Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Achmatowa/Bauer-Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Ich hebe den Telefonhörer, und ich nenne den
aaaaaNamen,
mir antwortet eine Stimme, die nicht von dieser
aaaaaWelt…
Bin also nicht ganz verlassen, es weicht die tödliche
aaaaaKälte,
rings wird alles vom fahlen bläulichen Schein
aaaaaerhellt.
Ich sage: „Mein Gott, ich traue kaum den eigenen
aaaaaOhren,
sind solche Begegnungen möglich im irdischen
aaaaaÄtherfeld?“
Du antwortest: „Unvergessen blieb, was du einst verloren,
noch im Tode vernehm ich deine Stimme, die zu mir hält.“
…………………………………………………………………………………
Mich selber höre ich seufzen, beinah gelähmt vor Angst.

 

 

 

Hundert Gedichte über die Liebe

Über den Dichter Nikolaj Gumilijow, der ihr erster Ehemann werden sollte, sagte sie:

Ob ich ihn liebe, weiß ich nicht, aber ich glaube es.

Über ihr Heimatland, in dem ihre Gedichte jahrzehntelang nicht gedruckt, ihre Angehörigen verbannt und ermordet wurden, sagte sie:

Ich kenne überhaupt kein Land, in dem man Gedichte mehr lieben würde als in unserem und wo man sie mehr brauchen würde als bei uns.

Anna Achmatowa ist die berühmteste Dichterin der UdSSR und Russlands geworden, verehrt von ihren Lesern, hochgeschätzt von den Kolleginnen und Kollegen. Der vorliegende Band versammelt ihre hundert schönsten Liebesgedichte. Sie handeln von Freude und Leid, Erwartung und Enttäuschung, Erfüllung und Traum:

Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne.

Jutta Bauer hat die Anthologie mit ihren unverwechselbaren Illustrationen zu einem idealen Geschenkbuch für gegenwärtige und zukünftige Liebende gestaltet.

Insel Verlag, Ankündigung

 

Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne.

– Hundert Gedichte über die Liebe. –

Anna Achmatowa gehört in Deutschland – obwohl es seit den 60er Jahren schon einige Ausgaben mit Übersetzungen ihrer Lyrik gibt – etwa im Vergleich zu Majakowski – noch immer zu den weniger bekannten Namen. Deshalb verdient jeder neue Versuch, diese größte russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Heimat fast sakrale Verehrung genießt, dem deutschen Leser nahezubringen, aufmerksamste Beachtung. Verkörpert Anna Achmatowa doch allein schon mit ihrer erschütternden Biographie das tragische Schicksal Rußlands. Vor der Revolution das angebetete Idol einer kunstbegeisterten Jugend, durchlitt sie in den kommenden Jahrzehnten alle Bitternisse der Geschichte ihres Volkes: 1921 die Erschießung ihres Mannes, des Dichters Nikolaj Gumiljow als Konterrevolutionär, Verhaftung und Verbannung ihres einzigen Sohnes, jahrzehntelanges Druckverbot und ein Leben in Angst und Unbehaustheit, die Höllenerfahrung der Blockade Leningrads, Flüchtlingselend in Taschkent und 1946 der berechtigte ZK-Beschluß zur Literatur, in dem sie „als Dirne und Nonne, bei der sich Unzucht und Gebet verflechten“ öffentlich geschmäht wurde.
All dies ertrug Anna Achmatowa mit unwandelbarer Würde und wachsendem Sendungsbewußtsein als Dichterin. In den Jahren von 1910 bis 1922 war die elegische Liebeslyrik der vergötterten Dichterin in breiten Kreisen populär. Sie war Mitbegründerin des Akmeismus, mit dem die mystische Abstraktheit der symbolistischen Dichtung durch eine neue Sinnlichkeit, Konkretheit und klassische Klarheit überwunden wurde. In ihrer zweiten Schaffensphase, den Jahrzehnten des stalinistischen Terrors und des Kriegs, reift ihr Werk mit den Jahrhundertzyklen Requiem und Poem ohne Held zur grandios komplexen Dichtung des Gedächtnisses, in der das Leid des russischen Volkes bewahrt ist. Bis an ihr Lebensende aber hat Achmatowa auch Liebesgedichte geschrieben.
Der von Olaf Irlenkäuser herausgegebene, schön gemachte Band – mit Modiglianis berühmtem Porträt der jungen Achmatowa auf dem Umschlag bringt nun hundert dieser Gedichte in neuer zum Teil erstmaliger Übersetzung, wobei der Schwerpunkt auf dem Frühwerk liegt. Die Auswahl ist als Ergänzung zu den in deutsch vorliegenden Sammlungen sehr zu begrüßen, denn natürlich wollen wir das Gesamtwerk dieser großen Dichterin kennenlernen, auch wenn ein paar der frühen Texte in ihrer leicht manirierten Erotik – mit Bildern wie „Hermelinmantel“ oder „weißen Pfauen“ – uns heute seltsam fremd und fern erscheinen.
Die meist lakonisch knappen Gedichte und Balladen erzählen in äußerst verdichteter Form – oft enthalten sie den Stoff ganzer Romane – vom überwältigenden Schmerz der Liebe, von Eifersucht, Trennung und Tod. Häufig sind es Rollengedichte, Minidramen, in denen sich das lyrische Ich hinter verschiedenen Masken – Königin, Dienerin, Dichterin – verbirgt.
Achmatowas Verse zeichnen sich aus durch übergenau beobachtete, konkret sinnliche Details: das auf beiden Seiten schon heiße Kissen der Schlaflosen, der Handschuh der linken, der versehentlich auf die rechte Hand gezogen wird, der auf dem Ehering ruhende, trübe Blick des Geliebten. In prägnant erfaßten Dingen oder Gesten sind die überbordenden Gefühle der Liebenden im poetischen Wort aufgehoben.
Das Spezifische und Eigenartige, das Achmatowas Lyrik so unverwechselbar macht, ist ihre syntaktisch völlig natürliche, gesprochene Umgangssprache, die gleichwohl in eine strenge metrische Form mit markanten Reimen gebannt ist. Und genau hier nun liegt auch das große Problem: ihre Gedichte sind in weiten Teilen unübertragbar. Entweder man erhält die selbstverständliche und doch auf geheimnisvolle Weise klingende Leichtigkeit der Alltagssprache, muß dann aber auf den Reim verzichten, wie es etwa Sarah und Rainer Kirsch in vielen ihrer Nachdichtungen getan haben, wodurch aber etwas sehr Wesentliches vom klassischen Klang der Achmatowschen Lyrik verlorengeht. Oder – und diesen Weg geht der junge Lyriker und Übersetzer Alexander Nitzberg – man versucht das fast Unmögliche: eben nicht nur die Klarheit und Einfachheit der Syntax, sondern auch Metrum und Reim zu bewahren.
Manchmal bezahlt er das mit allzu großer Ferne vom Original, mit weit hergehalten, künstlichen Reimwörtern. Das von ihm als wesentlich Erkannte jedoch – der ruhige Fluß der Sätze – wird meist im Deutschen nachvollziehbar. Etwa in der aus nur sieben Doppelzeilen bestehenden, eine dramatische Dreiecksgeschichte von Eifersucht und Tod enthaltenden Ballade vom „grauäugigen König“, der hier allerdings aus metrischen Gründen zum „König mit samtigem Blick“ wird. Manchmal gelingen Alexander Nitzberg wunderbare, überzeugende Lösungen, wie in dem Gedicht von 1917:

