Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte

Kirsch-Sämtliche Gedichte

FRANZISKUS

Wie Natur auf ihre Art sich uns
Mitteilt redet er in seiner Sprache
Zu ihren Wesen das bricht
Vulkanisch aus seinem Körper die
Rede ist lang eindringlich feurig von
Reiner Gebärde begleitet im räudigen
Stadtpark von Feldafing ein Brunnen
Dem man das Maul gestopft hat fünf
Elende geköpfte Bäume im Schnee
Er sprach ihnen Schönheit und Mut zu
Würde der funkelnde Sommer herannahn
Berufsnachtigallen für ihre Schöpfe
Die vorübergehenden Menschen
Senkten die Blicke der beschnittenste
Baum fuhr ein haltbares Blatt aus

 

 

 

Sarah Kirsch zählt

zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der Gegenwart. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der „Droste jüngere Schwester“.
Dieser Band lädt zum Wiederlesen und zur Neuentdeckung ein: Vom gefeierten „Sarah-Sound“ (Peter Hacks) der frühen Lyrik bis hin zu den aktuelleren Betrachtungen, den „Zeitansagen aus dem Norden, wunderbaren Meditationen über Dauer und Vergehen“ (NZZ).
2005 wurde der Band unter Mitarbeit der Autorin zusammengestellt. Auf Wunsch Sarah Kirschs wurden nicht alle ihre Gedichte berücksichtigt. Da es sich bei der vorliegenden Ausgabe lediglich um eine Nachauflage handelt, sind die nach 2005 erschienenen Gedichte nicht enthalten.

Deutsche Verlags-Anstalt, Ankündigung

 

Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte

– Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen unserer Zeit. Nun präsentiert die Deutsche Verlags-Anstalt sämtliche Gedichte und lädt zum Wiederlesen und Neuentdecken ein. –

Als Sarah Kirsch auftauchte und mit Hexen daherkam, mit stürmischen Geliebten und mit der Verheißung eines „Gammlersommers“, da war es mit der DDR fast schon vorbei. Die Lyrikerin hatte die Dreißig knapp überschritten, man schrieb das Ende der sechziger Jahre.
Landaufenthalt hieß der Band, der 1967 herauskam, 1973 folgten Zaubersprüche. Nichts mehr war da zu spüren vom Pathos des Realismus. Plötzlich schien eine Märchenfee gekommen zu sein, von einem ganz anderen Stern. Sarah Kirsch hatte viel gelernt von der „Volkstümlichkeit“ im Sinne Brechts, vom Liedhaften und den eingängigen Bildern der Bibel, und sie richtete ihre Verse gegen die hohlen Phrasen des Staatswesens.
1977 verließ Sarah Kirsch die DDR. Vorher hatte sie noch den Band Rückenwind veröffentlicht. Dort findet sich der Zyklus „Wiepersdorf“: das war das Schloss von Bettina und Achim von Arnim und in der DDR dann ein staatlich getragenes Schriftsteller-Refugium. Das Leben der Bettina, die es als städtisch und künstlerisch orientierte Frau genauso schwer auf dem flachen Land wie überhaupt im königlichen Preußen aushielt, verschmilzt immer mehr mit dem lyrischen Ich aus der DDR-Gegenwart.
Bei diesen eindringlichen Bildern wundert es nicht, dass Sarah Kirsch ihren Staat kurz darauf verließ. Leider erfahren wir in dem Geburtstagsgeschenk, das die Deutsche Verlags-Anstalt seiner Lyrikerin zu ihrem Siebzigsten am 16. April macht, nichts von derlei zeitgeschichtlichen Hintergründen. Sämtliche Gedichte heißt das hübsche, mit einem Aquarell von Sarah Kirsch auf dem Titelblatt versehene Buch, und es sind tatsächlich alle Gedichte von Landaufenthalt bis zur 2002 erschienenen Schwanenliebe darin enthalten. Aber es fehlt nicht nur ein Nachwort, das die Entwicklung dieses Werks nachzeichnet und einordnet, es fehlen sogar die Angaben, wann welcher Gedichtband erschienen ist. Vollständig zeitlos kommen die Texte daher, und das sind sie, bei aller zeitenthobenen Natur- und Märchenmetaphorik, natürlich ganz und gar nicht.
In den achtziger Jahren geht es um das neue Leben in Schleswig-Holstein: Erdreich und Katzenleben heißen nun die Bücher. Es ist ein Neuansatz, der auf die alten Naturbilder zurückgreift, doch verhaltener und schütterer wirkt. Vor allem die Bilder der Kälte werden manifest und zu einer existenziellen Größe. Das zurückgezogene Leben im Norden, die Schafe und der Garten es verdichtet sich in Sarah Kirschs Lyrik zu Chiffren. Das geschieht oft recht beiläufig, in dahingetuschten Gelegenheitsgedichten, manchmal aber strahlt es eine suggestive Hermetik aus. „Eine Katze aus / Licht räkelt sich / Unter den Weiden“: hier werden die Vorstellungen von „Licht“ und „Katze“ eins, etwas Flirrendes, nicht genau zu Fassendes. Ein optischer Eindruck wird zu etwas Lebendigem, und das Lebendige bekommt eine magische Kontur. So fangen die besten der späten Gedichte von Sarah Kirsch wieder die unbezähmbare Lust ihrer Anfänge ein.

Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur, 18.4.2005

Tiger im Regen

Selten hat man ein so heiteres Titelbild gesehen: leuchtende Farbflecken, die man als Blumen nehmen kann, als Pflanzlich-Blühendes jedenfalls, von kleinen Spritzern übersät, wie sie ein rasch geführter Aquarellpinsel hinterläßt. Es ist der Pinsel der Dichterin, die in einem frühen Gedicht bekennt, ich „lernte Geduld als ich klein war / bei Wasserfarben“. Hier nun regiert der reine Übermut, die ungebremste Farbenlust.
„Glücksblättchen“ heißt das dekorative Malwerk, das Sarah Kirschs Sämtliche Gedichte ziert, die aus Anlaß ihres Siebzigsten erschienen sind. Es ist der Talisman für eine volkstümliche Leseausgabe, die ihre zehn Einzelbände zusammenfaßt. Anders als die fünfbändige Werkausgabe von 2000 hat sie keinerlei editorischen Ehrgeiz. Sogar auf die Erscheinungsdaten der Einzelbände wird verzichtet – als wolle man signalisieren, ihre Poesie sei fern von Zeit und Geschichte.
Natürlich ist das Gegenteil der Fall. So frisch die Gedichte der Sarah Kirsch auch wirken, sie sind – mit einem Ausdruck Paul Celans – „ihrer Daten eingedenk“. Die Lyrikbände von Landaufenthalt (1967) bis Schwanenliebe (2001) hängen mit deutscher Geschichte zusammen – die frühen direkt, die späteren immer noch unterschwellig. Einige ihrer schönsten Liebesgedichte behandeln die deutsch-deutsche Trennung als Romeo-und-Julia-Thema.
Man darf nicht vergessen, daß Sarah Kirsch ihre prägenden Jahre in der DDR verbrachte. In Halle studierte sie Biologie, in Leipzig besuchte sie zwischen 1963 und 1965 das Literaturinstitut, die Ziehstätte der gesamten Sächsischen Dichterschule. Einige Zeit war sie mit dem Lyriker Rainer Kirsch verheiratet, mit ihm zusammen veröffentlichte sie auch ein Bändchen Lyrik. Dann aber folgte sie ihrem eigenen Traum und nahm das Schreiben selbst in die Hand.
Sarah Kirsch hat 1996, in ihrer Dankrede zum Büchner-Preis, die prägnanteste Formulierung für ihren dichterischen Traum gefunden. Sie sieht sich als poetische Landschafterin. Doch ihre Wortmalerei möchte nicht bloß schöne Wortbilder erzeugen, sie möchte selbst Natur sein:

Die Lettern, die Wörter sind Bäume und Landschaften nun. Den Gebilden, welche die Dichter erschaffen, wohnt deren eigene Körperlichkeit inne.

Und dann fügt sie einen Satz hinzu, der Impuls und Resultat ihres Schreibens atemhaft ineins bringt:

Mein Herzschlag, die Ungeduld, atemlos bin ich, und alles ist auffindbar in meinen Spuren.

