse weisen uns in eine Versammlung, d.h. an einen Ort. Welcher Art ist dieser Ort? Wie sollen wir ihn benennen? Doch wohl aus der Anmessung an die Sprache des Dichters. Alles Sagen der Dichtungen Georg Trakls bleibt auf den wandernden Fremdling versammelt. Er ist und er heißt „der Abgeschiedene“ (S. 177). Durch ihn hindurch und um ihn her ist das dichtende Sagen auf einen einzigen Gesang gestimmt. Weil die Dichtungen dieses Dichters in das Lied des Abgeschiedenen versammelt sind, nennen wir den Ort seines Gedichtes die Abgeschiedenheit.
Die Erörterung muß jetzt durch einen zweiten Schritt versuchen, den bisher nur angezeigten Ort deutlicher in die Acht zu nehmen.

 

II

Läßt sich die Abgeschiedenheit noch eigens, und zwar als der Ort des Gedichtes, in den besinnlichen Blick heben? Wenn überhaupt, dann nur so, daß wir jetzt helleren Auges dem Pfad des Fremdlings folgen und fragen: Wer ist der Abgeschiedene? Welches ist die Landschaft seiner Pfade?
Sie verlaufen durch die Bläue der Nacht. Das Licht, aus dem seine Schritte leuchten, ist kühl. Das Schlußwort einer Dichtung, die eigens dem „Abgeschiedenen“ gilt, nennt „die mondenen Pfade der Abgeschiedenen“ (S. 178). Wir heißen die Abgeschiedenen auch die Toten. Aber in welchen Tod ist der Fremdling gestorben? In der Dichtung „Psalm“ (S. 63) sagt Trakl:

Der Wahnsinnige ist gestorben.

Die folgende Strophe sagt:

Man begräbt den Fremden.

Im „Siebengesang des Todes“ heißt er der „weiße Fremdling“. Die letzte Strophe der Dichtung „Psalm“ sagt:

In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.
(S. 65)

Der Gestorbene lebt in seinem Grab. Er lebt in seiner Kammer so still und versonnen, daß er mit seinen Schlangen spielt. Sie vermögen nichts gegen ihn. Sie sind nicht erwürgt, aber ihr Böses ist verwandelt. Dagegen heißt es in der Dichtung „Die Verfluchten“ (S. 120):

Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt
Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß.
(vgl. S. 161, 164.)

Der Gestorbene ist der Wahnsinnige. Meint dies einen Geisteskranken? Nein. Wahnsinn bedeutet nicht das Sinnen, das Unsinniges wähnt. „Wahn“ gehört zum althochdeutschen wana und bedeutet: ohne. Der Wahnsinnige sinnt, und er sinnt sogar wie keiner sonst. Aber er bleibt dabei ohne den Sinn der Anderen. Er ist anderen Sinnes. Sinnan bedeutet ursprünglich: reisen, streben nach…, eine Richtung einschlagen; die indogermanische Wurzel sent und set bedeutet Weg. Der Abgeschiedene ist der Wahnsinnige, weil er anderswohin unterwegs ist. Von dorther darf sein Wahnsinn ein „sanfter“ heißen; denn er sinnt Stillerem nach. Eine Dichtung, die vom Fremdling einfach als von „Jenem“, dem Anderen, spricht, singt:

Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab,
Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt
In seine stillere Kindheit und starb.

Die Dichtung trägt die Überschrift „An einen Frühverstorbenen“ (S. 135). Der Abgeschiedene ist in die Frühe hinweggestorben. Darum ist er der „zarte Leichnam“ (S. 105, 146 u.a.), eingehüllt in jene Kindheit, die alles nur Brennende und Sengende der Wildnis stiller verwahrt. So erscheint der in die Frühe Verstorbene als „die dunkle Gestalt der Kühle“. Von ihr singt die Dichtung des Titels „Am Mönchsberg“ (S. 113):

Immer folgt dem Wanderer die dunkle Gestalt der Kühle
Über knöchernen Steg, die hyazinthene Stimme des Knaben,
Leise sagend die vergessene Legende des Walds…

„Die dunkle Gestalt der Kühle“ folgt dem Wanderer nicht nach. Sie geht ihm voraus, insofern die blaue Stimme des Knaben Vergessenes zurückholt und es vorsagt.
Wer ist dieser in die Frühe hinweg gestorbene Knabe? Wer ist dieser Knabe, dessen

… Stirne leise blutet
Uralte Legenden
Und dunkle Deutung des Vogelflugs.

(S. 97)?

Wer ist dieser über knöchernen Steg Gegangene? Der Dichter ruft ihn an mit dem Wort:

O, wie lange bist, Elis, du verstorben.

Elis ist der in den Untergang gerufene Fremdling. Elis ist keineswegs eine Gestalt, mit der Trakl sich selber meint. Elis ist so wesenhaft vom Dichter unterschieden wie vom Denker Nietzsche die Gestalt Zarathustras. Aber beide Gestalten kommen darin überein, daß ihr Wesen und Wandern mit dem Untergang beginnt. Elis’ Untergang geht in die uralte Frühe, die älter ist denn das altgewordene verwesende Geschlecht, älter, weil sinnender, sinnender, weil stiller, stiller, weil selbst stillender.
In der Gestalt des Knaben Elis beruht das Knabenhafte nicht in einem Gegensatz zum Mädchenhaften. Das Knabenhafte ist die Erscheinung der stilleren Kindheit. Diese birgt und spart in sich die sanfte Zwiefalt der Geschlechter, des Jünglings sowohl wie der „goldenen Gestalt der Jünglingin“ (S. 179).
Elis ist kein Toter, der im Späten des Abgelebten verwest. Elis ist der Tote, der in die Frühe entwest. Dieser Fremdling entfaltet das Menschenwesen voraus in den Anbeginn dessen, was noch nicht zum Tragen (althochdeutsch giberan) gekommen. Jenes ruhendere und darum stillendere Unausgetragene im Wesen der Sterblichen nennt der Dichter das Ungeborene.
Der in die Frühe verstorbene Fremdling ist der Ungeborene. Die Namen „ein Ungeborenes“ und „ein Fremdes“ sagen dasselbe. In der Dichtung „Heiterer Frühling“ steht der Vers (S. 26):

Und Ungebornes pflegt der eignen Ruh.

Es hütet und wahrt die stillere Kindheit in das kommende Erwachen des Menschengeschlechtes. Also ruhend, lebt der Frühverstorbene. Der Abgeschiedene ist nicht der Abgestorbene im Sinne des Abgelebten. Im Gegenteil. Der Abgeschiedene schaut in die Bläue der geistlichen Nacht voraus. Die weißen Lider, die sein Schauen behüten, erglänzen im bräutlichen Schmuck (S. 150), der die sanftere Zwiefalt des Geschlechtes verspricht.

Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.

Dieser Vers gehört in die selbe Dichtung, die sagt:

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

Beide Sätze stehen in unmittelbarer Nachbarschaft. Der „Tote“ ist der Abgeschiedene, der Fremde, der Ungeborene.
Aber noch geht

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa des Ungeborenen
Pfad an finsteren Dörfern, einsamen Sommern hin
„Stundenlied“ (S. 101)

Sein Weg führt an dem, was ihn nicht als Gast einläßt, vorbei, aber schon nicht mehr hindurch. Zwar ist auch die Fahrt des Abgeschiedenen einsam, dies jedoch aus der Einsamkeit „des nächtigen Weihers des Sternenhimmels“. Der Wahnsinnige befährt diesen Weiher nicht auf „schwarzer Wolke“, sondern auf goldenem Kahn. Wie ist es mit dem Goldenen? Die Dichtung „Winkel im Wald“ (S. 33) antwortet durch den Vers:

Auch zeigt sich sanftem Wahnsinn oft das Goldne, Wahre.

