Michael Braun und Hans Thill (Hrsg.): Aus Mangel an Beweisen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Braun und Hans Thill (Hrsg.): Aus Mangel an Beweisen

Braun und Thill (Hrsg.)-Aus Mangel an Beweisen

GESÖFF

Der Lungenfisch spricht aus der Tiefe
Zuwendung und Anregung bilden das Leben
Wenn man die Kindlein wirklich kommen lassen
aaaaakönnte
Würde bei Ausfall der Elektrizität und im Internet
Keine brennende Meute sich bilden und plündern

Wir haben einander nicht oft viel zu sagen
Und manchmal sehr viel doch das handelt von Liebe
Sonst handelt es nur vom Abteilungsleiter und seiner Gier
Und von anderen Angebern die uns entsetzen
Da legten wir aber längst auf an den Muscheln

Gott helfe ihnen balde sonst drohet uns die Halde
Anstatt einander zuzuwenden wenden sie sich ab
Und starren beharrlich ins Nichts
Wo sie Goethe vermuten und Nietzsche
Und eigentlich nur ihre eigene Blödheit auf Dauer

Der Lungenfisch spricht aus der Tiefe
Aus der er nicht wieder zurückkehrt
Im nächsten Jahrtausend
Der Mann der die Bücher gerettet hat wurde verjagt
Und die Frau die den Mann begriff wurde gesteinigt

So geht die Welt in sternförmigen Kreisen
Und einer Gesinnung der nichts Substantielles erwächst
Was tun wir denn da holde Zweiflerin
Auch ich kann das im Grunde nur noch stottern
Doch sehe ich bei Tag und Nacht wie uns die Knochen

Schlottern.

Ulrich Zieger

 

 

 

Die sogenannten Toten

Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter.
Friedrich Gottlieb Klopstock.

Das Wortlose ist im (guten) Gedicht, mitten in der schönsten Wortmusik ist es zu finden. Eine erstaunlich demütige Erkenntnis vom Großmeister lyrischer Beredsamkeit: Vor dem Hintergrund des Ausbleibens der Wörter entsteht der Text. Er führt sein Risiko mit sich. All die schönen Zeilen der klassischen Verskunst, all die feierlichen Oden und Dithyramben sind der Wortlosigkeit abgerungen, die sich zeigt, nicht einmal mahnend, sondern sogar neugierig umherwandelt, oder im Unsichtbaren weiter den Text als Agierendes begleitet wie die Götter der Antike die besungene Schlacht. Wohlgemerkt: Götter – nicht Dämonen. Sie, die auf der Seite des Schöpferischen stehen und zuschauen, wenn der Mensch kämpft und sich abmüht – und mitunter auch eingreifen. Das Risiko des Textes ist wie sie. Und, genauer betrachtet, besteht es nicht im Scheitern, seinem vielleicht formalen Mißlingen, sondern in der Sprachhemmung, der Aphasie. Es geht hier nicht um Schweigen, sondern um das nicht Sprechen können: Wortlosigkeit.
So sehr uns diese Erkenntnis überrascht, dargestellt anhand eines Bildes, das uns fasziniert und schockiert, sosehr überrascht uns ihr Autor, der hier eine Wahrheit aus dem Ärmel seines Rocks schüttelt, die wir für ein Ergebnis moderner Sprachskepsis gehalten haben.
Aber da ist noch etwas anderes, was uns an dem kurzen Notat beschäftigt. Die Schlacht als Metapher, als Ort, der uns so vertraut sein soll, daß er ein Wissen um eine poetologische Tatsache bildhaft werden lassen kann, als hätten wir es hier nicht mit einem Geständnis zutun, sondern schlicht und einfach mit einer Einsicht. Klar, man kennt seinen Homer, überdies handelt es sich hier um eine literarische Schlacht mit mythologischer Ausstattung. Das Inkognito der Unsterblichen, die durch ihre Parteinahme den Wettkampf der Helden und Recken verfälschen, ein Hinweis darauf, dass es im Krieg noch nie mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber sehr konkret erscheint uns plötzlich wieder das Denken des Krieges aus einem anderen Grund, mag auch die Schlacht nicht mehr eine der Bronze- sondern eher der Drohnen- und Giftgaszeit sein.
Denn im vergangenen Jahrzehnt kommt der Krieg wieder ins Gedicht, er erscheint als Wiedergänger, der nie wirklich verschwunden war. Wie in Buch IV von Rabelais’ Pantagruel, wo die Reisenden im Nordmeer plötzlich Schreie und Waffenlärm hören. Panurgus, der sich fürchtet, wird vom Steuermann beruhigt: Es handelt sich um den gefrorenen Lärm einer Schlacht, die bei Winteranfang hier stattgefunden hat, jetzt ist er dabei, aufzutauen.
Krieg ist überall und immer auf der Welt, könnte man einwenden. Wieso soll er poetisch wieder aktuell geworden sein? Im diesjährigen heißen Sommer treten mit der zunehmenden Trockenheit in Flüssen und Seen alte Bomben zutage, Blindgänger unterschiedlicher Größe. Verrostetes Alteisen, so gefährlich, daß man ganze Quartiere räumen muß, bevor man sie entschärft. Sie erscheinen als symbolischer Müll, materielle Relikte des letzten Weltkriegs, angezettelt aus provinziellem Egoismus und engstirnigem Größenwahn. In der Politik kommen aber in diesem Jahrzehnt wieder die alten Parolen zu Gehör, werden die schlaffen Fahnen von Ehedem vorgezeigt. Ein gefrorenes Getöse taut auf, die Wasserspiegel sinken, steigen.
Die „sogenannten Toten“ (Miodrag Pavlović). Im Moment, da sie gehen, erinnert man sich auch daran, daß sie in einen Ungeist hineingeboren wurden, der sich jetzt wieder laut zu Wort meldet. Eine Generation, geprägt von Krieg und Verfolgung. Ilse Aichinger, noch in späten Lebensjahren schreibt sie die aufsässigen „Subtexte“. Elisabeth Borchers, 1960 berühmt geworden mit dem Gedicht „eia wasser regnet schlaf“. Zahlreiche Freunde sind unter den Toten zu beklagen. Arnfrid Astel, der für eine Zeit den Namen seines aus dem Leben geschiedenen Sohnes Hans auf sich nahm wie er den ehern-völkischen Namen getragen hat, den ihm sein Vater gab. Der unermüdliche, kämpferische Günter Herburger. Gregor Laschen, Hans Bender, Kito Lorenc, Rolf Haufs, Ludwig Harig aus der Edenkobener Gelehrtenrepublik, allesamt Kriegskinder. Walter Helmut Fritz, in Heidelberg bestattet.
Das Gespräch mit den Toten. Was soll man mit ihnen reden? Man hat sie zu Lebzeiten kaum gekannt, für den Augenblick weiß man nichts mehr über sie. Vielleicht führt man mit ihnen ein Selbstgespräch, nimmt sie mit als unsichtbare Begleiter.
Dieses fast schon verstrichene Jahrzehnt, wie wird man es nennen?
Wie im vorhergehenden gibt es keine akzeptable Ordnungszahl. Willkommen die Zwanziger Jahre.