Dieser Herzschlag, diese schöne Ungeduld findet sich bereits 1967 in ihrem Debütband Landaufenthalt. Er zeigt die Poetin, gleich Pallas Athene dem Haupt des Zeus entsprungen. Ihre Stimme hat sogleich ihren eigenen Ton. Man hat das – mit der Patronage männlichen Wohlwollens – den „Sarah-Sound“ genannt. Ob ihr das gefallen hat? „Sound“ verfehlt die Dezenz ihres Tons, verfehlt ihre Sprödigkeit gegen jede falsche Intimität, gegen jede Einvernahme. „Ich bin ein Tiger im Regen / (…) (Ich knurre: man tut was man kann)“ – so selbstbewußt und aufsässig beginnt eines dieser frühen Gedichte, um noch einen kleinen Prankenschlag loszuwerden:

ich meine es müßte hier
Noch andere Tiger geben.

Gab es aber nicht.
Sarah Kirsch wußte früh um ihre Einzigartigkeit. Sie entzog sich nach Kräften allem, was sie für etwas einspannen wollte. Nicht zuletzt der Literaturbürokratie der DDR, die mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitete. Sie hielt dagegen mit ihrem „einfältigen Schweigen“ und sah sich als „Maultier, das störrisch ist“. Ihre listige Dialektik schlug Funken aus scheinbar freundlichen Beteuerungen:

Keiner hat mich verlassen
Keiner ein Haus mir gezeigt
Keiner einen Stein aufgehoben
Erschlagen wollte mich keiner
Alle reden mir zu

Freilich kam auch die Zeit, als solche Zaubersprüche – Titel ihres zweiten Bandes von 1972 – nicht mehr wirkten. Da wurde ihr nicht bloß zugeredet, es wurden auch Steine aufgehoben. Verbal zumindest. Da wurden auf Schriftstellerkongressen der „nackte, vergnatzte Individualismus“ und die „spätbürgerliche Position der Aussichtslosigkeit“ angeprangert. Da gab es die groteske Posse um das Gedicht „Schwarze Bohnen“, das massive politische Verdikte auf sich zog. Solche Zeilen provozierten damals die Funktionäre:

Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg
Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg
Nachmittags mahle ich Kaffee
Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee
Rückwärts zusammen schöne
Schwarze Bohnen

Einige Jahre später – nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker – wurde das inkriminierte Gedicht auf einem DDR-Schriftstellerkongreß als Beispiel für die begrüßenswerte „Vielfalt unserer Poesie“ gerühmt.
Aber soll man an so dunkle Zeiten erinnern, wenn doch die „schwarzen Bohnen“ uns geblieben sind, dank der Magie, die selbst zermahlenen Kaffee rückwärts zusammensetzt?
Dennoch: Für die Dichterin waren die siebziger Jahre alles andere als eine leichte Zeit. Sarah Kirsch fühlte sich durchaus nicht zur Dissidentin berufen, sie war eher geneigt, dem „kleinen wärmenden Land“ Solidarität, besser altmodisch Treue zu beweisen. Später hat sie fast schnoddrig davon gesprochen:

Es war mir früher in meinem Land
Soviel eingeblasen und vorgeschrieben
Daß ich die Scheißarbeit aufgenommen
Ein bißchen davon zu glauben.

Aber diese Arbeit fruchtete nicht. Im Gefolge des Biermann-Protests, den sie, wie viele andere Kollegen, mit unterschrieben hatte, verließ die Dichterin mit ihrem kleinen Sohn Moritz im August 1977 die DDR.
Was heute zählt, ist: Sarah Kirsch schrieb in diesen Jahren einige ihrer bedeutendsten Gedichte, die in vielen Anthologien stehen. „Legende über Lilja“ erzählt von dem polnischen Mädchen, das sich weigert, die anderen KZ-Insassen zu verraten. „Nachricht aus Lesbos“ läßt eine Lesbierin bekennen: „Nachts ruht ein Bärtiger auf meinem Bett“, – das offene Bekenntnis einer Abweichung, deren politische Bedeutung nicht zu übersehen war. Politisch zumindest ambivalent ist eine Passage in dem wunderbaren Zyklus „Wiepersdorf“ – Da klagt die Poetin in der Maske Bettinas:

(…) Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und doch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.