Wir müssen den Abschied üben.
Schlendern zu zweit herum.
Es dämmert.
Wir gehn im Trüben.
Du grübelst.
Ich bleibe stumm.

Karla Hielscher, Deutschlandfunk, 18.5.2000 (Rezension einer anderen Ausgabe)

Das Geheule der Eule im Garten

– Warten, Hoffnung, Entsagung, Enttäuschung: Liebesgedichte von Anna Achmatowa. –

Aus der Interjektion „Ach“ erwuchs schließlich alle Lyrik, schreibt Wolfgang Kayser in Das sprachliche Kunstwerk. Ein Satz, der die Auffassung, was Lyrik sei, nachhaltig geprägt hat. Vor allem Liebesgedichte sind Ach-Gedichte. Auch die von Anna Achmatowa. Abschiede, Sehnsucht, Briefe, die nicht kommen, Schwüre, die gebrochen werden, Warten, Hoffnung, Enttäuschung, Entsagung, das ganze Repertoire von erster bis verschmähter Liebe wird aufgeboten, mit allen dazugehörigen Requisiten von Sonne, Mond und Sterne bis zu Friedhof, Grab und Telefon.
In der Mehrzahl versammelt der Band Gedichte einer knapp Zwanzigjährigen, die noch wenig mit der Welt zu schaffen hat. Zu der Achmatowa reift die Dichterin erst Jahrzehnte später, wenn zu Empfindungs- und Sprachmächtigkeit das Gedankliche als Nerv und Rückhalt ihres Werks hinzukommt.
Dem heiligen Hieronymus wird der Satz zugeschrieben, Übersetzer schleppten ihre Bedeutung nach Hause wie Eroberer ihre Gefangenen. Je zarter ihre Beute, je größer die Gefahr, dass sie den Transport nicht übersteht. Immer wird der Urtext durch Übersetzung verletzt. Nur selten gewinnt ein Original, etwa die braven Sonette der Louise Labbe in der berauschenden Übertragung Rilkes. Meist geht der Weg in umgekehrter Richtung. Das Neuartige, Überraschende, Vorrangige wird aufgegeben zu Gunsten des Gewohnten, Herkömmlichen. So auch in diesen Übertragungen. Ein Grund liegt sicher darin, dass der Übersetzer sich entschieden hat, den Reim aufrechtzuerhalten. Dies zwingt dann häufig zu einer Wortwahl und zu Umstellungen, die altbacken wirken, bisweilen lächerlich. „Sonne“ reimt sich auf „Liebesbronne“, „Arroganz“ auf „Engelskranz“, „… am Tore schallte das Gepoch; wie eine Eule / erhob der Garten ein Geheule.“ Der Lyriker Heinz Czechowski übersetzt diese Zeilen:

… Und vor der Türe heulte das Verderben
Wie Eulenruf der Garten, schwarz.

Der Reim fordert seinen Tribut in so neckischen Sentenzen wie:

Bildet wie in diesen Liebesgedichten der Ausdruck von Gemütsbewegungen den Mittelpunkt, kommt alles darauf an, ob es gelingt, dem menschheitsalten Hangen und Bangen noch einmal neue Facetten, neue Töne abzuringen.

Die Qualität steht und fällt mit frischer Sprache, unverbrauchten Bildern, originellen Fügungen. Scheinbar wie nebenher gesprochene Verse fordern allerdings den Übersetzer nicht minder, sondern eher stärker heraus als der Transfer komplexer Gedankengänge. Letztere, traditionell als Gedankenlyrik bezeichnet, verlieren zwar in der Übersetzung oft die dem Denken innewohnende Musik, doch bleibt meist wenigstens die Sichtweise, der Weg des Gedankens erhalten.

„Wir lassen nur die kurzen Treffen zu / und wahren so die gegenseitge Ruh“ oder „Will mein Teuerstes zerstören, / und dein Flehen lässt mich kalt / Wirst du mir nicht ganz gehören, / dann erschlage ich dich halt.“ So etwas sollte „die größte russische Dichterin unseres Jahrhunderts“ (Klappentext) geschrieben haben? Rainer Kirsch übersetzt:

Er flüstert: „Keine Schonung, nichts,
Für das, was ich liebe – du
Wirst bei mir sein, liebst nur mich,
Oder ich: der dich erschlug“.

Ob ein Gedicht gut oder schlecht übersetzt – und damit in der fremden Sprache in gutes oder schlechtes Gedicht – ist, entscheidet, wieweit die Originalität sprachlicher Erfindungen erkannt und gewahrt wird. Dass es letztlich das Unübersetzbare ist, was eine Sprache am Leben hält, muss dabei immer in Kauf genommen werden. Doch sollte sich ein Übersetzer bemühen, in seiner Sprache der fremden das Stück Leben neu einzuhauchen, das sie im Übertragungsprozess notwendig verloren hat. In den Übersetzungen dieser Auswahl wird allzu oft einer konventionellen „poetischen“ Sprache das Wort erteilt, wird geglättet und schöngeschrieben.
Dennoch lösen auch diese Übertragungen die Gedichte aus ihrer Fixierung in Ort und Zeit ihres Erscheinens, schaffen ihnen einen neuen Raum, stellen sie in eine neue Zeit. Das bleibt verdienstvoll. Sicher wäre Alexander Nitzberg Besseres gelungen, hätte er sich nicht an das Prokrustesbett des Reimzwangs gefesselt.