Hans Thill, Nachwort

Das Radikalste und das Konservativste

– Sechs Vignetten zum Gedicht im 21. Jahrhundert. –

1

Lyrik-Anthologien sind sehr vergängliche Gebilde. Wer mit der Ambition antritt, einen historischen Leitfaden nach den Musterstücken des „Charakteristischen“ anzulegen oder gar den „Ewigen Vorrat deutscher Poesie“ zu kanonisieren, wie das einst Rudolf Borchardt tat, würde heute eine Bruchlandung erleben. „Die Weltsprache der Poesie ist in zahllose Dialekte zerfallen, die Dichtung immer heterogener, mannigfaltiger und regionaler geworden.“ Der Befund, den Hans Magnus Enzensberger 1979 im Rückblick auf sein gewaltiges Unternehmen Museum der modernen Poesie formulierte, darf heute, im Blick auf die ersten beiden Lyrik-Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, getrost bekräftigt werden. Ärmer geworden um so manche Prätention, kann sich das Gedicht auf die sinnlichen Einzelheiten und die Mühen der Ebene konzentrieren, auf das sprechende Detail, auf die epiphanische Wörter-Entzündung, auf die spektakuläre Kombinatorik verbaler Reize, auf die Wahrnehmungserschütterung durch die digitalen Datenströme, auf den einmaligen wie flüchtigen Augenblick. Die Absicht der vorliegenden Anthologie ist es nicht, ein „Compendium aller gerechten Vollständigkeit“ anzulegen, in dem „jeder gebuchte Name einen Schatten von Recht bekommt“, wie schon Borchardt spottete, sondern eine ebenso vorläufige wie irrtumsanfällige Bestandsaufnahme der lyrischen Schreibweisen im noch jungen 21. Jahrhundert zu erstellen.
Unser Vorbild bei der Gliederung der Gedichte ist, wie in den Vorgänger-Anthologien Punktzeit (1987), Das verlorene Alphabet (1998) und Lied aus reinem Nichts (2010), Walter Höllerers geniale Lyrik-Sammlung Transit, das 1956 publizierte „Lyrikbuch der Jahrhundertmitte“.
Höllerer hatte darin die für ihn ideale Form für moderne Poesie vorgeführt: nämlich „da zu sein als Mosaik vieler Felder, in dem jeder Teil zu dem anderen in bewegliche, er-finderische Nachbarschaft treten kann“, Dabei hatte er im Textteil von Transit die Autorennamen einfach weggelassen und den Leser gleichsam mit poésie pure konfrontiert. Erst im Autorenverzeichnis wurden für die neugierigen „Transit“-Leser die Namen wieder den Gedichten zugeordnet. In unserer Anthologie Aus Mangel an Beweisen werden gemäß dieser Tradition keine literarischen „Schulen“ gegeneinander in Stellung gebracht oder die „Generationen“ in Stellungskämpfe verwickelt – etwa die „Jungen“ gegen die „Altvorderen“. Es interessieren nur die einzelnen Gedichte – in ihren korrespondierenden Motiven und intertextuellen Referenzen, die sie mit anderen Gedichten verbinden.