Der Pfad des Fremdlings führt durch die „geistlichen Jahre“, deren Tage überall in den wahren Anbeginn gelenkt, von dorther regiert, d.h. recht sind. Das Jahr seiner Seele ist in das Rechte versammelt.

O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage.

singt die Dichtung „Elis“ (S. 98). Dieser Ruf ist nur das Echo zum anderen schon gehörten

O, wie lange bist, Elis, da verstorben.

Die Frühe, in die der Fremdling verstorben, birgt das Wesensgerechte des Ungeborenen. Diese Frühe ist eine Zeit eigener Art, die Zeit der „geistlichen Jahre“. Trakl hat eine seiner Dichtungen schlicht mit dem Wort „Jahr“ überschrieben (S. 170). Sie beginnt: „Dunkle Stille der Kindheit“. Ihr gegenüber ist die hellere, weil noch stillere und darum andere Kindheit die Frühe, in die der Abgeschiedene untergegangen. Die stillere Kindheit nennt der Schlußvers derselben Dichtung den Anbeginn:

Goldenes Auge des Anbeginns, dunkle Geduld des Endes.

Das Ende ist hier nicht die Folge und das Verklingen des Anbeginns. Das Ende geht, nämlich als das Ende des verwesenden Geschlechtes, dem Anbeginn des ungeborenen Geschlechtes vorauf. Der Anbeginn hat jedoch als die frühere Frühe das Ende schon überholt.
Diese Frühe verwahrt das immer noch verhüllte ursprüngliche Wesen der Zeit. Es bleibt dem herrschenden Denken auch fernerhin verschlossen, solange die seit Aristoteles überall noch maßgebende Vorstellung von der Zeit in Geltung bleibt. Darnach ist die Zeit, mag man sie mechanisch oder dynamisch oder vom Atomzerfall her vorstellen, die Dimension der quantitativen oder qualitativen Berechnung der Dauer, die im Nacheinander abläuft.
Aber die wahre Zeit ist Ankunft des Gewesenen. Dieses ist nicht das Vergangene, sondern die Versammlung des Wesenden, die aller Ankunft voraufgeht, indem sie als solche Versammlung sich in ihr je Früheres zurückbirgt. Dem Ende und seiner Vollendung entspricht „dunkle Geduld“. Sie trägt Verborgenes seiner Wahrheit entgegen. Ihr Ertragen trägt alles dem Untergang in die Bläue der geistlichen Nacht zu. Dem Anbeginn jedoch entspricht ein Blicken und Sinnen, das golden leuchtet, weil es vom „Goldnen, Wahren“ beschienen ist. Dieses spiegelt sich im Sternenweiher der Nacht, wenn Elis ihr auf seiner Fahrt das Herz öffnet (S. 98):

Ein goldener Kahn
Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel.

Der Kahn des Fremdlings schwankt, aber spielend, nicht „ängstlich“ (S. 200) wie der Kahn jener Nachfahren der Frühe, die erst dem Fremdling nur folgen. Ihr Kahn gelangt noch nicht auf die Höhe des Weiherspiegels.
Er versinkt. Aber wo? Im Verfall? Nein. Und wohin? In das leere Nichts? Keineswegs. Eine der letzten Dichtungen „Klage“ (S. 200) endet mit den Versen:

Schwester stürmischer Schwermut,
Sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt
Unter Sternen,
Dem schweigenden Antlitz der Nacht.

Was birgt dieses aus dem Glanz der Sterne entgegenblickende Schweigen der Nacht? Wohin gehört es mit dieser selbst? Zur Abgeschiedenheit. Diese erschöpft sich nicht in einem bloßen Zustand, dem des Verstorbenseins, worin der Knabe Elis lebt.
Zur Abgeschiedenheit gehört die Frühe der stilleren Kindheit, gehört die blaue Nacht, gehören die nächtigen Pfade des Fremdlings, gehört der nächtliche Flügelschlag der Seele, gehört schon die Dämmerung als das Tor zum Untergang.
Die Abgeschiedenheit versammelt dieses Zusammengehörende, aber nicht nachträglich, sondern so, daß sie sich in seine schon waltende Versammlung entfaltet.
Die Dämmerung, die Nacht, die Jahre des Fremdlings, seine Pfade nennt der Dichter „geistlich“. Die Abgeschiedenheit ist „geistlich“. Was meint dieses Wort? Seine Bedeutung und ihr Gebrauch sind alt. „Geistlich“ heißt, was im Sinne des Geistes ist, ihm entstammt und seinem Wesen folgt. Der heute geläufige Sprachgebrauch hat das „Geistliche“ auf die Beziehung zu den „Geistlichen“, zum geistlichen Stand der Priester und ihrer Kirche eingeschränkt. Auch Trakl scheint, wenigstens für das flüchtige Ohr, diesen Bezug zu meinen, wenn die Dichtung „In Hellbrunn“ (S. 191) sagt:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… So geistlich ergrünen
Die Eichen über den vergessenen Pfaden der Toten.

Vorher sind „die Schatten der Kirchenfürsten, edler Frauen“ genannt, „die Schatten lange Verstorbener“, die über den „Frühlingsweiher“ zu schweben scheinen. Aber der Dichter, der hier „wieder die blaue Klage des Abends“ singt, denkt nicht an die „Geistlichkeit“, wenn ihm die Eichen „so geistlich ergrünen“. Er denkt an die Frühe des lang Verstorbenen, die den „Frühling der Seele“ verspricht. Nichts anderes singt auch die zeitlich frühere Dichtung „Geistliches Lied“ (S. 20), wenngleich noch verhüllter und suchender. Der Geist dieses „Geistlichen Liedes“, das in einer seltsamen Zweideutigkeit spielt, kommt durch die letzte Strophe deutlicher ins Wort:

Bettler dort am allen Stein
Scheint verstorben im Gebet,
Sanft ein Hirt vom Hügel geht
Und ein Engel singt im Hain,
Nah im Hain
Kinder in den Schlaf hinein.