Ulla Hahn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.6.2000 (Rezension einer anderen Ausgabe)

Kein Zugang

Ich weiß: Anna Achmatowa genießt in Russland und darüber hinaus Kultstatus, sie hatte Freundschaften mit zahllosen namhaften KünstlerInnen und wird heute noch rezipiert und (neu) übersetzt, deshalb erwarb ich auch dieses Bändchen (auch weil die Insel-Bücherei für gewöhnlich ungemein schöne Bücher macht) – und dennoch: ich kann mit den Liebesgedichten wenig bis nichts anfangen. Das mag an der eher schlichten Form der Gedichte liegen (meist vierzeilige Strophen, immer gereimt) oder auch an dem klagenden Tonfall, der die Mehrzahl der Gedichte beherrscht. An der Übersetzung dürfte es nicht liegen: auch wenn ich kein Russisch beherrsche, so kann ich zumindest sagen, dass der Übersetzer Alexander Nitzberg – was Rhythmus, Reim und Klang betrifft – sehr gut gearbeitet hat; da gibt es keine halben Sachen, keine Brüche im Tonfall und keine falschen Reime usw.
Was mich hingegen wirklich stört, sind die Illustrationen von Jutta Bauer: in Kinderbüchern mögen die naiv gehaltenen Figuren und Motive hingehen (Bauer hat tatsächlich viele Kinderbücher illustriert), hier sind sie meines Erachtens deplatziert und konterkarieren die Gedichte.
Resümee: Für mich – leider – ein Fehlgriff.

Christoph Janacs, amazon.de, 14.5.2020

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Christine Gölz: Anna Achmatowa
dekoder.org, 23.76.2017

Anna Achmatowa

Ellen Hinsey: Wann sind Sie Anna Achmatowa zum ersten Mal begegnet?

Tomas Venclova: Ich denke, es war im Jahr 1963. Unsere Vermieterin Jelena Wassiljewa war mit Achmatowa persönlich bekannt, obwohl sie nicht zu ihrem unmittelbaren Umfeld gehörte. Einmal hatte Achmatowa Jelena darum gebeten, das Manuskript ihres Essays „Puschkin und das Ufer der Newa“ mit der Schreibmaschine abzutippen. Achmatowa hatte Leben und Werk von Alexander Puschkin jahrzehntelang intensiv studiert: Als die sowjetische Zensur in den dreißiger Jahren jegliche Publikation ihrer Gedichte blockierte, wurde sie zu einer professionellen Puschkin-Forscherin. Brodsky hielt sie übrigens für eine der Besten auf diesem Gebiet und für die Einzige, die Puschkin intellektuell und künstlerisch ebenbürtig war.

Hinsey: Welche Gründe hatte Achmatowa, sich mit Puschkin zu beschäftigen?

Venclova: Zum einen konnte sie damit leichter nachweisen, einer „gesellschaftlich nützlichen“ Tätigkeit nachzugehen. Zum anderen schätzte sie Puschkin mehr als jeden anderen russischen (oder fremdsprachigen) Lyriker, und sie hatte einen guten Blick für Analogien zwischen seiner Epoche und ihrer eigenen. Sie hat mich gescholten, als ich mir einmal zu sagen erlaubte, dass Puschkin für meine Generation nicht unbedingt nützlich sei.

Hinsey: Was hatte es mit dem eben erwähnten Essay auf sich?

Venclova: Der Essay „Puschkin und das Ufer der Newa“ war kein Samisdat-Unternehmen im engeren Sinne (er wurde bald darauf publiziert), aber ihm eignete das, was Achmatowa gern als „dreifachen Boden“ bezeichnete, etwas wie die Geheimfächer im Koffer eines Schmugglers. Gegenstand des Essays waren Puschkins einsame Streifzüge durch den Petersburger Stadtbezirk Wassiljeostrowski – auf den damals unbewohnten Inseln in der Newa, wo der Dichter nach den namenlosen Gräbern seiner hingerichteten Freunde suchte, die den niedergeschlagenen Aufstand der Dekabristen angeführt hatten. Genau hundert Jahre nach Puschkin war Achmatowa selbst in jenem Teil der Stadt umhergewandert, weil sie glaubte, dass ihr Ehemann Nikolai Gumiljow, ein großartiger Dichter, den die Bolschewiki hingerichtet hatten, gleichfalls dort begraben war. Diese Parallele erschloss sich nur den wenigen Menschen, die mit Achmatowa eng bekannt waren, den Zensoren musste sie entgehen.
Jelena Wassiljewa bat mich, Achmatowa das abgetippte Manuskript zu überbringen, was ich sehr gern, aber schüchtern tat.

Hinsey: Wo lebte Anna Achmatowa damals?

Venclova: Sie wohnte vornehmlich in Leningrad, zusammen mit der Familie von Nikolai Punin, mit dem sie in den zwanziger und dreißiger Jahren verheiratet gewesen war. Punin war ein avantgardistischer Kunstkritiker, auch er wurde von den sowjetischen Machthabern umgebracht: Er starb in einem Arbeitslager einige Monate nach Stalins Tod. Achmatowa besuchte Moskau regelmäßig und wohnte für gewöhnlich bei ihrer Freundin Nina Olschewskaja, deren Ehemann Wiktor Ardow – ein eher unbedeutender Satiriker, aber geistreich – die Sympathie einer Reihe von nonkonformistischen Schriftstellern, unter anderem von Michail Bulgakow und Boris Pasternak, genoss. Es war Ardow, der empfahl, Achmatowa 1951 wieder in den sowjetischen Schriftstellerverband aufzunehmen. Übrigens durfte Ardows Familie sie wie nur wenige „Akuma“ nennen, was auf Japanisch so viel wie „Hexe“ oder „Megäre“ bedeutet – ein Spitzname, den Punin erfunden hatte. Alle anderen, einschließlich Brodsky und ich selbst, nannten sie „Anna Andrejewna“. Ardows Wohnung in der Ordynka-Straße war im poststalinistischen Moskau eine nahezu legendäre Adresse. Von Jelenas Wohnung zur Ordynka war es nur ein kurzer Weg.

Hinsey: Wie verlief Ihre erste Begegnung?