2
In den Lyrik-Debatten seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind einige liebgewonnene Gewissheiten und Übereinkünfte aufgekündigt worden. Es gibt keine verlässlichen Ordnungssysteme mehr, keine trennscharfen Unterscheidungen zwischen „traditionellem“ und „experimentellem“ Schreiben, zwischen „Traditionalismus“ und „Avantgarde“ – und schon gar keine dezisionistischen Trennungen zwischen „Freund“ und „Feind“. Ist das Zeitalter der Ironie abgelaufen und gewinnt das „Pathos“ wieder literarische Legitimität? „Gibt es eine Pathosangst in der modernen Dichtung?“, fragte bei einem Symposion im Jahr 2017 der Dichter Volker Sielaff. Und welche Bildtechniken sind möglich, um das moderne Gedicht mit imaginativen und semantischen Energien aufzuladen? Und inwiefern können alte Suggestionstechniken der Dichtung wie der Reim, die Repetition, die Litanei, der Jubelgesang auch heute noch poetische Energien entbinden oder verstärken? Sind die poetische Überschreibung und Übermalung die heute zentralen Arbeitstechniken, um sich die epochalen Texte der Tradition anzueignen?
Fragen über Fragen, auf die unsere Anthologie einige vorläufige Antworten liefern will.

3
Der Dichter Oskar Loerke (1884–1941) war ein Konservativer, der in seinen Gedichten die schöne Ordnung der Dinge bewahren wollte. Aber ist nicht jeder Autor, der seine Aufgabe ernst nimmt und sich auf die sorgsame Arbeit an seinem Material verpflichtet, ein Konservativer? Loerke hat für diesen Zusammenhang eine großartige Formulierung gefunden, die er 1912 in seinem Essay „Das alte Wagnis des Gedichts“ niedergeschrieben hat, als sich seine Generationskollegen noch in taubem Expressionisten-Pathos für den „neuen Menschen“ verzehrten. „Das Radikalste und Konservativste“, so Loerke, „bilden in der Kunst keinen Gegensatz, ja, wenn man Lust hat, ein Paradox gelten zu lassen, so sind sie dasselbe.“
Unsere Anthologie konfrontiert „das Radikalste und das Konservativste“ – und zeigt die Differenzen zwischen den experimentell und sprachschöpferisch Wagemutigen auf der einen, und die formstreng arbeitenden Traditionalisten auf der anderen Seite.
Aber sie hierarchisiert nicht.

4
Gegen die Disharmonien in der Lebenswelt helfen keine festen Versfüße. Werden sie dennoch gewaltsam in die Gedichte implantiert, erweckt das rasch den Eindruck einer ästhetischen Regression. Aber die alten Formen und Reimstrophen haben ihre Reize bewahrt. Auch in dieser Anthologie. Das zeigen die ansonsten so unterschiedlichen Gedichte von Franz Josef Czernin, Jan Wagner oder Kornelia Koepsell. In seinem Essay „Vom Reimen“ hat Loerke mit gutem Recht den Reim als „etwas Geselliges“ beschrieben:

Er gesellte Laute, Dinge, Leiden, Glückseligkeiten, ganze Seelen und Herzen, oft von weit her.

5
„Was Gedichte sind“, schreibt Brigitte Oleschinski in ihrem fantastischen Essay in dieser Anthologie, „entdeckt das eigensinnige Dichten mit jedem einzelnen Gedicht neu. Hinter ihm, ihm voraus, rundum kann es sich berufen auf die anthropologischen Inventare, die zu allen Zeiten, in allen Sprachen, an allen Orten der Welt in der Poesie eine besondere Form des Sprechens entwickelt haben.“
Das eigensinnige Dichten wird auch von einem polemischen Temperament wie Gerhard Falkner in herausfordernder Weise kultiviert. Wie das zeitgenössische Gedicht aus dem digitalen Würgegriff zwischen Scylla (Facebook) und Charybdis (Twitter) entkommen könnte, hat er in einem fulminanten „Bekennerschreiben“ formuliert, mit dem er das Naturgedicht auf neue Erkenntnisfundamente stellen will. Das Pamphlet beginnt mit einer Attacke auf die heutigen Naturdichter im informationstechnischen Zeitalter, die „nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden“. Das moderne Dichtersubjekt, so Falkner, starrt in jeder freien Minute unentwegt auf ein Handy oder ein anderes Display. Und so entsteht eine Situation eklatanter Naturblindheit:

Wenn man heute einen dieser Ureinwohner der Jetztzeit in die nennen wir sie mal ,freie Natur‘ verschleppt, so fällt auf, er sieht nichts, er hört nichts, er weiß nichts, er beachtet und betrachtet nichts.