Eines ihrer bekanntesten Gedichte gilt der Droste. Ihr hat sie die schönste Hommage gewidmet, die dem westfälischen Fräulein, der Naturdichterin und der Liebenden je zuteil wurde. „Der Droste würde ich gern Wasser reichen / In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel / Nennen“, hebt Sarah Kirschs Gedicht an. Ein Gedicht, das wie vom Widerschein des Meersburger Turmzimmers durchglänzt ist.
Im Zeichen der Droste – also im Zeichen von Natur- und Liebeslyrik – steht die zweite, die glücklichere Phase ihrer Poesie. Sarah Kirsch vollendet ihre bukolische Sendung mit sprechenden Titeln wie: „Erdreich“, „Katzenleben“, „Schneewärme“, „Erlkönigs Tochter“, „Bodenlos“ und „Schwanenliebe“. Schleswig-Holstein – in kalauernder Prosa auch einmal „Schließlich Holzbein, Meerumschlungen“ genannt, wurde zu ihrem Refugium. Das aufgelassene Dorfschulhaus von Tielenhemme bot neben poetischer Muße auch eine kompensatorische Lebenspraxis, die Sorge für Landwirtschaft, für Kreaturen und Kreatürliches.
Bukolik ist für Sarah Kirsch keine harmlose Idylle. Bei ihr ist Naturlyrik – anders als bei Loerke und Lehmann – keine Suche nach dem Grünen Gott, sondern das einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit. Die studierte Biologin hat nicht bloß die Naturkenntnisse der Droste, sie besitzt auch die Überschärfe ihrer Augen. Sie hat einen Sinn für Details, die das Bewußtsein schwindeln lassen:

Jeder Halm
War geschärft frisch angespitzt und ich zählte
Nebenäste vierundzwanzigster Ordnung
Die Welt bestand aus lauter Einzelheiten
Es war genau zu unterscheiden
Welches übrig gebliebene Blatt
Um ein weniges vor oder hinter
Anderem leis sich bewegte

Diese liebevolle Schärfe hat etwas von Andacht, wie sie einer Spätzeit zukommt, die alles noch einmal sehen will. Günter Grass hat einmal gemeint, die Lyrik sei in ihrem Bewußtsein den anderen Gattungen voraus, in ihr werde nämlich schon Abschied von der Natur genommen. Sarah Kirsch hat diese Befürchtung für ein kleines Gedicht ernstgenommen. Es heißt „Bäume“ und geht so:

Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen die zu
Singen vermochten schauten herab.

Sarah Kirsch singt solche Adieus nicht ohne Humor. Von Erschöpfung kann keine Rede sein. Schwanenliebe, ihr bisher letzter Einzelband, ist alles andere als ein Schwanengesang. Die Gedichte, die uns aus ihm entgegentönen, werden zwar immer kleiner, Haiku-ähnlich. Dafür treten sie in wahren Schwärmen auf. „Gedichte also sind / Sonderbare kleine / Katzen denen gerade / Die Augen aufgehn“, heißt ein Vierzeiler, und der müßte auch Germanisten überzeugen. Ich habe ein besonderes Faible für eine neue Neigung der Dichterin – der zum kalauerhaft Komischen, ja zum höheren Blödsinn. Da kippt Insistenz in reine Poesie um:

Zigarren werden geschickt
Natürlich werden Zigarren
Geschickt.
Immer werden Zigarren
Geschickt werden.

Das nimmt man am Siebzigsten der Sarah Kirsch gern als ein Versprechen.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.2005

Ein traumhaft schönes Buch

Wenn es ein Buch gibt, das man Menschen empfehlen möchte, die sich für Lyrik interessieren, aber vor dem Anspruch, den Lyrik stellt, zurückschrecken, dann würde ich Sarah Kirschs Sämtliche Gedichte empfehlen. Ich kann es nicht anders sagen: Es ist ein wunderschönes Buch zu einem traumhaften Preis. Natürlich ist das Layout nicht so anspruchsvoll wie bei einem einzelnen Gedichtband. Ein Gedicht auf einer Seite – so wie sich das normalerweise gehört – das geht natürlich nicht bei den gesammelten Gedichten einer produktiven Lyrikerin, die immerhin schon siebzig Jahre alt ist. Aber das schränkt den Genuss auch nur geringfügig ein. Denn Gedichte von Sarah Kirsch zu lesen ist einfach ein Genuss. Ihre Sprache ist erlesen, die Bilder die sie wählt begeistern mich. Manche Gedichte erschließen sich gleich; andere muss man mehrmals lesen. Aber im Gegensatz zu vielen Lyrikern sind ihre Gedichte zwar immer sehr konzentriert aber nicht hermetisch. Also nicht nur einem kleinen Zirkel von gelehrten Männern zugänglich.
Und wenn manches dennoch rätselhaft bleibt? Auch das finde ich nicht schlimm.