Venclova: Achmatowa war allein in der ziemlich großen Wohnung der Ardows – eine untersetzte Dame mit aristokratischer Haltung (sie wurde manchmal mit Katharina der Großen verglichen), die ein wenig älter aussah, als sie es damals mit vierundsiebzig Jahren war. Wir unterhielten uns im Flur, vielleicht fünf Minuten lang – sie entschuldigte sich, dass sie mich nicht hereinbitten könne, weil ihr Zimmer nicht aufgeräumt sei. Erst bei unseren späteren Begegnungen lud sie mich in die Zimmer ein, die sie bewohnte. Ganz gleich, ob in Moskau oder Leningrad, die Räume, in denen sie sich aufhielt, glichen sich meist: ein beengtes, überfülltes Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Sofa, sonst nichts. An der Wand hingen einige Zeichnungen – vor allem das berühmte Porträt der jungen Achmatowa von Amedeo Modigliani. Ich meine es in beiden Städten gesehen zu haben; vielleicht hat es sie immer begleitet. Aber es kann sein, dass ich mich da irre.

Hinsey: Brodsky hat gesagt, dass er erst nach den ersten drei oder vier Begegnungen mit Achmatowa wirklich verstanden habe, mit wem er es zu tun hatte. Ihnen erging es anders…

Venclova: Mir war voll und ganz bewusst, mit wem ich mich unterhielt. Unnötig zu erwähnen, dass ich überaus befangen, ja nahezu gelähmt war vor Scheu. Für mich war es, als würde ich Puschkin besuchen oder Shakespeare. Im Übrigen war Achmatowa viel weniger freundlich und kommunikativ als Pasternak, jedenfalls am Anfang. Sie wahrte Distanz, war jedoch sehr höflich.

Hinsey: Sie hatten andere Lyriker des Silbernen Zeitalters durch die Bibliothek Ihres Vaters und durch Ihre Beschäftigung mit Majakowski kennengelernt – wann hörten Sie Achmatowas Namen zum ersten Mal?

Venclova: Die ersten Verse von Anna Achmatowa, die ich gelesen habe, waren jene, die Schdanow in seiner berüchtigten Rede zitiert hat: Er bezeichnete sie als „Hure und Nonne zugleich“ – Worte, die jedes Schulkind in der Sowjetunion auswendig lernen musste. Sie waren übrigens ein Plagiat und entstammten einer Enzyklopädie aus der Vorkriegszeit. Nach dem Angriff von Schdanow, also in den späten Vierzigern, habe ich einiges von Achmatowa gelesen, weil mich, wie viele andere auch, seine herabsetzenden Worte neugierig gemacht hatten. Eine verbotene Frucht erregt Aufmerksamkeit. An der Universität gelang es mir dann, ein oder zwei Lyriksammlungen von Achmatowa in die Finger zu bekommen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg gedruckt worden waren: kleinformatige Ausgaben, abgegriffen von Generationen von Lesern. Mein Vater jedenfalls hat seine Bewunderung für das Werk von Achmatowa im Familienkreis nie verhehlt. Manchmal las er frühe Gedichte von ihr laut vor, in seiner Bibliothek gab es eine alte Anthologie, in der viele von Achmatowas Gedichten zu finden waren. Er begrüßte es, als Schdanows Verdikt aufgehoben und 1961 ein neuer Band von ihr – wenngleich schmal und stark zensiert – publiziert wurde. Im Jahre 1963 war ich mit ihrem Werk bereits gut vertraut – zum Teil durch den Samisdat.

Hinsey: Während dieses ersten Besuchs bei ihr haben Sie sich über das Übersetzen unterhalten, Achmatowa vertrat hier einige sehr entschiedene Ansichten.

Venclova: Jelena Wassiljewa hatte Achmatowa am Telefon von mir und meinen Interessen erzählt. Nachdem Achmatowa das Manuskript an sich genommen hatte, sagte sie zu mir: „Ich habe gehört, Sie übersetzen Pasternak. Das ist zweifellos schwer, er ist so überraschend. Grundsätzlich sollte man, wenn man selbst Gedichte schreiben kann, das Übersetzen meiden. Doch es mag vorkommen, dass ein Dichter darin seine Berufung findet – Schukowski, zum Beispiel. Oder Schengeli, dessen Übertragung von Byrons Don Juan für mich besser klingt als das Original. Aber Byron ist meiner Meinung nach auch nicht der beste Dichter.“
Achmatowa selbst konnte das Übersetzen nicht vermeiden, weil es viele Jahre lang die einzige Möglichkeit war, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Gegensatz zu Pasternak war sie dieser Tätigkeit ziemlich abgeneigt. Einen Großteil übersetzte sie anhand von wörtlichen Interlinear-Übersetzungen, die andere angefertigt hatten. Übrigens hat sie, mit Hilfe der entsprechenden Philologen, sogar an chinesischen und koreanischen Klassikern gearbeitet – akademische Projekte, auf die sie stolz sein konnte. In anderen Fällen hingegen war sie ein wenig nachlässig und gab ihren Namen für Übersetzungen von Anfängern her, die sonst nicht publiziert worden wären. Achmatowa unterschrieb einfach und leitete die Honorare an die tatsächlichen Übersetzer weiter.

Hinsey: Unter Achmatowas Auftragsarbeiten waren auch Übertragungen aus dem Litauischen.

Venclova: Achmatowa sagte zu mir: „Ich habe auch Dichter Ihres Landes übersetzt.“ Ich antwortete: „Ja, Sie haben an Salomėja Nėris gearbeitet.“ Darauf waren die Litauer sehr stolz, Achmatowas Freundin Lidija Tschukowskaja hat in ihrem Tagebuch vermerkt, dass Achmatowa einmal ein bewegendes Gedicht von Nėris rezitiert hat. „Aber nicht nur sie“, sagte Achmatowa, „sondern auch eine Lyrikerin des neunzehnten Jahrhunderts.“ Sie meinte Eglė, eine eher unbedeutende Autorin – und, wie es der Zufall wollte, eine enge Freundin meines Großonkels Karolis. Ich vermute, dass die Übersetzungen von Eglės altmodischen Balladen zu jenen karitativen Gesten Achmatowas zählten – also eigentlich von jemand anderem stammten.

Hinsey: Haben Sie sich über andere litauische Angelegenheiten unterhalten? Hatte sie Litauen vor oder nach der Revolution besucht?