Dagegen setzt Falkner sein Konzept einer „Geistesgegenwart erregter Sprache“, die mit ihren kühnen Konstruktionen einen Blick auf die Existenz von Mensch und Natur ermöglicht.

Gedichte sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen.

6
„Das Gedicht ging ins Ungewisse“, hat Peter Waterhouse 1989 in seinem Gedicht-Roman Sprache Tod Nacht Aussen geschrieben, und er bezog sich dabei auf die berühmte Formel von John Keats, dass den Dichter eine „negative capability“ auszeichne, sich nämlich in der Unsicherheit und Ungewissheit zu bewegen, mit einem nicht-identifizierenden Sprechen, das sich im Modus des Übergangs befindet:

Alles im Gedicht war Übergang. Nichts im Gedicht war bei sich. (…). Das Gedicht ging vom Übergang zum Übergang in kein Endgültiges.

Das Gedicht geht also in die Ungewissheit, es liefert keine Beweise, es spricht im Modus einer radikalen Subjektivität und „aus Mangel an Beweisen“.
In diesem Sinne legen Hans Thill und ich unsere vierte, gemeinsame Anthologie vor, in der Texte von insgesamt 180 Autorinnen und Autoren versammelt sind.
Wie es sich mit der „zeitgenössischen Berufsgruppe Dichten“ verhält, wie sich das Gedicht in seiner „imaginären Allpräsenz“ am „Zweihimmel“ von Original und Übersetzung situiert, erkunden in einem eigenen Kapitel die poetologischen Beiträge von Yevgeniy Breyger, Franz Josef Czernin, Dagmara Kraus, Brigitte Oleschinski und Uljana Wolf, die exklusiv für diese Anthologie geschrieben worden sind. Das letzte Kapitel der Anthologie ist als poetisches Memorial angelegt. Es präsentiert Gedichte und Erinnerungsblätter von Dichterinnen und Dichtern, die in den vergangenen zehn Jahren gestorben sind.

Michael Braun, Juni 2018, Nachwort

 

Über dieses Buch

In seiner epochalen Gedichtsammlung Transit hatte Walter Höllerer 1956 die ideale Form einer zeitgenössischen Lyrik-Anthologie geschaffen. Er entwickelte sie als ein „Mosaik vieler Felder, in dem jeder Teil zu dem anderen in bewegliche, erfinderische Nachbarschaft treten kann.“
Auf dieses Verfahren der korrespondierenden Motive und intertextuellen Referenzen greift auch die von Michael Braun und Hans Thill komponierte Lyrik-Anthologie Aus Mangel an Beweisen zurück, die mit Texten von rund 100 Autorinnen und Autoren einen Kanon der deutschsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts vorlegt. Um die Aggregatzustände der gegenwärtigen Lyrik einzufangen, folgt sie einer bewährten Maxime:

Gedichte sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen. (G. Falkner)

Eine Bestandsaufnahme des lyrischen Jahrzehnts – einzigartig in der literarischen Landschaft Europas. Seit nunmehr 40 Jahren begleitet das Tandem Michael Braun und Hans Thill die Szene der zeitgenössischen Poesie in Deutschland. Aus Mangel an Beweisen erweist sich erneut als ein faszinierendes Spiegelbild der formenreichen poetischen Landschaft Deutschlands. Und mit poetologischen Essays von Yevgeniy Breyger, Franz Josef Czernin, Dagmara Kraus, Brigitte Oleschinski und Uljana Wolf.

Wunderhorn Verlag, Ankündigung

 

Wie kann man Poesie zur Lebensform machen?

– Was bleibt vom deutschsprachigen Gedichtboom? Zwei wichtige Anthologien der letzten zwei Jahrzehnte und der neue Band von Jan Wagner bieten ausreichend Stoff für lyrische Bewusstseinserweiterung. –

Vielleicht so:

muskat: vor einnahme gesamtnuss bring deine lyrik zum
abschluss.

Der Dichter Ulf Stolterfoht geht die Frage nach dem Geheimnis der Inspiration gleich denkbar direkt an. Sein Gedicht über ein leicht unterschätztes Gewürz zitiert von ferne Spitzwegs Klischeebild vom armen Poeten, der sich noch nicht einmal ordentliche halluzinogene Drogen leisten kann und auf Hausmittel zurückgreifen muss.

amphetaminartig putschend
leicht bewusstseinsverändernd und vergleichsweise billig – da blieb man für tage am tisch.

Hinterher freilich das böse Erwachen aus dem Genietraum:

oft ließ das scheinbar mühe-
los erreichte niveau den schaffer sprachlos zurück: er verstand
die eigene lyrik nicht. sie schien ihm schwierig und überkomplex.