Bernd Giehl, amazon.de, 26.7.2006

„… so wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr“

„Ihre Gedichte gehen von Bildern aus oder laufen auf Bilder zu, ihre Verse sind voll Farbe, voll Licht und Schatten, Blitz und Donner. Sie erinnern uns daran, dass es auch in unserer modernen Welt Phänomene gibt (und zwar keineswegs periphere), die sich nur auf dem Weg über die Lyrik erschließen lassen“, schreibt Reich Ranicki.
Die Künstlerin Sarah Kirsch, wurde 1935 unter dem Namen Ingrid Bernstein in einem kleinen Ort am südlichen Harzrand geboren. Früh wurde ihr Interesse an der Natur geweckt. Der Lehre als Forstarbeiterin folgte das Studium der Biologie. Gemeinsam mit ihrem Mann, Rainer Kirsch, verfasste sie Kinderbücher. Nach dem Studium der Literatur in Leipzig arbeitete sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin in der DDR. Sie trennte sich von ihrem Mann. Mit der Unterzeichnung des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde ihrer Ausweisung aus der DDR unausweichlich.
Reich-Ranicki bezeichnet Sarah Kirschs Gedichte als Selbstgespräche; Schreiben als Therapie. Sie verarbeitet Hoffnung und Enttäuschung, Liebe und Trennungsschmerz. Himmelhohes Jauchzen und zu Tode betrübt sein wechseln sich ab, doch die melancholischen, traurigen Gedanken überwiegen („Ach wie unglücklich wir alle sind“). Doch Sarah Kirsch denkt nicht ans Aufgeben; sie bezeichnet sich als Tiger („ich hau… ich brülle… ich fauche“), wenn auch als traurigen, nassen Tiger.

Winter und Schnee
Ein häufig wiederkehrende Motiv in Sarah Kirschs Gedichten sind verschneite, frostige Wintertage.
Das „Schneelied“ klingt wie ein vertrautes Kinderlied, das die Mutter vor dem Einschlafen singt. Märchenhafte Züge trägt das Gedicht „Schneeweißer und Rosenrot“ mit Namensanlehnung an die Gebrüder Grimm.
Sarah Kirsch schildert auch Wintertage mit Eisblumen am Fenster und glühenden Kohlen im Kamin, die ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme vermitteln. Wie in dem Gedicht „Schneewärme“ fasziniert sie der Gegensatz zwischen winterlicher Kälte und wärmenden Feuer, zwischen Tod und Leben – hier als Blut stilisiert.

Der Westwind hat die Schneedecke
Fortgezogen das grüne Gewand
Leuchtet hervor den Bäumen
Blies er Lava unter die Rinde.

Wenn die Tage länger werden, die Natur erwacht, „wenn die Verzauberung nachlässt der Frost eine Pause macht“, wenn „unter der Sonne die letzten Patronen des Winters“ Lebewohl sagen, dann verzaubert der Frühling nicht nur die Natur, sondern auch die Herzen der Dichter.

Sonne und Regen
Ähnlich wie Albert Camus beschreibt Sarah Kirsch die Gegensätzlichkeit unseres Zentralgestirns. Die Sonne ist Lebensspenderin, bringt Pflanzen zum Blühen und mit ihren „leidenschaftlichen Pfeilen“ gibt sie Wärme und Geborgenheit. Anders die „Backofenglut endloser Tage“, die alles Leben zum Stillstand bringt, alles verbrennt und zerstört. „Geh unter schöne Sonne“, ruft ihr die Dichterin zu:

stirb weniger kunstvoll.

Regentage drücken Sarah Kirschs Stimmung:

Grau bin ich jetzt grauer Regen.

Und in einem anderen Gedicht:

Ich brülle am Alex den Regen scharf an

Es regnet den siebten Tag
Da bin ich bös bis in die Wimpern

Sie bewundert die Vögel, die gegen den Regen ankämpfen.

Die Vögel singen im Regen am schönsten.