Aber der Dichter könnte doch, wenn er schon nicht das „Geistliche“ der Geistlichkeit meint, das, was in der Beziehung zum Geist steht, schlecht und recht das „Geistige“ nennen und von der geistigen Dämmerung, der geistigen Nacht sprechen. Warum vermeidet er das Wort „geistig“? Weil das „Geistige“ den Gegensatz zum Stofflichen nennt. Dieser stellt die Verschiedenheit zweier Bereiche vor und nennt, platonisch-abendländisch gesprochen, die Kluft zwischen dem Übersinnlichen (υοητóυ) und dem Sinnlichen (αισθητóυ).
Das so verstandene Geistige, das inzwischen zum Rationalen, Intellektuellen und Ideologischen geworden ist, gehört samt seinen Gegensätzen zur Weltansicht des verwesenden Geschlechtes. Von diesem scheidet sich aber das „dunkle Wandern“ der „blauen Seele“. Die Dämmerung zur Nacht, in die das Fremde untergeht, kann so wenig wie der Pfad des Fremdlings „geistig“ genannt werden. Die Abgeschiedenheit ist geistlich, vom Geist bestimmt, aber gleichwohl nicht „geistig“ im metaphysischen Sinne.
Doch was ist der Geist? Trakl spricht in seiner letzten Dichtung „Grodek“ von der heißen „Flamme des Geistes“ (S. 201). Der Geist ist das Flammende und erst als dieses vielleicht ein Wehendes. Trakl versteht den Geist nicht zuerst als Pneuma, nicht spirituell, sondern als Flamme, die entflammt, aufjagt, entsetzt, außer Fassung bringt. Das Flammen ist das erglühende Leuchten. Das Flammende ist das Außer-sich, das lichtet und erglänzen läßt, das indessen auch weiterfressen und alles in das Weiße der Asche verzehren kann.
„Flamme ist des Bleichsten Bruder“, heißt es in der Dichtung „Verwandlung des Bösen“ (S. 129). Trakl schaut den „Geist“ aus jenem Wesen, das in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Geist“ genannt wird; denn gheis besagt: aufgebracht, entsetzt, außer sich sein.
Der so verstandene Geist west in der Möglichkeit des Sanften  u n d  des Zerstörerischen. Das Sanfte schlägt jenes Außer-sich des Entflammenden keineswegs nieder, sondern hält es in der Ruhe des Freundlichen versammelt. Das Zerstörerische kommt aus dem Zügellosen, das sich im eigenen Aufruhr verzehrt und so das Bösartige betreibt. Das Böse ist stets das Böse eines Geistes. Das Böse und seine Bosheit ist nicht das Sinnliche, Stoffliche. Es ist auch nicht bloß „geistiger“ Natur. Das Böse ist geistlich als der in die Verblendung weglodernde Aufruhr des Entsetzenden, das in das Ungesammelte des Unheilen versetzt und das gesammelte Erblühen des Sanften zu versengen droht.
Doch wo ruht das Sammelnde des Sanften? Welches sind seine Zügel? Welcher Geist hält sie? Wie ist und wird das Menschenwesen „geistlich“?
Insofern das Wesen des Geistes im Entflammen beruht, bricht er Bahn, lichtet sie und bringt auf den Weg. Als Flamme ist der Geist der Sturm, der „den Himmel stürmt“ und „Gott erjagt“ (S. 187). Der Geist jagt die Seele in das Unterwegs, wo sich ein Vorauswandern begibt. Der Geist versetzt in das Fremde. „Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ Der Geist ist es, der mit Seele beschenkt. Er ist der Beseeler. Aber die Seele wiederum hütet den Geist und dies so wesentlich, daß der Geist vermutlich nie ohne die Seele Geist sein kann. Sie „nährt“ den Geist. Auf welche Weise? Wie anders denn so, daß die Seele die ihrem Wesen eigene Flamme dem Geist zu Lehen gibt? Diese Flamme ist das Glühen der Schwermut, „die Sanftmut der einsamen Seele“ (S. 55).
Das Einsame vereinzelt nicht in die Zerstreuung, der jede bloße Verlassenheit preisgegeben ist. Das Einsame trägt die Seele dem Einzigen zu, versammelt sie in das Eine und bringt ihr Wesen so auf die Wanderschaft. Als die einsame Seele ist sie die wandernde. Der Glut ihres Gemütes wird zugemutet, die Schwere des Geschickes in die Wanderschaft – und so die Seele dem Geist entgegen – zu tragen.

Dem Geist leih deine Flamme, glühende Schwermut,

beginnt eine Dichtung „An Lucifer“, d.h. an den Lichtträger, der den Schatten des Bösen wirft. (Nachlaßband S. 14.)
Die Schwermut der Seele erglüht nur dort, wo die Seele auf ihrer Wanderung in die weiteste Weite ihres eigenen, d.h. ihres wandernden Wesens eingeht. Solches geschieht, wenn sie dem Antlitz der Bläue entgegen schaut und anschaut, was aus dieser scheint. Also anschauend ist die Seele „die große Seele“.

O Schmerz, du flammendes Anschaun
Der großen Seele.
„Das Gewitter“ (S. 183).

Das Große der Seele mißt sich an der Weise, wie sie das flammende Anschauen vermag, wodurch sie im Schmerz heimisch wird. Dem Schmerz eignet ein in sich gegenwendiges Wesen.
„Flammend“ reißt der Schmerz fort. Sein Fortriß zeichnet die wandernde Seele in die Fuge des Stürmens und Jagens ein, das, den Himmel stürmend, Gott erjagen möchte. So scheint es, als sollte der Fortriß das, wohin er reißt, überwältigen, statt es in seinem verhüllenden Leuchten walten zu lassen.
Dies aber vermag das „Anschauen“. Es löscht den flammenden Fortriß nicht aus, sondern fügt ihn in das Fügsame des schauenden Hinnehmens zurück. Das Anschauen ist der Rückriß im Schmerz, wodurch dieser seine Milde erlangt und aus ihr sein entbergend-geleitendes Walten.
Der Geist ist Flamme. Glühend leuchtet sie. Das Leuchten geschieht im Blick des Anschauens. Solchem Anschauen ereignet sich die Ankunft des Scheinenden, worin alles Wesende anwest. Dieses flammende Anschauen ist der Schmerz. Jedem Meinen, das den Schmerz von der Empfindung her vorstellt, bleibt sein Wesen verschlossen. Das flammende Anschauen bestimmt das Große der Seele.
Der Geist, der „große Seele“ gibt, ist als Schmerz das Beseelende. Die also begabte Seele aber ist das Belebende. Darum ist jegliches, was nach ihrem Sinne lebt, vom Grundzug ihres eigenen Wesens, vom Schmerz, durchwaltet. Alles, was lebt, ist schmerzlich.
Nur was seelenvoll lebt, vermag seine Wesensbestimmung zu erfüllen. Kraft dieses Vermögens taugt es zum Einklang des wechselweisen Sichtragens, wodurch alles Lebendige zusammengehört. Gemäß diesem Bezug des Taugens ist alles, was lebt, tauglich, d.h. gut. Aber das Gute ist schmerzlich gut.
Alles Beseelte ist dem Grundzug der großen Seele entsprechend nicht nur schmerzlich gut, sondern einzig auf diese Weise auch wahrhaft; denn kraft der Gegenwendigkeit des Schmerzes kann das Lebende sein Mit- anwesendes in seiner jeweiligen Art verbergend entbergen, wahrhaft sein lassen.
Die letzte Strophe einer Dichtung beginnt (S. 26):

So schmerzlich gut und wahrhaft ist, was lebt;

Man könnte meinen, der Vers streife das Schmerzliche nur flüchtig. In Wahrheit leitet er das Sagen der ganzen Strophe ein, die auf das Erschweigen des Schmerzes gestimmt bleibt. Um es zu hören, dürfen wir die sorgfältig gesetzten Satzzeichen weder übersehen, noch gar abändern. Die Strophe fährt fort:

Und leise rührt dich an ein alter Stein:

Wieder erklingt das „leise“, das jeweils in die wesenhaften Bezüge gleiten läßt. Wiederum erscheint „der Stein“, der, wenn hier ein Rechnen erlaubt wäre, an mehr als dreißig Stellen des Traklschen Gedichtes verzeichnet werden könnte. Im Stein verbirgt sich der Schmerz, der, versteinernd, sich in das Verschlossene des Gesteins verwahrt, in dessen Erscheinen die uralte Herkunft aus der stillen Glut der frühesten Frühe leuchtet, die als vorausgehender Anbeginn auf alles Werdende, Wandernde zukommt und ihm die nie einholbare Ankunft seines Wesens zubringt.
Das alte Gestein ist der Schmerz selbst, insofern er erdhaft die Sterblichen anblickt. Der Doppelpunkt nach dem Wort „Stein“ am Ende des Verses zeigt an, daß hier der Stein spricht. Der Schmerz selbst hat das Wort. Langher schweigend sagt er den Wanderern, die dem Fremdling folgen, nichts Geringeres als sein eigenes Walten und Währen:

Wahrlich! Ich werde immer bei euch sein.