Stolterfoht schreibt nicht von den Nullerjahren, sondern von einer lokalen Lyrikszene in der schwäbischen Provinz Ende der Siebziger, dessen Archäologe er in dem Band holzrauch über hesslach geworden ist. Dennoch liegt in seiner historischen Beschreibung auch eine Provokation.  Liest man die Gedichte, die Eingang in zwei neue Anthologien deutschsprachiger Gegenwartslyrik gefunden haben, einmal unbefangen und ohne die poetologischen Begleitreden, dann kann sich der alte Hippiegedanke an Bewusstseinserweiterung schon aufdrängen. „Es gibt kein Halten mehr. Die Wolken / finden keinen Himmel. Das Cockpit ist verklebt / mit Schmetterlingen, innen, auch / ich bin Toter Admiral zu manchen Zeiten. / Im Charaktersimulator durchkalbte mich etwas großes Glaziales“, heißt es bei Ron Winkler. „am abend dehnte sich das haus / durch die gardinen / langsam aus“, beginnt Lutz Seilers „myliusstraße“. Thomas Kling besingt den „Mohnkuchen“:

die zunahme an kapseln, während
das nachtgestirn losbrettert prall.
kapseleinnahme, und die kopfsichel
sirrt

Hesslach ist überall.
Traum und Rausch, die als befreiend oder auch bedrohlich erlebte Trennung von Körper und Geist, der Trip durch virtuelle oder erinnerte Welten – das sind naheliegende „reale“ Substrate der Sprachbewegungen, die die Lyrik immer wieder vorführt. Dabei ist es oft eher umgekehrt: die Gedichte wollen oft keine tatsächliche Erfahrung abbilden, sondern ihre Sprache selbst ist das Ereignis: weniger Surrealismus als DADA. 
Elke Erb, neben dem früh verstorbenen Spracharchäologen Kling und der unermüdlich als Vorhut marschierenden Friederike Mayröcker eine der großen Inspiratorinnen der jüngeren Generation, führt das immer wieder vor, etwa in „Die wirkliche Möglichkeit“:

Ein und derselbe Text (obwohl viel derart)
Die immer gleichen Bewegungen.
Und Regungen wecken
zu immer den gleichen Bewegungen.

Zum Frühling sagen: ‚der Frühling‘, zur Luft ‚Luft‘.

In einem anderen Gedicht „Übung“ fragt sie:

Windig.
Wie komme ich dazu, aus etwas (etwas ‚Gegebenem‘, wie man sagt, immer noch) Worte zu machen?
Windig. Und kühl.

Gerhard Falkner, noch so ein einflussreicher Vordichter und -denker, beginnt in typischer Brechung des klassischen Poetenduktus so:

Sei mir gegrüßt, mein Hymnus, mein Wortschatz, mein Spandau
seid mir gegrüßt, ihr Hügel zwischen den Zeilen