Tiermetaphorik
Unter allen Tieren nimmt die Katze in den Gedichten Sarah Kirschs einen besonderen Platz ein. Gleich ein ganzer Gedichtband trägt den Titel des Lieblingstieres. Was fasziniert die Lyrikerin an den Tieren? Im Gedicht „Katzenleben“ verrät sie uns:

Aber die Dichter lieben die Katzen
Die nicht kontrollierbaren sanften
Freien die den Novemberregen
Auf seidenen Sesseln oder in Lumpen
Verschlafen verträumen stumm
Antwort geben sich schütteln

Die domestizierte Katze hat sich ihre Selbständigkeit bewahrt.

Farbmetaphorik
Aus der Farbpalette der Dichterin stechen zwei hervor: weiß und rot.
In vielen Gedichten wird der weiße Schnee beschrieben, in einem anderen der „Milchsuppenhimmel“. Kontrastierend hierzu das Gedicht „Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt“ mit Anlehnung an Paul Celans Gedicht „Schwarze Milch“.
Für die Farbe rot findet Sarah Kirsch immer wieder neue Vergleiche und Nuancierungen: rote Flammen, feuerrot, roter Hauch, roter Vorhang, Purpurfahnen, rote Treppen, rot das Laub, rote Früchte, rote Füchsin, lackrot, fuchsrot, rotblumig, Abendrot.

Schloß Wiepersdorf
Auf Schloß Wiepersdorf, dem Wohnsitz der Dichterfamilie Achim und Bettina von Arnim, entstand ein ganzer Gedichtezyklus. In der abgeschiedenen Welt des „volkseigenen Schlosses“, jenseits der Stadt mit ihren Hochhäusern genießt die Dichterin die Ruhe und Entspannung. Beim Flanieren durch den Park, vorbei an versteinerten Zwergen, arm- und kopflosen, marmornen Götterstatuen, vorbei an Schlossteich und Irrgarten findet sie Zeit, über sich und ihr Leben nachzudenken. Es gelang ihr nicht „Apollon zu fassen“; sie hat nur sich und ihren Knaben.
Sarah Kirsch fühlt sich zurückversetzt in die Zeit der Könige und Puderperücken. Sie spricht mit der Schlossbesitzerin, nennt sie vertraut beim Vornamen:

… Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats.

Gesellschaftskritik
In einem anderen Gedicht träumt sie davon, den König zu töten „und wieder frei sein… Doch die Freiheit wollte nicht groß werden.“ Nach ihrer Ausweisung aus der DDR trauert sie dem „kleinen Land“ nach, das sie bei „Nacht und Nebel“ verlassen musste, aber sie resigniert nicht:

Ich gedenke nicht am Heimweh zu sterben. Unauslöschlich hab ich die Bilder (der Heimat) im Kopf.

Obwohl die Dichterin die neu gewonnene Gedankenfreiheit schätzt, spart sie nicht mit Kritik an der schönen neuen Welt in der das Geld regiert und „brutal definiert wer zahlen kann zählt“. Konformismus kann man Sarah Kirsch nicht vorwerfen.

Resümee: In Sarah Kirschs Gedichten spiegelt sich die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen wieder, wenn auch der elegische Weltschmerz überwiegt. Ermutigend ist, wie die Dichterin – nach dem Vorbild der sich erneuernden Natur – immer wieder Kraft schöpft.

M. Thomas, amazon.de, 5.5.2012

Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte

„Der Himmel wolkenbefahren an wenigen / Sonneninseln bleibe ich hängen ich höre / Den ganzen Tag Eric Clapton… so ist mir tröstlich / Trostlos zumute auf diesem verblichenen Planeten“ – Kann man einen Sonntag poetischer beschreiben?