Diesem Spruch des Schmerzes entgegnen die Wandernden, die dem Frühverstorbenen in das laubige Gezweig nachlauschen, mit den Worten des anschließenden Verses:

O Mund! der durch die Silberweide bebt.

Die ganze Strophe dieser Dichtung entspricht dem Schluß der zweiten Strophe einer anderen, die „An einen Frühverstorbenen“ (S. 135) gerichtet ist:

Und im Garten blieb das silberne Antlitz des Freundes zurück,
Lauschend im Laub oder im allen Gestein.

Die Strophe, die anhebt mit:

So schmerzlich gut und wahrhaft ist, was lebt;

gibt zugleich den lösenden Gegenklang zum Beginn des dritten Teils der Dichtung, in die sie gehört:

Wie scheint doch alles Werdende so krank!

Das Gestörte, Verhemmte, Unheile und Heillose, alles Leidvolle des Verfallenden ist in Wahrheit nur der einzige Anschein, in dem sich das „Wahrliche“ verbirgt: der alles durchwährende Schmerz. Darum ist der Schmerz weder das Widrige noch das Nützliche. Der Schmerz ist die Gunst des Wesenhaften alles Wesenden. Die Einfalt seines gegenwendigen Wesens bestimmt das Werden aus der verborgenen frühesten Frühe und stimmt es in die Heiterkeit der großen Seele.

So schmerzlich gut und wahrhaft ist, was lebt;
Und leise rührt dich an ein alter Stein:
Wahrlich! Ich werde immer bei euch sein.
O Mund! der durch die Silberweide bebt.

Die Strophe ist der reine Gesang des Schmerzes, gesungen, damit sie die dreiteilige Dichtung vollende, die „Heiterer Frühling“ heißt. Die Heiterkeit der frühesten Frühe alles anbeginnlichen Wesens erbebt aus der Stille des verborgenen Schmerzes.
Dem gewöhnlichen Vorstellen erscheint das gegenwendige Wesen des Schmerzes, daß er als zurückreißender Riß erst eigentlich fortreißt, leicht als widersinnig. Aber in diesem Anschein verbirgt sich die Wesenseinfalt des Schmerzes. Sie trägt flammend am weitesten, wenn sie anschauend am innigsten an sich hält.
So bleibt der Schmerz als der Grundzug der großen Seele die reine Entsprechung zur Heiligkeit der Bläue. Denn diese leuchtet dem Antlitz der Seele entgegen, indem sie sich in ihre eigene Tiefe entzieht. Das Heilige währt, wenn es west, je nur so, daß es in diesem Entzug verhält und das Anschauen in das Fügsame verweist.
Das Wesen des Schmerzes, sein verborgener Bezug zur Bläue, gelangt durch die letzte Strophe einer Dichtung ins Wort, die „Verklärung“ heißt (S. 144):

Blaue Blume,
Die leise tönt in vergilbtem Gestein.

Die „blaue Blume“ ist das „sanfte Zyanenbündel“ der geistlichen Nacht. Die Worte singen den Brunnquell, dem Trakls Dichten entspringt. Sie beschließen, sie tragen zugleich die „Verklärung“. Der Gesang ist Lied, Tragödie und Epos in einem. Die Dichtung ist einzig unter allen, weil in ihr die Weite des Schauens, die Tiefe des Denkens, das Einfache des Sagens auf eine unsägliche Weise innig und immerdar  s c h e i n e n.
Der Schmerz ist nur wahrhaft Schmerz, wenn er der Flamme des Geistes dient. Die letzte Dichtung Trakls heißt „Grodek“. Man rühmt sie als Kriegsdichtung. Aber sie ist unendlich mehr, weil anderes. Ihre letzten Verse lauten (S. 201):

Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungeborenen Enkel.

Die hier genannten „Enkel“ sind keinesfalls die ungezeugt gebliebenen Söhne der gefallenen Söhne, die dem verwesenden Geschlecht entstammten. Wäre es nur an dem, am Abbruch der Fortzeugung bisheriger Geschlechter, dann müßte dieser Dichter über ein solches Ende jubeln. Aber er trauert; freilich in einer „stolzeren Trauer“, die flammend die Ruhe des Ungeborenen anschaut.
Die Ungeborenen heißen Enkel, weil sie nicht Söhne sein können, d.h. keine unmittelbaren Nachkommen des verfallenen Geschlechtes. Zwischen ihnen und diesem Geschlecht lebt eine andere Generation. Sie ist anders, weil andersartig gemäß ihrer anderen Wesensherkunft aus der Frühe des Ungeborenen. Der „gewaltige Schmerz“ ist das alles überflammende Anschauen, das in die sich noch entziehende Frühe jenes Toten vorblickt, dem die „Geister“ der früh Gefallenen entgegenstarben.
Doch wer hütet diesen gewaltigen Schmerz, daß er die heiße Flamme des Geistes nähre? Was vom Schlage dieses Geistes ist, gehört zu dem, was auf den Weg bringt. Was vom Schlag dieses Geistes ist, heißt „geistlich“. Darum muß der Dichter vor allem anderen und zugleich ausschließlich die Dämmerung, die Nacht, die Jahre „geistlich“ nennen. Die Dämmerung läßt die Bläue der Nacht aufgehen, entflammt sie. Die Nacht flammt als der leuchtende Spiegel des Sternenweihers. Das Jahr entflammt, indem es auf den Weg des Sonnenganges, seiner Auf- und Untergänge setzt.
Welcher Geist ist es, dem dieses „Geistliche“ entwacht und folgt? Es ist jener Geist, der in der Dichtung „An einen Frühverstorbenen“ (S. 136) eigens „der Geist des Frühverstorbenen“ genannt wird. Es ist der Geist, der jenen „Bettler“ des „Geistlichen Liedes“ (S. 20) in die Abgeschiedenheit aussetzt, so daß er, wie die Dichtung „Im Dorf“ (S. 81) sagt, „der Arme“ bleibt, „der im Geiste einsam starb“.
Die Abgeschiedenheit west als der lautere Geist. Sie ist das in seiner Tiefe ruhende, stiller flammende Scheinen der Bläue, die eine stillere Kindheit in das Goldene des Anbeginns entflammt. Dieser Frühe entgegen blickt das goldene Antlitz der Elisgestalt. In ihrem Gegenblick wahrt sie die nächtliche Flamme des Geistes der Abgeschiedenheit.
So ist denn die Abgeschiedenheit weder nur der Zustand des Frühverstorbenen, noch ist sie der unbestimmte Baum für seinen Aufenthalt. Die Abgeschiedenheit ist in der Art ihres Flammens selbst der Geist und als dieser das Versammelnde. Dieses holt das Wesen der Sterblichen in seine stillere Kindheit zurück, birgt sie als den noch nicht ausgetragenen Schlag, der das künftige Geschlecht prägt. Das Versammelnde der Abgeschiedenheit spart das Ungeborene über das Abgelebte hinweg in ein kommendes Auferstehen des Menschenschlages aus der Frühe. Das Versammelnde stillt als der Geist des Sanften zugleich den Geist des Bösen. Dessen Aufruhr steigt dort in seine äußerste Bösartigkeit, wo er gar aus der Zwietracht der Geschlechter noch ausbricht und in das Geschwisterliche einbricht.
Aber zugleich verbirgt sich in der stilleren Einfalt der Kindheit die dorthin versammelte geschwisterliche Zwiefalt des Menschengeschlechtes. In der Abgeschiedenheit ist der Geist des Bösen weder vernichtet und verneint, noch losgelassen und bejaht. Das Böse ist verwandelt. Um solche „Verwandlung“ zu bestehen, muß die Seele sich in das Große ihres Wesens wenden. Die Größe dieses Großen wird durch den Geist der Abgeschiedenheit bestimmt. Die Abgeschiedenheit ist die Versammlung, durch die das Menschenwesen in seine stillere Kindheit und diese in die Frühe eines anderen Anbeginns zurückgeborgen wird. Als Versammlung hat die Abgeschiedenheit das Wesen des Ortes.
Inwiefern ist nun aber die Abgeschiedenheit der Ort eines Gedichtes, und zwar jenes Gedichtes, das Georg Trakls Dichtungen zur Sprache bringen? Hat die Abgeschiedenheit überhaupt und aus sich einen Bezug zum Dichten? Und selbst wenn ein solcher Bezug waltet, wie soll die Abgeschiedenheit ein dichtendes Sagen zu sich als seinen Ort einholen und von dort bestimmen?
Ist die Abgeschiedenheit nicht ein einziges Schweigen der Stille? Wie kann die Abgeschiedenheit ein Sagen und Singen auf den Weg bringen? Doch Abgeschiedenheit ist nicht die Ödnis der Abgestorbenheit. In der Abgeschiedenheit durchmißt der Fremdling den Abschied vom bisherigen Geschlecht. Er ist unterwegs auf einem Pfad. Welcher Art ist dieser Pfad? Der Dichter sagt es deutlich genug, und zwar in dem betont abgesetzten Schlußvers der Dichtung „Sommersneige“:

Gedächte ein blaues Wild seines Pfads, 

Des Wohllauts seiner geistlichen Jahre!

Der Pfad des Fremdlings ist „der Wohllaut seiner geistlichen Jahre“. Elis’ Schritte läuten. Die läutenden Schritte leuchten durch die Nacht. Verhallt ihr Wohllaut ins Leere? Ist jener in die Frühe Verstorbene abgeschieden im Sinne des Losgetrennten, oder ist er ausgeschieden im Sinne des Erlesenen, d.h. gesammelt in eine Versammlung, die sanfter versammelt und stiller ruft?
Die zweite und dritte Strophe der Dichtung „An einen Frühverstorbenen“ geben unserem Fragen einen Wink (S. 135):

Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab,
Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt
In seine stillere Kindheit und starb;
Und im Garten blieb das silberne Antlitz des Freundes
Lauschend im Laub oder im allen Gestein.

Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches
Und es war das Bauschen des Walds,
Die inbrünstige Klage des Wildes.
Immer klangen von dämmernden Türmen die blauen Glocken des Abends.

Ein Freund lauscht dem Fremdling nach. Also nachlauschend folgt er dem Abgeschiedenen und wird dadurch selbst zum Wanderer, zu einem Fremdling. Die Seele des Freundes lauscht dem Toten nach. Des Freundes Antlitz ist ein „erstorbenes“ (S. 143). Es lauscht, indem es den Tod singt. Darum ist diese singende Stimme „die Vogelstimme des Totengleichen“ („Der Wanderer“ S. 143). Sie entspricht dem Tod des Fremdlings, seinem Untergang zur Bläue der Nacht. Mit dem Tod des Abgeschiedenen aber singt er zugleich die „grüne Verwesung“ jenes Geschlechtes, von dem ihn das dunkle Wandern „schied“.
Singen heißt preisen und das Gepriesene im Gesang hüten. Der nachlauschende Freund ist einer der „preisenden Hirten“ (S. 143). Doch die Seele des Freundes, die „des weißen Magiers Märchen gerne lauscht“, kann nur dann dem Abgeschiedenen nachsingen, wenn dem Nachfolgenden die Abgeschiedenheit entgegenklingt, wenn der dort tönende Wohllaut läutet, „wenn“, wie es im „Abendlied“ (S. 83) heißt, „dunkler Wohllaut die Seele heimsucht“.
Geschieht es, dann erscheint der Geist des Frühverstorbenen im Glanz der Frühe. Deren geistliche Jahre sind die wahre Zeit des Fremdlings und seines Freundes. In ihrem Glanz wird die vormals schwarze Wolke zur goldenen. Sie gleicht jetzt dem „goldenen Kahn“, als welcher Elis’ Herz am einsamen Himmel schaukelt.
Die letzte Strophe der Dichtung „An einen Frühverstorbenen“ singt (S. 136):

Goldene Wolke und Zeit. In einsamer Kammer
Lädst du öfter den Toten zu Gast,
Wandelst in trautem Gespräch unter Ulmen den grünen Fluß hinab.

Dem heimsuchenden Wohllaut der Schritte des Fremdlings entspricht die Einladung des Freundes zum Gespräch. Dessen Sagen ist das singende Wandern den Fluß hinunter, das Folgen in den Untergang zur Bläue der Nacht, die der Geist des Frühverstorbenen beseelt. In solchem Gespräch schaut der singende Freund den Abgeschiedenen an. Durch sein Anschauen wird er im Gegenblick dem Fremdling zum Bruder. Mit dem Fremdling wandernd gelangt der Bruder zu dem stilleren Aufenthalt in der Frühe. Er kann im „Gesang des Abgeschiedenen“ rufen (S. 177):

O das Wohnen in der beseelten Bläue der Nacht.

Aber indem der nachlauschende Freund den „Gesang des Abgeschiedenen“ singt und so zu dessen Bruder wird, wird der Bruder des Fremdlings durch diesen erst zum Bruder seiner Schwester, „deren mondene Stimme durch die geistliche Nacht tönt“, was die Schlußverse der Dichtung „Geistliche Dämmerung“ (S. 137) sagen.
Die Abgeschiedenheit ist der Ort des Gedichtes, weil der Wohllaut der tönend-leuchtenden Schritte des Fremdlings das dunkle Wandern der ihm Folgenden in das lauschende Singen entflammt. Das dunkle, weil nur erst nachfolgende Wandern lichtet jedoch ihre Seele in die Bläue. Das Wesen der singenden Seele ist dann nur noch ein einziges Vorausschauen in die Bläue der Nacht, die jene stillere Frühe birgt.

Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele.

heißt es in der Dichtung „Kindheit“ (S. 104).
So vollendet sich das Wesen der Abgeschiedenheit. Sie ist erst dann der vollendete Ort des Gedichtes, wenn sie als Versammlung der stilleren Kindheit und als Grab des Fremdlings zugleich jene zu sich versammelt, die dem Frühverstorbenen in den Untergang folgen, indem sie, ihm nachlauschend, den Wohllaut seines Pfades in die Verlautbarung der gesprochenen Sprache bringen und so die Abgeschiedenen werden. Ihr Singen ist das Dichten. Inwiefern? Was heißt Dichten?
Dichten heißt: nachsagen, nämlich den zugesprochenen Wohllaut des Geistes der Abgeschiedenheit. Dichten ist, bevor es ein Sagen im Sinne des Aussprechens wird, seine längste Zeit erst ein Hören. Die Abgeschiedenheit holt das Hören zuvor in ihren Wohllaut ein, damit dieser das Sagen, worin er nachverlautet, durchläute. Die mondene Kühle der heiligen Bläue der geistlichen Nacht durchtönt und durchscheint alles Schauen und Sagen. Dessen Sprache wird so zur nachsagenden, wird: Dichtung. Ihr Gesprochenes hütet das Gedicht als das wesenhaft Ungesprochene. Das ins Hören gerufene Nachsagen wird auf solche Weise „frömmer“, d.h. fügsamer gegenüber dem Zuspruch des Pfades, den der Fremdling aus dem Dunklen der Kindheit in die stillere, hellere Frühe vorausgeht. Darum kann der nachlauschende Dichter zu sich sagen:

Frömmer kennst du den Sinn der dunklen Jahre,
Kühle und Herbst in einsamen Zimmern;
Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.
„Kindheit“ (S. 104).

