Johann Gottfried Herders Gedicht „Die Mechanik des Herzens“

JOHANN GOTTFRIED HERDER

Die Mechanik des Herzens

Ihr Weise, mit der Wissenschaft,
Die Welten zu bewegen,
Gebt einem matten Herzen Kraft,
Ein Fünkchen neu Vermögen,
Ach, einen Tropfen Lebenssaft,
sich jugendneu zu regen!
Ich lass’ Euch Eure Wissenschaft,
Die Welten zu bewegen.

1787

 

Konnotation

In seinen Zerstreuten Blättern, die er bis 1797 in sechs „Sammlungen“ erscheinen ließ, hat Johann Gottfried Herder (1744–1803) eine ganze Reihe motivisch verwandter Gedichte zusammengestellt, in denen er sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften bestimmt. In der „sechsten Sammlung“ definiert er den menschlichen Gliederbau als „Mechanik und Statik menschlicher Seelenkräfte“. So ist die Wortverbindung „Mechanik des Herzens“, die das 1787 erstmals publizierte Gedicht im Titel trägt, nicht gleich als Kritik am Positivismus der Wissenschaften aufzufassen.
Gleichwohl wird in diesem poetischen Denkbild Herders ein Gegensatz aufgebaut. Da wird der ehrgeizige Anspruch der Wissenschaften benannt, „Welten zu bewegen“. Aber gegenüber dem Glücksverlangen der Individualität bleibt die Wissenschaft taub. Solange aber die Aktivierung der „Lebenssäfte“ nicht gelingt, ist die Weltveränderung durch die Wissenschaft mit Skepsis zu betrachten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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