Michael Braun: Zu Marie T. Martins Gedicht „Brief im April“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie T. Martins Gedicht „Brief im April“ aus Marie T. Martin: Rückruf. 

 

 

 

 

MARIE T. MARTIN

Brief im April

Bekommst du noch Briefe von Toten? Ich schreibe dir
ins Jahr nach deinem Tod, was siehst du ohne Augen?
Hier wachsen Blauschote und Glimmerkraut, später
wird sich enthüllen, welche Sätze wichtig gewesen
wären. Schreibst du noch Briefe, ich schreibe mir
selbst ins Jahr meiner Geburt, ein Rollbild auf
einem Parkplatz die Kalligrafie von Reifen. Wurdest du
älter, sieht dich die fahrende U-Bahn, hält dich der Ahorn
dazwischen? Versprich mir wach zu bleiben, versprich
mir eine Rede an die Seele, in einem Gebinde aus
Weißdorn und Wacholder. Versprich mir aufzuwachen,
versprich mir, dich nie zu verlassen.

 

Als die dänische Weltpoetin Inger Christensen

1978/79 in Paris ihr siebenteiliges Gedicht „Brief im April“ schrieb, hatte sie sich als poetischen Schauplatz den Ort eines „gewaltigen Alleinseins“ ausgedacht. Das lyrische Ich kehrt in ein Haus auf dem Land zurück, es sitzt auf einer Bank, registriert ein alles illuminierendes Licht und eine überwältigende Stille. Und dieses Ich imaginiert, „eingehüllt in das freiste / Atmen der Welt“, Szenen des Geborenwerdens und des Sterbens. An diesen Initialpunkt der Wahrnehmung, an dieses Geöffnetsein für die Elementarerfahrungen der Existenz knüpft auch Marie T. Martins „Brief im April“ an, eine Kontrafaktur und zugleich Fortschreibung von Christensens Poem. Ein Ich eröffnet die Korrespondenz mit einem Toten, das Gedicht insgesamt scheint an einen nahen Menschen adressiert, der vor Jahresfrist gestorben ist. Die Erfahrungen von Geburt und Tod sind jedenfalls im Bildprogramm von Marie T. Martins „magischem Sprachrealismus“ (Tom Schulz) ineinander verwoben. Der poetische Dialog mit dem Verstorbenen („was siehst du ohne Augen?“) und mit ihm die lyrische Kartografierung der Seele entfaltet sich über die Beschwörung des Naturschönen. In den letzten vier Versen schließlich changiert das Gedicht zwischen einem Selbstgespräch und der emphatischen Anrede an ein Du. Der „Brief im April“ ist nicht zuletzt eine eindringliche Rede der Trauer. Das sprechende Ich spannt einen großen Bogen zwischen den Urszenen von Geburt und Tod, dabei wird auf knappstem Raum eine Lebensstrecke vermessen. Rückruf hat die in Köln lebende Lyrikerin Marie T. Martin ihren zweiten Gedichtband genannt, in dem an zentraler Stelle auch der „Brief im April“ zu finden ist. Diese Poesie ist in ihrem Kern ein „Rückruf“ – und als Lesende nehmen wir teil an dieser Wiederaufnahme eines zwischenzeitlich unterbrochenen Dialogs, in den sich auch Stimmen aus einem anderen Leben einmischen.

Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2020

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