Die Seele, die den Herbst und die Neige des Jahres singt, versinkt nicht im Verfall. Ihre Frömmigkeit ist von der Flamme des Geistes der Frühe entflammt und darum feurig:

O, die Seele, die leise das Lied des vergilbten Rohrs sang; feurige Frömmigkeit.

sagt die Dichtung „Traum und Umnachtung“ (S. 157). Die hier genannte Umnachtung ist nicht, so wenig wie der Wahnsinn, ein Irrsinn, bloße Verfinsterung des Geistes. Die Nacht, die den singenden Bruder des Fremdlings umnachtet, bleibt die „geistliche Nacht“ jenes Todes, den der Abgeschiedene in die „goldenen Schauer’“ der Frühe gestorben ist. Diesem Toten nachschauend, schaut der lauschende Freund in die Kühle der stilleren Kindheit hinaus. Solches Schauen bleibt indessen ein Scheiden vom längst geborenen Geschlecht, das die stillere Kindheit als den noch aufbehaltenen Anbeginn vergessen und das Ungeborene nie ausgetragen hat. Die Dichtung „Anif“, der Name eines Wasserschlosses in der Nähe von Salzburg, sagt (S. 134):

Groß ist die Schuld des Geborenen. Weh, ihr goldenen Schauer
Des Todes,
Da die Seele kühlere Blüten träumt.

Aber nicht nur das Scheiden vom alten Geschlecht steht im „Weh“ des Schmerzes. Dieses Scheiden ist verborgen geschicklich entschieden zum Abschied, der aus der Abgeschiedenheit zugerufen wird. Das Wandern in ihrer Nacht ist „unendliche Oual“. Dies meint nicht eine endlose Pein. Das Unendliche ist jeder endlichen Beschränkung und Verkümmerung ledig. Die „unendliche Qual“ ist der vollendete, der vollkommene, in der Fülle seines Wesens ankommende Schmerz. Auf der Wanderschaft durch die geistliche Nacht, welches Wandern immer Abschied nimmt von der ungeistlichen, kommt erst die Einfalt des Gegenwendigen, das den Schmerz durchwaltet, ins reine Spiel. Das Sanfte des Geistes ist in das Erjagen des Gottes gerufen, sein Scheues in das Stürmen des Himmels.
In der Dichtung „Die Nacht“ (S. 187) heißt es:

Unendliche Qual,
Daß du Gott erjagtest
Sanfter Geist, Aufseufzend im Wassersturz,
In wogenden Föhren.

Der flammende Fortriß dieses Stürmens und Erjagens reißt „die steile Festung“ nicht nieder; erlegt das Erjagte nicht, sondern läßt es in das Schauen der Anblicke des Himmels erstehen, deren reine Kühle den Gott verhüllt. Das singende Sinnen solchen Wanderns gehört der Stirn eines vom vollendeten Schmerz durchprägten Hauptes. Darum schließt die Dichtung „Die Nacht“ (S. 187) mit den Versen:

Stürmt den Himmel
Ein versteinertes Haupt.

Dem entspricht der Schluß der Dichtung „Das Herz“ (S. 180):

Die steile Festung.
O Herz
Hinüber schimmernd in schneeige Kühle.

Wie denn überhaupt der Dreiklang der drei späten Dichtungen, „Das Herz“, „Das Gewitter“, „Die Nacht“, so verborgen in das Eine und Selbe des Singens der Abgeschiedenheit gestimmt ist, daß die jetzt versuchte Erörterung des Gedichtes sich darin bestärkt findet, die genannten drei Dichtungen ohne eine zureichende Erläuterung im Tönen ihres Gesanges zu lassen.
Die Wanderung in der Abgeschiedenheit, das Schauen der Anblicke des Unsichtbaren und der vollendete Schmerz gehören zusammen. Seinem Riß fügt sich der Geduldige. Dieser allein vermag der Rückkehr in die früheste Frühe des Geschlechtes zu folgen, dessen Schicksal ein altes Stammbuch verwahrt, in das der Dichter unter dem Titel „In ein altes Stammbuch“ (S. 55) die Strophe einschreibt:

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige
Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn
Siehe! es dämmert schon.

In solchem Wohllaut des Sagens bringt der Dichter die leuchtenden Anblicke, in denen sich Gott dem wahnsinnigen Erjagen verbirgt, zum Scheinen.
Darum ist es nur „In den Nachmittag geflüstert“, wenn der Dichter in der so betitelten Dichtung singt (S. 54):

Stirne Gottes Farben träumt,
Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.