Venclova: Später, als ich Achmatowa regelmäßig traf, sagte sie zu mir: „Sie sind der zweite Litauer in meinem Leben.“ Der erste war Wladimir Schileiko, den sie nach Gumiljows Tod geheiratet hatte. Schilejko, ein Dichter und brillanter Assyrologe, der sumerische Texte ins Russische übertragen hat, starb – glücklicherweise – eines natürlichen Todes in der Stalin-Zeit. Er war tatsächlich litauischer Abstammung, jedoch aus einer russifizierten Familie und sprach kein Litauisch. Achmatowa bezeichnete ihn bisweilen als „Desaster von einem Ehemann“.
Vilnius hatte sie nur einmal besucht, und zwar 1914, mit fünfundzwanzig Jahren. Es war zu Weihnachten, sie begleitete Gumiljow, der in die Armee einberufen worden war und an die russisch-deutsche Front geschickt werden sollte. Sie wohnten in einem Hotel neben dem Aušra-Tor, das die Ikone der Madonna beherbergt, die als wundertätig galt – und noch immer gilt. Achmatowa betete an dieser Ikone für den Schutz ihres Mannes im Krieg. Gumiljow blieb der Tod an der Front tatsächlich erspart, es waren nicht deutsche Kugeln, die ihn umbringen sollten, sondern eine sowjetische im Jahre 1921.

Hinsey: Haben Sie mit Achmatowa über Ihren Vater gesprochen? Kannten sich die beiden?

Venclova: Wir haben nie über meinen Vater gesprochen. Sein Name war ihr wahrscheinlich nicht unbekannt, weil er ein exponierter Literat war. Sie sind sich nie begegnet, aber als mein Vater von unserer Bekanntschaft erfuhr, schickte er ihr ein Geschenk – seinen Lyrikband über Italien mit modernistischen Zeichnungen von einem jungen litauischen Künstler, Stasys Krasauskas, der zu jener Zeit in der ganzen Sowjetunion bekannt war. Vielleicht steht das Buch noch heute in ihrem Archiv.

Hinsey: Achmatowa wurde 1889 geboren. Als die russische Revolution ausbrach, waren ihre ethischen und ästhetischen Anschauungen bereits gefestigt.

Venclova: Sie war das menschliche Bindeglied zu einer anderen Ära, nicht nur zum Silbernen Zeitalter, sondern zur gesamten Tradition der russischen Kultur. In erster Linie repräsentierte sie Sankt Petersburg und sein Erbe, das zurückgeht bis zu Puschkin, sogar zu Kantemir, dem ersten professionellen russischen Dichter, der zu Zeiten von Peter dem Großen gelebt hat. Es war ein poetisches Erbe, aber auch ein ethisches: Dieses bestand in der Loyalität zu den eigenen Freunden, dem beharrlichen, doch ruhigen Widerstand gegen die Brutalität des Staates und, last but not least, in Ironie und Selbstironie. Man könnte sogar noch weiter gehen – zu dem Protopopen Awwakum und seiner Anhängerin Morosowa, jenen beiden Märtyrern des siebzehnten Jahrhunderts, die Achmatowa bisweilen erwähnt hat. Kurz, sie repräsentierte den festen Glauben an eine Wertehierarchie: Gut und Böse mussten beim Namen genannt werden. Im Gespräch mit ihr erwachte ein Bewusstsein dafür, dass diese Wertehierarchie und authentische Dichtung aufs engste – wenn gleich nicht unbedingt direkt – miteinander verbunden waren. Ein wirksames Gegengift gegen den Zusammenbruch der Moral in der Sowjetzeit und auch gegen die sowjetische oder semisowjetische Literatur.

Hinsey: Nadeschda Mandelstam sagt, Achmatowa und sie hätten sich sehr dafür interessiert, „was Tapferkeit ist“. Sie seien zu dem Schluss gelangt, dass „Tapferkeit, Mut und Kühnheit keine Synonyme sind“. Aus welcher Quelle, glauben Sie, hat Achmatowa ihre Kraft geschöpft?

Venclova: Es war die Tapferkeit, würde ich sagen. Mut und Kühnheit sind moralisch neutral – Charakterzüge, die typisch waren für viele Revolutionäre, deren Handeln letztlich das Böse befördert hat. Tapferkeit hingegen ist gewöhnlich ein Zeichen moralischer Stärke. Sowjetische Dissidenten waren grundsätzlich mutig und meist auch kühn, doch mangelte es vielen von ihnen an Tapferkeit, was ihre Ziele bisweilen in Misskredit brachte. Auf die beiden alten Frauen trifft das nicht zu, die in der vorrevolutionären Tradition mit ihren jüdisch-christlichen Wurzeln erzogen wurden. Brodsky hat einmal über Nadeschda Mandelstam gesagt, sie sei eine von nur sehr wenigen Personen im Land, für die die zehn Gebote noch immer Geltung hätten. Achmatowa übertraf sie in dieser Hinsicht vielleicht sogar.

Hinsey: Sie haben sich viele Jahre mit diesem Thema beschäftigt. Warum, glauben Sie, wurde Achmatowa selbst nie verhaftet?

Venclova: Der stalinistische Terror glich einer Lotterie. Man konnte völlig loyal sein und trotzdem umkommen, man konnte als „Volksfeind“ gelten und überleben. Ich glaube, dass diese Willkür Methode hatte: Niemand konnte sich seines Schicksals sicher sein, was Stalin sehr zum Vorteil gereichte. Im Übrigen hat sich Stalin in der Literatur ziemlich gut ausgekannt und die Bedeutung von Autoren regelmäßig richtig eingeschätzt: Pasternak, Bulgakow oder Platonow waren wertvoller als Schmierfinken besonders, wenn sie sich in Lobsänger des Regimes verwandeln ließen (im Falle von Bulgakow und Pasternak war Stalin dem Erfolg nahe). Drittens spielte vielleicht auch ein sadistisches Element eine Rolle: Achmatowa hatte ihren Ehemann und mehrere andere Menschen verloren, die sie liebte. Ihr Sohn wurde verhaftet, entlassen, erneut verhaftet. Sie selbst wurde von der offiziellen Presse verunglimpft, in Schulbüchern als Hure beschimpft, ihr Werk jahrzehntelang unterdrückt. Und das war vielleicht schlimmer als die Hinrichtung oder ein Straflager, wo man unter Umständen schneller von seinem Leid befreit worden wäre.

Hinsey: Achmatowa wurde von jüngeren Lyrikern immer wieder um Ratschläge gebeten, und sie war immer sehr taktvoll. Später zeigte sich, dass sie für solche Erwiderungen eine Reihe von vorgefertigten Antworten parat hielt. Können Sie erklären, wie das funktioniert hat?

