Friedrich Rückerts Gedicht „Kindertotenlied“

FRIEDRICH RÜCKERT

Kindertotenlied

Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage
Da wohnst du bei mir dicht;
Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht mein Licht.

Wo ich auch nach dir frage
Find ich von dir Bericht,
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

nach 1834

 

Konnotation

Es war eine Wunde, die nie verheilte: Friedrich Rückert (1788–1866), der belesenste Privatgelehrte und größte Übersetzer orientalischer Sprachen, den die deutsche Literaturgeschichte kennt, verlor 1833/34 seine zwei jüngsten Kinder durch Scharlach – und reagierte mit insgesamt 428 anrührenden „Kindertotenliedern“, um nach diesem Schmerz weiterleben zu können.
Rückert wählt hier ein einfaches, verlässliches Reimschema und die litaneihafte Wiederholung von Verszeilen, um sein unsägliches Leid in Sprache zu fassen. Die Arbeit des Gelehrten mit der phänomenalen Sprachbegabung, der die wichtigsten Dichtungen aus dem Arabischen, Persischen, dem Sanskrit und vielen anderen Sprachen ins Deutsche brachte wurde lange kaum gewürdigt. Erst mit den 1872 veröffentlichten Kindertotenliedern begann sein bescheidener Nachruhm: Gustav Mahler hat einige davon vertont.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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