Sarah Kirsch gehört zu den wichtigsten lyrischen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. 1935 als Ingrid Bernstein im Harz geboren, beginnt sie zunächst in Halle/Saale ein Studium der Biologie, das sie mit dem Diplom abschließt. Danach wechselt sie an das Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, wo sie von 1963 bis 1965 studiert. Sie schreibt erste Gedichte, die sie unter dem Pseudonym „Sarah“ veröffentlicht. Den Namen wählt sie aus Protest gegen den Holocaust und den Antisemitismus ihres Vaters. Gemeinsam mit ihrem damaligen Mann, dem Schriftsteller Rainer Kirsch, gibt sie den Lyrikband Gespräch mit dem Saurier heraus. Beide gehören mit Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel und vielen anderen damals 20- bis 30jährigen zum „Mitteldeutscher Dichterkreis“, der eine wahre „Lyrik-Welle“ auslöst. Die poetischen und gesellschaftlichen Träume dieser jungen Garde walzen jedoch russische Panzer im August 1968 in Prag nieder.
1967 erscheint ihr erster eigener Gedichtband Landaufenthalt. Nach ihrer Scheidung zieht Sarah Kirsch nach Ost-Berlin, wo in den Folgejahren die Lyrikbände Zaubersprüche und Rückenwind veröffentlicht werden. Nach der Unterzeichnung der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann sieht sie sich „unerträglichem Druck“ ausgesetzt, so dass sie im August 1977 nach West-Berlin übersiedelt. Hier erscheinen ihre „Wintergedichte“ und der Band Katzenkopfsteinpflaster. Seit 1983 lebt sie im Norden, in Schleswig-Holstein, und veröffentlicht weitere Gedicht- und Prosabände (u.a. Katzenleben, Schneewärme und Erlkönigs Tochter). Ihr Werk wird mehrfach mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis (1996).
„Die Natur hat einen Grad der Kargheit und Vollkommenheit erreicht“ – so in einem Gedicht über einen frostigen Tag. Wieder und wieder finden sich in ihrem Werk Naturgedichte, in denen ein ganz neues Verhältnis des Menschen zur Natur gestaltet wird. Außerdem setzt die diplomierte Biologin mit romantischen Stilelementen die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten lyrisch außer Kraft. Viele ihrer Gedichte lassen die Verwandtschaft zu Zauberei und Märchen erkennen. Überall dort jedoch, wo sie sich auf den erkennbaren Bereich ihrer nächsten Umwelt beschränkt, die Natur, die menschliche Psyche, das soziale Milieu, ist ihr Werk von großer Intensität, Detailtreue und Wahrheit geprägt. Wie die Gedichte besitzen auch ihre Aquarelle eine spielerische Leichtigkeit und so schmückt eines dieser luftigen Bilder den Schutzumschlag.
„Der Droste würde ich gern Wasser reichen“, hat Sarah Kirsch einmal geäußert. Zu ihrem 70. Geburtstag hat nun die Deutsche Verlags-Anstalt sämtliche Gedichte von „Drostes jüngerer Schwester“ (Marcel Reich-Ranicki) vorgelegt. Ihr lyrisches Werk, voll einfacher Schönheit, ist längst zum Bestandteil der deutschen Literatur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts geworden. In den reichlich fünfhundert Seiten kann man noch einmal dem frühen „Sarah-Sound“ lauschen oder sich von den jüngsten „Zeitansagen aus dem Norden“ verzaubern lassen. Ein wirklich eindrucksvoller Lyrikband zu einem kauffreudigen Preis!

Manfred Orlick

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Petra Öllinger: Auf Spinnenschrittchen
literaturblog-duftender-doppelpunkt.at, 18.8.2006

 

 

 

WIE FINDE ICH SARAH KIRSCH

Ich weiß eine Tür
zum Haus an der Straße
neben dem Deich am Fluß
und die Stufe davor zur Diele
die hemmt ein Wort stockt
auf der Schwelle

Ich weiß ein Beet im Garten
vorm Haus an der Straße
neben dem Deich am Fluß
die Margerite beiläufig
nickt sie ein Bündel Lächeln
erschrocken steif
wenn du gehst

von der Schwelle über die Stufe
zum Garten vorm Haus zur Straße
neben dem Deich am Fluß

Therese Chromik

 

 

Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch

 

 

Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V. 

 

Zum 60. Geburtstag der Autorin:

Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995

Zum 65. Geburtstag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vi­sion
Rheinische Post, 14.4.2000

Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000

Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000

Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000

Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000

Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005

Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005

Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005

Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005

Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005

Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005

Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005

Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005

Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005

Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005

Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005

Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010

Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010

Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010

Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010

Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010

Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010

Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010

Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010

Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010

Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010

 

Zum 5. Todestag der Autorin:

Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018

 

 

Zum 10. Todestag der Autorin:

Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023

 

Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Archiv + Internet Archive +
Kalliope + KLGDAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 und weiteres
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotos +
deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Sarah Kirsch: Spiegel ✝ FAZ ✝ FR ✝ Tagesspiegel ✝
Die Zeit ✝ Focus ✝ Die Welt ✝ SZ ✝ NZZ ✝ WAZ ✝ MZ ✝
KAS ✝ junge Welt ✝ Tagesschau ✝ titelblog

 

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Sarahkirsch“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Kirsch, das“.

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