Venclova: Achmatowa war eine gute Erzählerin und verfügte über zahlreiche Anekdoten aus dem wahren Leben, die sie wortwörtlich rezitierte. Sie bezeichnete sie gern als ihre „Grammophon-Aufzeichnungen“. In den Sechzigern wurde sie von jungen Leuten geradezu belagert, die sich von ihr Ermutigung für ihre Schreibereien erhofften. (Einmal wurde ihr mein Freund Jewgeni Lewitin, ein Kunstkritiker, vorgestellt. Nach einigen einführenden Höflichkeiten sagte Achmatowa: „Nun denn, beginnen Sie mit dem Vortrag Ihrer Gedichte.“ – „Welche Gedichte?“, erwiderte Lewitin. „Ich habe in meinem Leben noch keinen einzigen Vers geschrieben!“ – „Gelobt sei der Allmächtige!“, rief sie aus. „Endlich ein normaler Mensch!“) Aber sie empfand Mitleid mit jungen Künstlern und hatte ein feststehendes Reservoir von höflichen Antworten, mit denen sie auf die Versuche der jungen Leute reagierte – auch eine Art von „Grammophon-Aufzeichnungen“. Wenn sie zum Beispiel sagte: „Ihre Reime sind erstaunlich“ oder: „Sie sind ein Meister der Metapher“, dann bedeutete dies, dass die Gedichte zu wünschen übrig ließen, woraufhin man erwägen würde, sich in die Newa zu stürzen. Wenn die Texte jedoch gut waren, bemerkte sie: „Diese Gedichte haben etwas Geheimnisvolles.“ Das war es, was sie dem jungen Brodsky sagte und auch Natascha Gorbanewskaja.

Hinsey: Es gibt diese berühmte Anekdote über Solschenizyn, der ihr einige seiner Gedichte gezeigt hat.

Venclova: Solschenizyn hatte im Gulag begonnen, Gedichte zu schreiben – seine Verse (von denen einige inzwischen veröffentlicht wurden) waren direkt und prinzipiell politisch. Er war bereits berühmt, als er Achmatowa besuchte. Sie schätzte seine Prosa sehr, konnte aber ihre Enttäuschung über seine Lyrik nicht verhehlen. Sie sagte: „Nun ja, Ihren Gedichten mangelt es etwas an Geheimnis.“ – Solschenizyn entgegnete: „Nun ja, Anna Andrejewna, vielleicht haben Ihre Gedichte ja zu viel Geheimnis.“

Hinsey: Im Frühling 1964 haben Sie mit Judita Vaičiūnaitė zusammen an Gedichtübersetzungen für einen Achmatowa-Band gearbeitet. Wie ist es zu diesem Buch gekommen?

Venclova: Nach 1961 war Achmatowas lyrisches Werk nicht mehr vollständig verboten – jener schmale Band, den ich bereits erwähnt habe, war erschienen, eine größere Auswahl in Vorbereitung. Damals begann der Vilniuser Staatsverlag, eine Reihe von Büchern sowjetrussischer Autoren in litauischer Übersetzung herauszubringen. Das entsprach durchaus der offiziellen Politik der „Völkerfreundschaft“, hatte aber dennoch eine liberale Note: Einige der ausgewählten Lyriker, wie zum Beispiel Sabolozki, vertraten nicht unbedingt sowjetische Ansichten, und die Bücher (gewöhnlich fünf Bände in einem Schuber) wurden sorgfältig hergestellt. Meine langjährige Freundin Judita Vaičiūnaitė, eine bereits bekannte und publizierte Lyrikerin, bot sich als Kandidatin für Nachdichtungen von Achmatowa schon deshalb an, weil die litauische Kritik beide miteinander verglich. Viel später, unter Gorbatschow, hat Judita auch das Requiem übertragen. Der überwiegende Teil der Übertragungen war von ihr; ich erhielt die Möglichkeit, achtzehn Gedichte zu übersetzen – vielleicht eine Geste von Seiten des Verlages, dass ich kein unverbesserlicher Feind sei und unter Umständen noch ein normaler sowjetischer Literat werden könnte.
Dieser Auftrag war mein erstes großes literarisches Projekt, eine Aufgabe, die ich sehr ernst genommen habe. Ich kannte Achmatowas Werk auswendig und übersetzte sie auf meinen Spaziergängen durch die Gassen von Vilnius, indem ich die Bewegung ihrer Lyrik mit dem Rhythmus meiner Schritte in Übereinstimmung zu bringen suchte. Erst später brachte ich die Übertragungen zu Papier. Als ich mit dem ersten Gedicht fertig war, blieb ich in einem Innenhof, der am Weg lag, stehen und wurde mit einer unwahrscheinlich schönen Aussicht auf die Kirchtürme von Vilnius belohnt, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Es ist bis heute einer der denkwürdigsten Augenblicke meines Lebens.

Hinsey: Sie haben Achmatowa diese Übersetzungen nach Moskau gebracht.

Venclova: Als das Buch erschien, habe ich der Autorin das erste Exemplar als Geschenk von Judita und mir überreicht (Judita ist Achmatowa leider nie begegnet, sie verließ ihre Vilniuser Wohnung selten). Zu dieser Zeit war ich der Dichterin bereits zum zweiten Mal vorgestellt worden – Andrei Sergejew, der zu ihrem engsten Kreis gehörte, nahm mich einmal zu einem Besuch bei ihr mit. Ich saß mehrere Stunden da und lauschte ihrem Gespräch, wieder nahezu gelähmt.
Wie war Achmatowas erste Reaktion auf Ihre Übertragungen? Achmatowa begann mit den Worten: „Litauisch ist außergewöhnlich – ich bin stolz darauf, dass meine Gedichte in dieser Sprache publiziert worden sind. Bitte lesen Sie mir ein oder zwei Gedichte vor.“ Ich war ziemlich aufgeregt, aber ich las. Nach dem zweiten Gedicht sagte sie: „Sie haben die Intonation richtig übertragen.“ Da ich von Sergejew über Achmatowas „Grammophon-Aufzeichnungen“ informiert war, verstand ich sehr gut, dass sie die Übertragungen für misslungen hielt. Ich murmelte irgendwas, ließ das Buch auf ihrem Schreibtisch liegen und verabschiedete mich schnell. Als jungen Dichter hat mich das in einen fast suizidalen Zustand versetzt.

Hinsey: Am selben Tag ist dann auch noch der russische Philologe Wjatscheslaw Iwanow bei ihr gewesen.