Solche Dichtung ist immer Grundlagenforschung, und darin durchaus der Philosophie verwandt. Steffen Popp, Herausgeber der Anthologie Spitzen und selbst einer der wichtigen Lyriker seit der Jahrtausendwende, spricht von „poetischem Denken“, das er als eigenen, ganz spezifischen Modus der Erkenntnis konzipiert. Der Leser freilich muss diesen Reflexionsvorgang nachvollziehen: Gedichte lesen bedeute, „den Gang ins sprachlich – und das heißt ja gedanklich – Unbefestigte lesend zu wiederholen“. 
So zitiert ihn Christian Metz, der mit Poetisch Denken gerade eine bahnbrechende Studie zur Lyrik der Gegenwart veröffentlicht hat. Metz widmet sich darin neben Popp vor allem Monika Rinck, Ann Cotten und Jan Wagner, aber vor allem seine Einleitung ist überhaupt eine erhellende Begleitlektüre für die beiden neuen Überblicksbände.
Die zweite große Sammlung Aus Mangel an Beweisen, herausgegeben von Michael Braun und Hans Thill legt schon im Titel den Akzent auf die Gegenüberstellung von wissenschaftlich-rationalem und poetisch-intuitivem Weltzugang. Mit solchen Kategorien erfasst man sicher einen großen Teil gegenwärtiger Spitzenproduktion, etwa die grandiosen Montagen eines Daniel Falb, der die Sprachspiele von Politik, Technik und Soziologie miteinander verschaltet. Doch thematisch ist die neue Lyrik kaum auf einen oder auch nur mehrere Nenner zu bringen: Eine selbstreflexive, die mediale Distanz einkalkulierende Naturlyrik steht neben konsum- und kapitalismuskritischen Tönen (etwa bei Volker Braun) oder dem postmodernen Zugriff auf Historisches bei Jan Wagner.
Es wäre unfair, die beiden Anthologien zu vergleichen. Braun und Thill versuchen eine repräsentative Bestandsaufnahme. Einerseits ist praktisch jeder vertreten, der seit 2008 einen Band veröffentlicht hat, andererseits reicht die Auswahl viel weiter zurück, indem etwa mit Sarah Kirsch, Hans Bender, Elisabeth Borchers oder Jürgen Theobaldy Autoren vertreten sind, die literaturhistorisch in ganz andere Kontexte gehören – und wohl kaum noch Orientierungspunkt für Jüngere sind. 
Popp hingegen bekennt sich offensiv zur Subjektivität seiner Auswahl, der Untertitel lautet „Gedichte. Fanbook. Hall of Fame“. Monika Rinck etwa ist mit gleich 11 Gedichten dabei, Elke Erb mit 10, Ann Cotten mit 8, Falkner mit 7; andere (in der Szene) große Namen müssen sich mit einem oder zwei begnügen oder werden vom selbstbewussten Kollegen gleich ganz ignoriert. Das wird nicht nur in Hesslach für Unmut sorgen. Das auffälligste Defizit beider Sammlungen ist aber das völlige Fehlen des humoristischen Gedichts etwa der Neuen Frankfurter Schule: Weder Robert Gernhardt noch F.W. Bernstein noch Thomas Gsella sind vertreten, womit eine unselige deutsche Hochkulturtradition fortgesetzt wird.
Interessanter als alle Abzählereien aber ist Popps Zugriff, der sich eben doch auch poetologischen Kriterien verdankt. Von Texten, die „poetologisches Sprechen“ lediglich „in Dienst nehmen“ hält er nichts. Das richtet sich einerseits gegen eine bloß äußerliche Bedichtung von Gegenständen, Gefühlen, Orten, also etwa das äußerst beliebte lyrische Souvenir von Stipendienaufenthalten (gern in Rom, gern in L.A.). Aber auch gegen das selbstbezügliche Spiel mit Formen. Wagner und Durs Grünbein, der alle überragende Dichter noch der Neunzigerjahre, dürfen sich gemeint fühlen (obwohl sie natürlich mit ein paar Gedichten vertreten sind).
Dabei ist die Qualität von Wagner unbestritten, wie man gerade in seinem neuen Band Die Live Butterfly Show nachlesen kann. Abgesehen davon, dass er als Herausgeber der Anthologie Lyrik von JETZT (2003 zusammen mit Björn Kuhligk) zu den Wegbereitern der neuen deutschen Lyrikwelle gehört, wie Metz noch einmal nachzeichnet. Es ist eher so, dass der mit Büchner– und Leipziger Buchpreis geadelte Autor nicht besonders repräsentativ ist für seine Generation. Durch den souveränen Bezug auf Bildungswissen (nicht zuletzt jahrtausendealter Lyrikgeschichte) und die Beschränkung auf konkrete Figuren, Dinge und Episoden wirkt vieles selbstverständlich, ja, harmlos oder banal. Man könnte auch sagen, hier sei zu wenig Muskat im Spiel. Oder Mohnkuchen.
Wenn Wagner im neuen Band mit ironischer Proust-Anspielung den Weißkohl (nicht den Weißdorn) bedichtet, dann klingt das nicht umsonst nach gutbürgerlicher Küche. Man vergleiche Elke Erbs Winde (siehe oben) oder Thomas Kunsts flatterhafte Dinge in seiner großartigen „Nizeser Apathie“:

Nur noch den Falter totmachen über der Tür. Es ist kein Falter. Nur ein Spalt. Nenn es wie du willst. Aber mach es mit Liebe.

Letzterer ist überhaupt ein Paradebeispiel für die in Popps Auswahl verborgener Utopie. In seinem Vorwort beobachtet er eine Lockerung des Tons und die scheinbare Paradoxie, dass die Gedichte „sprachlich zugänglicher werden, aber dafür inhaltlich komplizierter“. Am Horizont erscheint die Auflösung des Gedichts in einen „Hyperessay“, „dessen Gegenstände mit dem ‚Subjektiven‘ seiner Verfasser reagieren und partiell verschmelzen“. 
Das Gedicht wäre dann nur Kondensat einer Haltung und Wahrnehmungsweise; Popp spricht auch von „Poesie als Lebensform“, in durchaus frühromantischer Tonart. Die keineswegs unbescheidene Idee ist, aus der Lektüre verwandelt hervorzugehen und eine Welt zu entdecken, in der Rationalität nur eines von vielen Mitteln zum Zweck ist. „Zur Absicht, nein, hätte ich nicht getaugt“, schreibt Elke Erb. Dieser poetische Bewusstseinszustand ist mit beiden Anthologien gewiss zu erreichen, wenn man sie sich denn als Gesamtbuch einverleibt.