Der Dichtende wird erst zum Dichter, insofern er jenem „Wahnsinnigen“ folgt, der in die Frühe hinwegstarb und aus der Abgeschiedenheit durch den Wohllaut seiner Schritte den ihm folgenden Bruder ruft. So blickt das Antlitz des Freundes in das Antlitz des Fremden. Der Glanz dieses „Augenblicks“ rührt das Sagen des Hörenden. Im rührenden Glanz, der aus dem Ort des Gedichtes scheint, wogt jene Woge, die das dichtende Sagen zu seiner Sprache bewegt.
Welcher Art ist demnach die Sprache der Dichtung Trakls? Sie spricht, indem sie jenem Unterwegs entspricht, auf dem der Fremdling vorausgeht. Der Pfad, den er eingeschlagen hat, führt vom alten entarteten Geschlecht weg. Er geleitet hin zum Untergang in die aufbehaltene Frühe des ungeborenen Geschlechtes. Die Sprache des Gedichtes, das seinen Ort in der Abgeschiedenheit hat, entspricht der Heimkehr des ungeborenen Menschengeschlechtes in den ruhigen Anbeginn seines stilleren Wesens.
Die Sprache dieser Dichtung spricht aus dem Übergang. Sein Pfad geht vom Untergang des Verfallenden hinüber zum Untergang in die dämmernde Bläue des Heiligen. Die Sprache des Gedichtes spricht aus der Überfahrt über und durch den nächtigen Weiher der geistlichen Nacht. Diese Sprache singt den Gesang der abgeschiedenen Heimkehr, die aus der Späte der Verwesung in die Frühe des stilleren, noch ungewesenen Anbeginns einkehrt. In dieser Sprache spricht das Unterwegs, durch dessen Scheinen leuchtend-tönend der Wohllaut der geistlichen Jahre des abgeschiedenen Fremdlings erscheint. Der „Gesang des Abgeschiedenen“ singt nach dem Wort der Dichtung „Offenbarung und Untergang“ (S. 194) „die Schönheit eines heimkehrenden Geschlechtes“.
Weil die Sprache dieses Gedichtes aus dem Unterwegs der Abgeschiedenheit spricht, darum spricht sie stets zugleich aus dem, was sie im Abschied verläßt und dem, wohin der Abschied sich bescheidet. Die Sprache des Gedichtes ist wesenhaft mehrdeutig und dies auf ihre eigene Weise. Wir hören nichts vom Sagen der Dichtung, solange wir ihm nur mit irgendeinem stumpfen Sinn eines eindeutigen Meinens begegnen.
Dämmerung und Nacht, Untergang und Tod, Wahnsinn und Wild, Weiher und Gestein, Vogelflug und Kahn, Fremdling und Bruder, Geist und Gott, insgleichen die Worte der Farbe: blau und grün, weiß und schwarz, rot und silbern, golden und dunkel sagen je und je Mehrfältiges.
„Grün“ ist verwesend und erblühend, „weiß“ ist bleich und rein, „schwarz“ ist finster verschließend und dunkel bergend, „rot“ ist purpurn fleischig und rosig sanft. „Silbern“ ist die Blässe des Todes und das Gefunkel der Sterne. „Gold“ ist der Glanz des Wahren und das „gräßliche Lachen des Golds“ (S. 133).
Das jetzt genannte Mehrdeutige ist zunächst nur zweideutig. Aber dieses Zweideutige kommt selber als Ganzes noch einmal auf die eine Seite zu stehen, deren andere aus dein innersten Ort des Gedichtes bestimmt wird.
Die Dichtung spricht aus einer zweideutigen Zweideutigkeit.
Allein dieses Mehrdeutige des dichterischen Sagens flattert nicht ins unbestimmte Vieldeutige auseinander. Der mehrdeutige Ton des Traklschen Gedichtes kommt aus einer Versammlung, d.h. aus einem Einklang, der, für sich gemeint, stets unsäglich bleibt. Das Mehrdeutige dieses dichtenden Sagens ist nicht das Ungenaue des Lässigen, sondern die Strenge des Lassenden, der sich auf die Sorgfalt des „gerechten Anschauens“ eingelassen hat und diesem sich fügt.
Oft können wir dieses in ihm selber durchaus sichere mehrdeutige Sagen, das den Dichtungen Trakls eignet, schwer gegen die Sprache anderer Dichter abgrenzen, deren Vieldeutigkeit aus dem Unbestimmten einer Unsicherheit des poetischen Umhertastens stammt, weil ihr das eigentliche Gedicht und sein Ort fehlen. Die einzigartige Strenge der wesenhaft mehrdeutigen Sprache Trakls ist in einem höheren Sinne so eindeutig, daß sie auch aller technischen Exaktheit des bloß wissenschaftlich-eindeutigen Begriffes unendlich überlegen bleibt.
In der selben Mehrdeutigkeit der Sprache, die aus dem Ort des Traklschen Gedichtes bestimmt ist, sprechen auch die häufigen Worte, die zur biblischen und kirchlichen Vorstellungswelt gehören. Der Übergang vom alten Geschlecht zum Ungeborenen führt durch diesen Bereich und seine Sprache. Ob Trakls Dichtung, inwieweit sie und in welchem Sinne sie christlich spricht, auf welche Art der Dichter „Christ“ war, was hier und überhaupt „christlich“, „Christenheit“, „Christentum“, „Christlichkeit“ meint, dies alles schließt wesentliche Fragen ein. Ihre Erörterung hängt jedoch im Leeren, solange nicht der Ort des Gedichtes bedachtsam ausgemacht ist. Überdies verlangt ihre Erörterung ein Nachdenken, für das weder die Begriffe der metaphysischen noch diejenigen der kirchlichen Theologie zureichen.
Ein Urteil über die Christlichkeit des Traklschen Gedichtes müßte vor allem seine beiden letzten Dichtungen „Klage“ und „Grodek“ bedenken. Es müßte fragen: Warum ruft der Dichter hier, in der äußersten Not seines letzten Sagens, nicht Gott an und Christus, wenn er ein so entschiedener Christ ist? Warum nennt er statt dessen den „schwankenden Schatten der Schwester“ und sie als die „grüßende“? Warum endet das Lied nicht mit dem zuversichtlichen Ausblick auf die christliche Erlösung, sondern mit dem Namen der „ungeborenen Enkel“? Warum erscheint die Schwester auch in der anderen letzten Dichtung „Klage“ (S. 200)? Warum heißt „die Ewigkeit“ hier „die eisige Woge“? Ist das christlich gedacht? Es ist nicht einmal christliche Verzweiflung.
Aber was singt diese „Klage“? Klingt in diesem „Schwester… Sieh…“ nicht die innige Einfalt derer, die bei aller Bedrohung durch den äußersten Entzug des Heilen auf der Wanderung bleiben, dem „goldenen Antlitz des Menschen“ entgegen?
Der strenge Einklang der mehrstimmigen Sprache, aus der Trakls Dichtung spricht, und dies heißt zugleich: schweigt, entspricht der Abgeschiedenheit als dem Ort des Gedichtes. Diesen Ort recht zu beachten, gibt schon zu denken. Kaum wagen wir noch zum Schluß, nach der Ortschaft dieses Ortes zu fragen.

 

III

Die letzte Weisung in die Abgeschiedenheit als den Ort des Gedichtes gab uns beim ersten Schritt seiner Erörterung die vorletzte Strophe des Gedichtes „Herbstseele“ (S. 124). Sie nennt jene Wanderer, die dem Pfad des Fremdlings durch die geistliche Nacht folgen, damit sie in deren „beseelter Bläue wohnen“.

Bald entgleitet Fisch und Wild.
Blaue Seele, dunkles Wandern
Schied uns bald von Lieben, Andern.

Den freien Bereich, der ein Wohnen verspricht und gewährt, nennt unsere Sprache das „Land“. Der Überschritt in das Land des Fremdlings geschieht durch die geistliche Dämmerung hindurch am Abend. Darum sagt der letzte Vers der Strophe:

Abend wechselt Sinn und Bild.

Das Land, in das der Frühverstorbene untergeht, ist das Land dieses Abends. Die Ortschaft des Ortes, der Trakls Gedicht in sich versammelt, ist das verborgene Wesen der Abgeschiedenheit und heißt „Abendland“. Dieses Abendland ist älter, nämlich früher und darum versprechender als das platonisch-christliche und gar als das europäisch vorgestellte. Denn die Abgeschiedenheit ist „Anbeginn“ eines steigenden Weltjahres, nicht Abgrund des Verfalls.
Das in der Abgeschiedenheit verborgene Abendland geht nicht unter, sondern bleibt, indem es auf seine Bewohner wartet als das Land des Untergangs in die geistliche Nacht. Das Land des Untergangs ist der Übergang in den Anfang der in ihm verborgenen Frühe.
Dürfen wir noch, falls wir dies bedenken, von Zufall reden, wenn zwei unter Trakls Dichtungen eigens das Abendland nennen? Die eine ist „Abendland“ überschrieben (S. 171ff.). Die andere heißt: „Abendländisches Lied“ (S. 139f.). Es singt das Selbe wie der „Gesang des Abgeschiedenen“. Das Lied hebt an mit dem staunend sich neigenden Ruf:

O der Seele nächtlicher Flügelschlag:

Der Vers endet mit einem Doppelpunkt, der alles ihm Folgende einschließt bis zum Übergang aus dem Untergang in den Aufgang. An dieser Stelle der Dichtung, vor ihren beiden Schlußversen, steht ein zweiter Doppelpunkt. Ihm folgt das einfache Wort: „Ein Geschlecht“. Das „Ein“ ist betont. Es ist, soweit ich sehe, das einzige gesperrt geschriebene Wort in den Dichtungen Trakls. Dieses betonte „Ein Geschlecht“ birgt den Grundton, aus dem das Gedicht dieses Dichters das Geheimnis schweigt. Die Einheit des einen Geschlechtes entquillt dem Schlag, der aus der Abgeschiedenheit her, aus der in ihr waltenden stilleren Stille, aus ihren „Sagen des Waldes“, aus ihrem „Maß und Gesetz“ durch „die mondenen Pfade der Abgeschiedenen“ die Zwietracht der Geschlechter einfältig in die sanftere Zwiefalt versammelt.
Das „Ein“ im Wort „Ein Geschlecht“ meint nicht „eins“ statt „zwei“. Das „ein“ bedeutet auch nicht das Einerlei einer faden Gleichheit. Das Wort „Ein Geschlecht“ nennt hier überhaupt keinen biologischen Tatbestand, weder die „Eingeschlechtlichkeit“, noch die „Gleichgeschlechtlichkeit“. In dem betonten „Ein Geschlecht“ verbirgt sich jenes Einende, das aus der versammelnden Bläue der geistlichen Nacht einigt. Das Wort spricht aus dem Lied, worin das Land des Abends gesungen wird. Demgemäß behält hier das Wort „Geschlecht“ seine volle bereits genannte mehrfältige Bedeutung. Es nennt einmal das geschichtliche Geschlecht des Menschen, die Menschheit, im Unterschied zum übrigen Lebendigen (Pflanze und.Tier). Das Wort „Geschlecht“ nennt sodann die Geschlechter, Stämme, Sippen, Familien dieses Menschengeschlechtes. Das Wort „Geschlecht“ nennt zugleich überall die Zwiefalt der Geschlechter.
Der Schlag, der sie in die Einfalt des „E i n e n  Geschlechts“ prägt und so die Sippen des Menschengeschlechtes und damit dieses selbst in das Sanfte der stilleren Kindheit zurückbringt, schlägt, indem er die Seele den Weg in den „blauen Frühling“ einschlagen läßt. Ihn singt die Seele, indem sie ihn schweigt. Die Dichtung „Im Dunkel“ beginnt mit dem Vers:

Es schweigt die Seele den blauen Frühling.

Das Zeitwort „schweigen“ ist hier in der transitiven Bedeutung gesagt. Trakls Dichtung singt das Land des Abends. Sie ist ein einziges Rufen nach dem Ereignis des rechten Schlages, der die Flamme des Geistes ins Sanfte spricht. Im „Kaspar Hauser Lied“ (S. 115) heißt es:

Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Das „sprach“‘ ist hier in der selben transitiven Bedeutung gebraucht wie das vorhin genannte „schweigt“ und das „blutet“ in der Dichtung „An den Knaben Elis“ (S. 97) und das „rauscht“ im letzten Vers der Dichtung „Am Mönchsberg“ (S. 113).
Gottes Sprechen ist das Zusprechen, das dem Menschen ein stilleres Wesen zuweist und ihn durch solchen Zuspruch in die Entsprechung ruft, zu der er aus dem eigentlichen Untergang in die Frühe aufersteht. Das „Abendland“ birgt den Aufgang der Frühe des „E i n e n  Geschlechtes“.
Wie kurz denken wir, wenn wir meinen, der Sänger des „Abendländischen Liedes“ sei der Dichter des Verfalls. Wie halb und stumpf hören wir, wenn wir die andere Dichtung Trakls, die „Abendland“ (S. 171ff.) heißt, nur immer nach ihrem letzten, dem dritten Stück anführen und das Mittelstück dieses Triptychons samt dessen Vorbereitung im ersten Stück hartnäckig überhören. Wieder erscheint in der Dichtung „Abendland“ die Elisgestalt, während „Helian“ und „Sebastian im Traum“ in den spätesten Dichtungen nicht mehr genannt sind. Die Schritte des Fremdlings tönen. Sie sind aus dem „leisen Geist“ der uralten Legende des Waldes gestimmt. Im Mittelstück dieser Dichtung ist das Schlußstück schon verwunden, worin die „großen Städte“ genannt sind, „steinern aufgebaut / in der Ebene!“ Sie haben schon ihr Schicksal. Es ist ein anderes als jenes, das am „grünenden Hügel“ gesprochen wird, wo „Frühlingsgewitter ertönt“, am Hügel, dem ein „gerechtes Maß“ eignet (134), und der auch der „Abendhügel“ (150) heißt. Man hat von Trakls „innerster Geschichtslosigkeit“ gesprochen. Was heißt in diesem Urteil „Geschichte“? Meint der Name nur die „Historie“, d.h. das Vorstellen von Vergangenem, dann ist Trakl geschichtslos. Sein Dichten bedarf nicht der historischen „Gegenstände“. Und warum nicht? Weil sein Gedicht im höchsten Sinne geschichtlich ist. Seine Dichtung singt das Geschick des Schlages, der das Menschengeschlecht in sein noch vorbehaltenes Wesen verschlägt, d.h. rettet.
Trakls Dichtung singt den Gesang der Seele, die, „ein Fremdes auf Erden“, erst die Erde als die stillere Heimat des heimkehrenden Geschlechtes erwandert.
Verträumte Romantik abseits der technisch-wirtschaftlichen Welt des modernen Massendaseins? Oder – das klare Wissen des „Wahnsinnigen“, der Anderes sieht und sinnt als die Berichterstatter des Aktuellen, die sich in der Historie des Gegenwärtigen erschöpfen, dessen vorgerechnete Zukunft je nur die Verlängerung des Aktuellen ist, eine Zukunft, die ohne Ankunft eines Geschickes bleibt, das den Menschen erst im Anbeginn seines Wesens angeht?
Die Seele, „ein Fremdes“, sieht der Dichter auf einen Pfad geschickt, der nicht in den Verfall führt, wohl dagegen in den Untergang. Dieser beugt und fügt sich dem gewaltigen Sterben, das der in der Frühe Verstorbene vorstirbt. Ihm stirbt der Bruder als der singende nach. Ersterbend übernachtet der Freund, dem Fremdling folgend, die geistliche Nacht der Jahre der Abgeschiedenheit. Sein Singen ist der „Gesang einer gefangenen Amsel“. So nennt der Dichter eine L. v. Ficker gewidmete Dichtung. Die Amsel ist jener Vogel, der Elis in den Untergang rief. Die gefangene Amsel ist die Vogelstimme des Totengleichen. Sie ist gefangen in der Einsamkeit der goldenen Schritte, die der Fahrt des goldenen Kahns entsprechen, auf dem Elis’ Herz den Sternenweiher der blauen Nacht durchwandert und so der Seele die Bahn ihres Wesens zeigt.

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

Die Seele wandert auf das Land des Abends zu, das vom Geist der Abgeschiedenheit durchwaltet und, ihm gemäß, „geistlich“ ist.
Alle Formeln sind gefährlich. Sie zwingen das Gesagte in die Äußerlichkeit des raschen Meinens und verderben leicht das Nachdenken. Aber sie können auch eine Hilfe sein, Anstoß wenigstens und ein Anhalt für die ausdauernde Besinnung. Unter diesem Vorbehalt dürfen wir formelhaft sagen:
Eine Erörterung seines Gedichtes zeigt uns Georg Trakl als den Dichter des noch verborgenen Abend-Landes.

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.

Der Satz steht in der Dichtung „Frühling der Seele“ (S. 149f.). Der Vers, der zu den letzten Strophen überleitet, in die der Satz gehört, lautet:

Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.

Dann folgt der Anstieg des Gesanges in den reinen Widerhall des Wohllauts der geistlichen Jahre, die der Fremdling durchwandert, denen der Bruder folgt, der im Lande des Abends zu wohnen beginnt: 

Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische.
Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne;
Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden. Geistlich dämmert
Bläue über dem verhauenen Wald und es läutet
Lange eine dunkle Glocke im Dorf; friedlich Geleit.
Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.

Leise tönen die Wasser im sinkenden Nachmittag
Und es grünet dunkler die Wildnis am Ufer, Freude im rosigen Wind;
Der sanfte Gesang des Bruders am Abendhügel.

Martin Heidegger, aus Merkur, Heft 61, März 1953

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00