Michael Braun: Zu Michael Buselmeiers Gedicht „Holzpuppe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michael Buselmeiers Gedicht „Holzpuppe“ aus Michael Buselmeier: Mein Bruder mein Tier. –

 

 

 

 

MICHAEL BUSELMEIER

Holzpuppe

Das Kind aus Holz am Fenster sieht mich an –
Puppe mit rundem Aug ein Leben lang.
Der Krüppel, armlos, hat ein Sackkleid an.

Im Bombenhagel lief die Puppe weg,
verschwand in einem Krater zwischen Dreck,
in einem unterirdischen Kanal,

mit einem leichten Schiffchen unter Deck.
Gen Morgen kam sie durch ein kaltes Tal,
die Sonne stand am roten Himmel fahl.

Ich fand sie wieder und ich trug sie mit
als Talisman, als Fetisch, um damit
im Eck zu spielen, bis sie spürt den Schnitt.

 

In der Dichtung der Moderne

sind Puppen stets beseelte Wesen, Schutzgeister, magische Talismane, die das einsame Subjekt, das sich in ihnen spiegelt oder mit ihnen spielt, vor den Zumutungen der Außenwelt bewahren. Die „Holzpuppe“ im Gedicht Michael Buselmeiers ist zwar nicht die Projektionsfläche von Liebeswünschen, wie sie in E.T.A. Hoffmanns erschütternder Erzählung „Der Sandmann“ dem Helden zu einer absoluten Grenzüberschreitung vom Realen ins Imaginäre verhilft. Die „Holzpuppe“ ist nicht „Olimpia“, in die sich das lyrische Subjekt verliebt, aber sie ist ein rettender Fetisch, der das Kind, von dem in den kunstvoll geflochtenen Terzinen Buselmeiers die Rede ist, die Schrecken des Krieges überstehen hilft. Im „Kind aus Holz“ erkennt das einsame Ich ein seelenverwandtes Geschöpf, es ist kriegsversehrt („Der Krüppel, armlos“) wie die Verwundeten und Verstümmelten, die sich in den letzten Kriegsjahren durch die ausgebombten Städte schleppen. Michael Buselmeier, 1938 in Berlin geboren, hat in Mannheim und Heidelberg die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs noch miterlebt. Sein Gedicht thematisiert die Motive, die sein Werk seit den Bänden Erdunter (1992) und Spruchkammer (1994) durchziehen: Der Eintritt in eine tellurische Höllen-Welt, erdunter, hier „in einem unterirdischen Kanal“, und die Positionierung in der Abgeschiedenheit, „am Rand“, wie es eines seiner jüngeren Gedichte signalisiert. Fast scheint der Weg der Holzpuppe der Hadeswanderung in Dantes Commedia zu gleichen, die hier von der Finsternis des Kanals zurück zur Sonne führt, wenngleich die furchtbare Bedrohung, die im Gedicht evoziert wird, noch nicht gewichen ist. In Buselmeiers jüngstem Band Mein Bruder mein Tier finden wir viele solcher hypnotischen Reisen in die „Übergänge“ zwischen Leben und Tod.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2018

1 Antwort : Michael Braun: Zu Michael Buselmeiers Gedicht „Holzpuppe“”

  1. DALL·E mini sagt:

    DALL·E mini verbildlicht Michael Buselmeiers Gedicht „Holzpuppe“

    Generationsbild

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00