Venclova: Damals war Wjatscheslaw Iwanow noch ein relativ junger Mann und galt schon als einer der gebildetsten und klügsten Menschen in Russland – jetzt ist er ein berühmter Gelehrter, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, ein Mensch mit strengen, unerschütterlichen liberalen Ansichten und dem Milieu der Dissidenten verbunden. Nadeschda Mandelstam pflegte zu sagen, dass seine gute Bildung auf glückliche Umstände zurückzuführen sei – aus gesundheitlichen Gründen hatte er nie eine sowjetische Schule besucht und deshalb lesen dürfen, was ihm gefiel. Er war der Sohn des bekannten Prosaikers Wsewolod Iwanow, von Kindheit an mit Pasternak und Achmatowa bekannt und ein enger Freund und Vertrauter von ihnen. Er wurde „Koma“ genannt- zur Unterscheidung von dem anderen Wjatscheslaw Iwanow, dem symbolistischen Dichter und Philosophen, der 1949 als Emigrant in Rom gestorben war.
Koma Iwanow hat Achmatowa häufig besucht und schaute zufällig kurz nachdem ich gegangen war bei ihr vorbei. Das Buch lag noch auf ihrem Schreibtisch und war auf der Seite mit meiner Übersetzung geöffnet. Koma beherrscht ungefähr fünfzig Sprachen fließend, einschließlich Hethitisch und Ainu, sein Litauisch ist so gut wie meines. Er las die Übersetzung und sagte Achmatowa, dass er sie für ziemlich gelungen halte. Daraufhin rief Achmatowa Jelena an und lud mich ein, sie zu besuchen, „sooft ich möchte“. In ihr zweites Exemplar des litauischen Buches schrieb sie die folgende Widmung: „Für Tomas Venclova – meine eigenen Verse, die für mich trotzdem ein Geheimnis bleiben.“ Achmatowas Schlüsselwort, „Geheimnis“, stand da, zu meiner großen Freude.

Hinsey: Danach sind Sie sich immer wieder begegnet. Wie sind diese Treffen für gewöhnlich abgelaufen?

Venclova: Ich habe Achmatowa von Zeit zu Zeit angerufen, und wir haben Tag und Uhrzeit verabredet. Manchmal habe ich Wein oder sogar Wodka mitgebracht. Sie hatte nichts gegen ein oder zwei Gläser und war der Ansicht, dass Wodka in ihrem Alter besser sei als Wein, weil er die Gefäße erweitert. Oft waren auch andere anwesend: Anatoli Naiman, eine Art persönlicher Sekretär von ihr, Punins Enkeltochter Anja Kaminskaja oder mein alter Freund Dmitri Seseman, den Achmatowa sehr schätzte. Wir sprachen über alles Mögliche, von Puschkin über das Silberne Zeitalter bis hin zu aktuellen Ereignissen. Sie war sehr au courant, was die literarische und politische Szene betraf, und vertrat entschiedene Meinungen. Sie hegte keinerlei Illusionen über das Regime, aber gelegentlich konnte sie auch ein gutes Wort für Chruschtschow aufbringen: „Man kann sagen, was man will, er hat Millionen von Häftlingen freigelassen.“ In unsere Gespräche mischten sich bald Humor und Verspieltheit. Einmal erschien Natascha Gorbanewskaja in Achmatowas Wohnung, unangemeldet wie meistens. Achmatowa sagte mit einem verschmitzten Lächeln zu Anja: „Bitte sage Natascha, dass ich sie nicht gleich empfangen kann – ich bin mit einem jungen Mann beschäftigt.“

Hinsey: Achmatowa wusste, dass sie unter Beobachtung des KGB stand, und befürchtete, dass ihre Wohnung umfassend abgehört würde. Ist seit dem Ende der Sowjetunion etwas darüber bekannt geworden, welches Ausmaß diese Überwachung hatte?

Venclova: Es besteht kein Zweifel daran, dass sie überwacht wurde. In welchem Umfang, das aber ist nicht bekannt; die gesamte russische Intelligenzija neigte ja zu einer Art Verfolgungswahn, während die jüngere Generation diesen Dingen insgesamt weniger Aufmerksamkeit schenkte. Ich denke, der KGB hat traditionellere Methoden bevorzugt: etwa die Beschattung von Achmatowa und vielen anderen. Einige ihrer Freundinnen waren tatsächlich Informantinnen des KGB, wie sich herausstellte, als nach dem Zusammenbruch des Regimes bestimmte Archive geöffnet wurden.

Hinsey: Hat Achmatowa Ihnen ihre Gedichte vorgetragen oder Verse von anderen Lyrikern, die sie mochte?

Venclova: Ja, wenn auch nicht oft. Einmal war ich bei einem besonderen Ereignis zugegen – Radio Moskau kam zu ihr nach Hause, um fünf oder sechs Gedichte aufzuzeichnen. Sie rezitierte mit der tiefen, intensiven Stimme einer tragischen Schauspielerin. Ein anderes Mal trug sie mir mehrere, bis dahin unbekannte Gedichte von Mandelstam vor, die Freunde in Archiven gefunden hatten, danach gab sie mir die Texte. Einer der Dichter, die sie öfter erwähnt und zitiert hat, war Gumiljow: Achmatowa fand, er würde unterschätzt und sei weder von den Lesern noch von der Kritik jemals wirklich verstanden worden. Sie schätzte Blok sehr, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung („er hatte keine wirkliche Anhängerschaft“). Über Pasternak sprach sie freundlich und nannte ihn stets „Boris“, aber Doktor Schiwago und seine Gedichte der dreißiger und vierziger Jahre haben ihr offenkundig nicht behagt.

Hinsey: Achmatowa las fließend Italienisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Shakespeare hatte sie als junges Mädchen zu lesen begonnen, auch die großen Werke des Modernismus waren ihr vertraut. Haben Sie über ihre Lektüre gesprochen?