Richard Kämmerlings, Die Welt, 4.12.2018

Aktuelle Dichtkunst

Marcel Beyer, Herta Müller, Hans Magnus Enzensberger, Chris Bezzel und viele mehr – sie alle sind vertreten, die großen und auch die nicht ganz so großen Namen der zeitgenössischen Lyrik. Mit ihrer im Heidelberger Wunderhorn-Verlag erschienenen Anthologie Aus Mangel an Beweisen – Deutsche Lyrik von 2008–2018 lassen die Herausgeber Michael Braun und Hans Thill schließlich auch die Dichterinnen und Dichter zu Wort kommen, deren Namen noch keinen Platz im literaturwissenschaftlichen Kanon gefunden haben. Herausgekommen ist ein umfangreiches Nachschlagewerk mit 180 Autoren, das Literaturkennern und Liebhabern eine Orientierung durch die aktuelle Literaturlandschaft des 21. Jahrhunderts an die Hand gibt.
Wie in ihren vorherigen Anthologien ordnen Thill und Braun auch in ihrer vierten gemeinsamen Publikation die literarischen Zeugnisse Kapiteln und somit Themenkomplexen unter, deren Überschriften von den Werken inspiriert sind. Die Motive reichen von den Träumen und Naturerfahrungen der Schriftsteller über Begegnungen und Selbstbildnisse bis hin zu Lebensvorstellungen und poetologischen Reflexionen. Mit biografischen Angaben in knapper Form geben die Herausgeber einen Überblick über Lebens- und Wirkungsstätten der Autoren und ihrer Publikationen.
Dem literarischen Streifzug hängen Braun und Thill Prosa-Essays an, die sich mit Phänomenen in der modernen Lyrik wie dem „Gossip im Gedicht“, also dem Klatsch und Tratsch, ebenso auseinandersetzen wie mit den Werken selbst. Die insgesamt sieben – mal philosophischen, mal literaturwissenschaftlich angehauchten – Untersuchungen werden stellenweise mit Hinweisen zur Forschungsliteratur abgerundet.
Auch Braun selbst äußert sich mit seinem Essay „Sechs Vignetten zum Gedicht des 21. Jahrhunderts“ zur Konzeption der Sammlung, die keine „literarischen Schulen“ oder „Generationen“ gegeneinander –, sondern vielmehr die „einzelnen Gedichte“ in den Vordergrund stellt. In ihnen bestätigt sich denn auch die innere Struktur dieser Lyrik-Anthologie – sie arbeitet mit Verweisen und Motiven und gewährt damit auch zwischen den Zeilen einen Einblick in die Literatur der vergangenen zehn Jahre.

Gülçin Onat, Mannheimer Morgen, 8.11.2018

Verliebt ins Utopische

– „Der Westen blutet aus tausend Messerstichen“: Drastischer als der Dichter Helmuth Opitz könnte man den Zustand unseres Jahrhunderts kaum beschreiben. Wie reagiert die Gegenwartsdichtung darauf? Die Anthologie Aus Mangel an Beweisen gibt einen Überblick. Herausgegeben haben sie zwei Heidelberger. Kerr-Preisträger Michael Braun, der auch für die RHEINPFALZ schreibt. Und Hans Thill, Dichter und künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Edenkoben.

