Theodor Fontanes Gedicht „Würd’ es mir fehlen, würd ich’s vermissen?“

THEODOR FONTANE

Würd’ es mir fehlen, würd ich’s vermissen?

Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht,
Bin ich wieder aufgewacht.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch,
Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,
Ich habe die Morgenzeitung gelesen
(Es sind wieder Avancements gewesen).
Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,
Es trabte wieder, es klingelte munter,
Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle,
Kleine Mädchen gingen nach der Schule –
Alles war freundlich, alles war nett,
Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’
Und tät’ von alledem nichts wissen,
Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?

1888

 

Konnotation

Der Leser dieses scheinbar so gut gelaunten Gelegenheitsgedichts von Theodor Fontane (1819–1898) wird von einem Behaglichkeits-Versprechen angelockt. Das 1888 entstandene Alltagspoem erzählt zunächst nur von den Wonnen der Gewöhnlichkeit: von einem guten Schlaf einem von Hektik unbelasteten Frühstück, der täglichen Morgenlektüre. Aber das kleine Loblied auf das „freundliche“ Leben ist dann doch vergiftet durch skeptische Fragen.
In der Mitte des balladesk daherkommenden Gedichts taucht ein beunruhigendes Detail auf, das zur Friedlichkeit der Szenerie nicht recht passen will. Eine (blutige?) Metzgerschürze hängt über einem Stuhl. Die volkskundliche Erkenntnis, dass es zu den Routinen des Berliner Metzgerhandwerks gehörte, am Schlachttag eine weiße Schürze hinauszuhängen, kann die Idylle nicht mehr retten. Die beiden Schlussverse signalisieren schließlich die Nichtigkeit der Alltagsroutinen. Die „Freundlichkeit“ des geordneten Daseins ist für das lyrische Subjekt kein Refugium mehr.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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