Szene IV

Szene IV
Zwischentitel: )
»Der Manteldieb«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KRITIKER (für sich:) Ich werde sie alle – (zu den andern:) Sie alle! – aufschreiben. Einfach aufschreiben. Notieren sozusagen. Aufnotieren. Alle.
AUTOR: Ich werde sie alle – Sie alle! – aufschreiben …

 

 

 

 

 

 

 

KRITIKER: Tztztz…
 

LESER 1: Gib den Mantel her!
LESER 2: Gib her!
LESER I und LESER 2: Komm, mach schon!

 

(Eilige Schritte; Lärm, Geschrei.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Turmuhr; aus nächster Nähe, fast wie Detonationen, zwölf Schläge.)

 

 

AUTOR (für sich:) Isch. Ich bin es doch. Was fällt denen ein. Wäre noch schöner.

 

 

 

 

 

KRITIKER: Alles klar. Auf frischer Tat. Ein Phänomen. Ich habe Sie! Jetzt hab’ ich es! Schon aufgeschrieben!
AUTOR (schreiend): Was?
KRITIKER (leise): Im fremden
Mantel! Als Autor! Ein normales Phänomen!
AUTOR (undeutlich): Nein, stirbt nicht…

 

In einem engen, hell erleuchteten Dachzimmer stehen sich der KRITIKER, die beiden LESER und der AUTOR gegenüber. Mit Ausnahme des einen LESERS trägt jeder von ihnen einen langen schwarzen Mantel, und alle halten einen steifen schwarzen Hut in der Hand. Es macht den Anschein, als hätten die vier Funktionäre sich zu einer geheimen Besprechung treffen wollen, doch wird bald klar, daß es ein eher unliebsamer Zufall gewesen sein muß, der sie hier zusammengeführt hat.

Nach langem Schweigen kommt allmählich Bewegung in die Gruppe. Der KRITIKER hebt mit einem Ruck den Kopf, dann den Finger und setzt einen ziemlich komplizierten, genau vorbedachten Satz mit vielfacher Echowirkung in die kleine Welt des AUTORS, wird aber sogleich vom Mann im fremden Mantel beim Wort genommen und mehrmals zitiert. Währenddessen haben sich die beiden LESER von hinten an den AUTOR herangemacht und beginnen nun auf ihn einzuschlagen, auf ihn einzuschreien, und versuchen, ihm den Mantel abzunehmen. Nur mit den Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben, redet der KRITIKER weiter; dabei hebt er hin und wieder seinen blitzenden Silberstift, um die zerstrittenen Parteien, mit denen er, wie man ihm nun endlich ansehen kann, nicht das geringste zu schaffen hat, zur Vernunft zu rufen.

Doch die Auseinandersetzung nimmt immer heftigere Formen an. Der AUTOR kämpft ebenso engagiert um seinen Mantel wie die LESER, die sich, ohne den Mann im fremden Mantel als AUTOR zu erkennen, um ihren Mantel balgen. Plötzlich stürzt der Mann im fremden Mantel zur Tür, reißt sie auf, ergreift die Flucht; die beiden LESER eilen ihm nach, verfolgen ihn durch dunkle Korridore und über schmale Treppen, hinunter, dann wieder hinauf, schließlich hinaus auf die Straße.

Der KRITIKER ist allein im Zimmer zurückgeblieben; durch die offenstehende Tür kann man sehen, wie er das Fenster aufstößt, dann sich hinauslehnt –

Im Schnee, unten, werden die beiden LESER und der Mann im fremden Mantel wieder handgemein, doch schlagen sie jetzt schon viel gemessener aufeinander ein und vermeiden es dabei zu schreien. Gleichwohl dauert es nicht lange, bis die zuvor menschenleere Straße sich zu beleben, sich zu bevölkern beginnt. Die Passanten freilich hasten vorüber, ohne das lautlose Kampfgeschehen auch nur zu beachten. Noch eine Weile geht das Ringen unentschieden weiter. Doch mit einemmal bleibt alles stehen, jedermann in der Straße hebt den Blick. Aus dem Fenster, sehr weit oben, beugt sich der KRITIKER und zeigt mit gerecktem Finger und mit großer Geste auf seine Armbanduhr.

Die LESER wechseln, über den am Boden liegenden Mann im fremden Mantel, einen raschen Blick, und zusammen mit ein paar zufälligen Passanten ergreifen sie unvermittelt die Flucht. Wieder ist die Straße menschenleer. Mühsam richtet sich der Mann im fremden Mantel auf, klopft sich den Schnee von den Knien, von den Ärmeln, zuletzt von den Schultern. Er murmelt vor sich hin; seufzt. Dann wendet er den Kopf nach oben. Doch das Fenster ist geschlossen.

Unversehens steht der KRITIKER jetzt hinter dem AUTOR; er legt ihm die behandschuhte Hand auf die Schulter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der AUTOR erschrickt, wendet sich um und schreit, als er sich dem KRITIKER gegenüber sieht, laut auf. Dann schüttelt er resigniert den Kopf, beginnt sich langsam zu entfernen. Der KRITIKER lächelt, als habe er wirklich verstanden. Mit energischen Schritten eilt er dem AUTOR nach, packt ihn am Arm und zerrt ihn, im wieder einsetzenden Schneegestöber, aus dem Bild.

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aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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