Obwohl sich die heterogene Szene kaum auf wenige Schlagworte reduzieren lässt, zeichnen sich recht klare Tendenzen ab: Sie ringt mit politischen Zäsuren unserer Zeit, bevor sie uns zu utopischem Denken animiert. Dazu werden noch Natur und das spätmoderne Subjekt gerettet.
Unverkennbar wird bei einem Großteil der Lyriker zunächst der Anspruch, Seismograf für die Erschütterungen der Gesellschaft sein zu wollen. Vor allem die kontroversen Debatten um Migration rufen bei den meisten ein Bekenntnis zum offenen Weltbürgertum hervor. Und da Lyrik sich schon leichtfüßig über grammatische Reglements hinwegsetzt, sprengt sie mit Verve politische Grenzen – besteht doch etwa, wie Barbara Köhler in einem Gedicht zur Flüchtlingskrise sprachspielerisch darlegt, „zwischen fremd und freund“ offenbar nur eine „halbe kehre vom m zum un“. Wer allzu rasch das Verbindende unter den Menschen vergisst, den fordern die Dichter immer wieder dazu auf, sich des Verlaufs der Geschichte zu vergegenwärtigen.
Marion Poschmann hält etwa die im Stillen vergrabenen Toten der Kriege des 20. Jahrhunderts dazu an, sich doch endlich mahnend zu Wort zu melden. Aufrütteln lautet das Gebot der Stunde auch in anderen Feldern: Neben der Konsum- und Kapitalismuskritik finden sich in neueren Texten ebenso die Klagen jüngerer Poetinnen, darunter Nancy Hünger, Lea Schneider oder Silke Scheuermann, über die vermeintliche Antriebs- und Orientierungslosigkeit ihrer Generationen wieder.
Vor allem die Verantwortung für die Umwelt steht im Fokus. Wenn die heutigen Dichter im Zeichen des Anthropozäns, also des aktuellen Erdzeitalters, über Treibhausgase, Ressourcenausbeutung sowie etwa den Verlust der Artenvielfalt, schreiben, dann zeigen sie jenseits des kritischen Potenzials vor allem die produktive Kraft der Poesie auf: Sie vermag das Vergängliche im Augenblick zu bewahren. Ihre Autoren vermitteln uns ein Gespür für all das, was verloren zu gehen droht. Jan Wagner beschwört die Stärke des Bienenstamms, Oswald Egger träumt von Tälern, die von einer märchenhaft-paradiesischen Pflanzenvielfalt zeugen, und Gerhard Falkner lässt unsere DNA mit blühendem Moos verschmelzen. Während in der Realität Zivilisation und Ökosphäre oftmals als Gegenpole gesetzt werden, haben die Dichter diesen Gegensatz längst überwunden. Mensch, Fauna und Flora erweisen sich in ihren Zeugnissen als zunehmend hybrid. Alles ist „untereinander und miteinander vermengt“ (Julia Trompeter). Selten war dabei der Zeilensprung ein so bedeutungstragendes Mittel wie heute: Er sorgt für ein Fließen und Gleiten, rekurriert in der Epoche des Klimawandels wieder auf Idee eines frühromantischen Gleichgewichts.
Die Lyrik der Spätmoderne ergeht sich also nicht ausschließlich in fatalistischen Diagnosen. Vielmehr zielt sie auf Erneuerung. Sie ist – und darin offenbart sie die markanteste Tendenz dieser Tage – verliebt in das Utopische. Es gilt, das Ruder rumzureißen, die Melancholie im Angesicht der Katastrophen als Chance des Aufbruchs zu verstehen. In ihrem Text „Sieben Wünsche“ geht es Ilma Rakusa „um den Machtwechsel / der Verzweiflung Richtung Möglichkeit“. Jürgen Nezda gebraucht sogar den von Robert Musil entlehnten Begriff des „Möglichkeitssinn[s]“. In ihrer Konzentriertheit lässt es die Poesie zu, in nur wenigen Silben neue Denkräume herbeizuzaubern. Die Aufmerksamkeit richtet sich unterdessen allerdings weniger auf Reißbrettentwürfe besserer Gesellschaften wie im utopischen Roman à la Thomas Morus als vielmehr auf Initialzündungen. Die LeserInnen sollen die Offenheit der Gedichte als Appell zum eigenständigen Nachdenken über die Zukunft begreifen. „Gehe in den Garten und finde zur Abstraktion“, lesen wir etwa in einem Poem von Farhad Showghi.
Wer Thills und Brauns faszinierende Zusammenstellung liest, wird spüren, wie Sprache unsere Welt verwandeln kann – zumindest in uns selbst, wo das gute Gedicht seinen Platz findet.

Björn Hayer, Die Rheinpflalz, 29.1.2019

Neue Gedichtbände: Windporzellan und Gummibärs Ende

(…)

Genau das nämlich ist das Prinzip aller guten Anthologien: verschiedenste Gedichte zu versammeln und sie in einen klug komponierten Kontext zu stellen, der dem einzelnen Gedicht Raum lässt, es aber zugleich in ein vielschichtiges Bedeutungs- und Beziehungsgeflecht einbindet.
Diesem Grundsatz folgen Michael Braun und Hans Thill nun schon zum vierten Mal in ihrer gemeinsamen „Bestandsaufnahme“ deutscher Lyrik (wobei genau genommen deutschsprachig gemeint ist): Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008–2018 (Wunderhorn, 2018). Es geht darin nicht um Schulen, Trends oder Generationen, sondern um die einzelnen Gedichte, allerdings eben „in ihren korrespondierenden Motiven und intertextuellen Referenzen, die sie mit anderen Gedichten verbinden“. Radikal steht deshalb hier neben konservativ, Traditionalist neben Avantgardistin, und dass es schon lange keine breiten Strömungen im Fluss der Lyrik mehr gibt, hat vielleicht auch mit dem poetologischen Grundsatz zu tun, den Brigitte Oleschinski so beschreibt:

Was Gedichte sind, entdeckt das eigensinnige Dichten mit jedem einzelnen Gedicht neu.

Die bewegendste Gedichtgruppe in dieser wie immer bei Braun/Thill klug komponierten Anthologie aber ist den Autorinnen und Autoren gewidmet, die in den letzten zehn Jahren gestorben sind. Beim Lesen dieses „Memorials“ wird einem ganz weh ums Lyrikherz ob all der Stimmen, die nunmehr auf immer verstummt sind – von Ilse Aichinger bis Gregor Laschen, von Rolf Haufs bis Sarah Kirsch.

Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 13.4.2019

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jonis Hartmann: Braun / Thill
fixpoetry.com, 14.11.2018

Nicola Bardola: Lyrik-Revue Folge 8
dasgedichtblog.de

Meinolf Reul: Der Braun/Thill, vierte Runde
signaturen-magazin.de

Bernd Leukert: Von der Blütezeit lyrischer Anthologien
faustkultur.de, 21.1.2020

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

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