Venclova: Ja. Sie bewunderte Kafka und fand, dass ihr eigenes und sein Werk viel gemeinsam hätten. Es war ihr nicht gelungen, in der UdSSR ein Exemplar von Das Schloss aufzutreiben: Ich gab ihr eine Zusammenfassung, weil ich es auf Polnisch gelesen hatte. Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen war sie nicht frankophil, sondern anglophil: Ich denke, Joseph Brodsky hat diese Vorliebe von ihr geerbt. Sie behauptete oft, dass die modernistische französische Malerei die französische Lyrik der Moderne verdrängt habe, und sie war auch keine Anhängerin von Surrealisten wie Max Jacob oder Paul Eluard: „Das ist nicht Freiheit, sondern Willkür.“ Aber sie wusste außerordentlich viel über Shakespeare und Shelley. Ulysses hatte sie vier- oder fünfmal im Original gelesen und bekannte, dass sie das Werk erst während der letzten Lektüre vollständig verstanden habe. Diese Beschäftigung hatte ihr geholfen, die schlimmsten Zeiten des Stalinismus zu überstehen. Auch an T.S. Eliot war sie sehr interessiert, sie kannte sein gesamtes Werk, manche Teile sogar auswendig. Hemingway hielt sie, mit Nadeschda Mandelstam und anders als Pasternak, für nichtssagend und gab entschieden William Faulkner den Vorzug.

Hinsey: Achmatowa war über Irrtümer in der Forschung über ihr Leben ziemlich beunruhigt.

Venclova: In den sechziger Jahren begannen die Memoiren von Emigranten in die UdSSR einzusickern, in denen Achmatowa eine Rolle spielte. Sie missfielen ihr zutiefst, vor allem die Erinnerungen ihrer Bekannten aus der Zeit vor der Revolution, zum Beispiel von Georgi Iwanow und Sergei Makowski, die sie für besonders verleumderisch hielt. Ich habe oft harte Worte von ihr über die beiden gehört. Andrei Sergejew versuchte, sie mit Iwanow auszusöhnen, indem er sagte, es handele sich bei dessen Buch streng genommen nicht um Memoiren, sondern eher um eine epische Saga über russische Schriftsteller, die gegen den Bolschewismus opponierten. Aber Sergejew hatte keinen Erfolg mit diesen Versuchen. Achmatowa arbeitete mit der jungen britischen Forscherin Amanda Haight an einem Versuch, auf diese Memoiren zu antworten. Das Ergebnis war ein gutes, wenn auch bescheidenes und fragmentarisches Buch mit dem Titel Anna Akhmatova: A Poetic Pilgrimage, das nach Achmatowas Tod erschien.1 Es präsentiert ein Bild von Achmatowa, das die Dichterin im Wesentlichen selbst geschaffen hat.

Hinsey: Einige Werke von Achmatowa haben sich nicht erhalten, wie zum Beispiel ihr Versdrama Enuma Elisch. Es entstand 1942 in Taschkent, wohin sie während des Krieges evakuiert worden war.

Venclova: In den Sechzigern, als ich sie häufiger besuchte, war sie intensiv mit diesem Versdrama beschäftigt, vor allem weil sich ein Theater in Düsseldorf mit der Absicht an sie gewandt hatte, es aufzuführen. Das Drama – das sie lieber als Tragödie bezeichnete – war ein kompliziertes, teilweise satirisches Werk über ihre Erfahrung mit dem totalitären Universum – eine Art Vorwegnahme von Schdanows Angriff und allem, was folgen sollte. Den exotischen Titel hatte sie einer babylonischen Dichtung entnommen, dem ältesten erhalten gebliebenen kosmologischen Text der Menschheit, der noch vor der Genesis entstanden war. Er bedeutet „Als droben…“ Achmatowas Interesse an solchen Texten kam von Schilejko. Sie hat das Manuskript vermutlich 1944 vernichtet, wohl eher aus privaten als aus politischen Gründen. Etwa 1964 begann sie, Enuma Elisch aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, und veränderte es dabei. Vollendet hat sie es nie.
Sie hat mir und anderen des öfteren Auszüge aus Enuma Elisch vorgelesen – Monologe oder Dialoge in Versen, die auch als eigenständige Gedichte angesehen werden konnten – einige glichen poetischen Texten, die ich bereits kannte. Es ging um den Prozess gegen eine Dichterin und erinnerte ein wenig an Kafka. Sie sprach auch gern davon, dass ihre Kontakte mit dem Theater in Deutschland ihren Niederschlag im Text finden und ein Teil von ihm werden sollten. Das Theater erkannte die große Bedeutung der erhaltenen Fragmente: Sie seien, so schrieb das Theater, „jedem anderen Stück von heute um zehn Schritte voraus“.

Hinsey: 1963 wurde Requiem in russischer Sprache in Westdeutschland publiziert. Unter welchen Bedingungen haben Sie es zum ersten Mal lesen können?

Venclova: Ich habe es in einer Samisdat-Version gelesen, bevor es gedruckt wurde. Die Münchner Ausgabe von 1963 lag auf Achmatowas Schreibtisch, als ich sie zum zweiten Mal besuchte, also noch vor Erscheinen der litauischen Ausgabe. Die sowjetischen Machthaber hatten beschlossen, sich jeglicher Reaktion auf die „kriminelle“ Publikation zu enthalten. Nach der Affäre Pasternak waren sie bemüht, Skandale um berühmte Autoren zu vermeiden. Achmatowa war sichtlich zufrieden, sowohl damit, dass das Buch nun endlich auch einem breiteren Publikum zugänglich wurde, als auch mit dem Ausbleiben einer Reaktion von Seiten der Regierung – obwohl sie ihre Situation weiterhin für heikel hielt. Einzig ihr Porträt auf dem Einband – eine Zeichnung von Saweli Sorin – missfiel ihr.

Hinsey: Welche Einblicke in ihr Verständnis von der Dichtkunst hat sie Ihnen gewährt?

Venclova: Es widerstrebte ihr, viel darüber zu sprechen: Für sie gehörte dies zum Bereich des Sakralen und Rätselhaften, das am besten mit Schweigen übergangen wurde. Doch aus ihren Bemerkungen über einzelne Autoren und Gedichte konnte man einige ihrer Ansichten erahnen. Sie hielt das traditionelle dichterische Verfahren, das auf Puschkin zurückgeht, für einen integralen Bestandteil jedes wertvollen Werks. Dies hing für sie mit einem Sinn für Harmonie und Ordnung zusammen – und mit Geschmack. Guter Geschmack wiederum ließ sich für Achmatowa nicht von Ethik trennen. Aus diesem Grunde musste man ein Meister des Handwerks sein, bewandert in allem, was Rhythmus, Klangmuster und so weiter betrifft, aber das war gewissermaßen nur die Grundlage: Die Dichter sollten sich von der Sprache selbst leiten lassen. In einem höheren Sinne wird das Gedicht von einer gewissen unbeschreiblichen Macht diktiert – vielleicht von Gott (Achmatowa war gläubig, doch niemals demonstrativ) oder vom Geist eines ganzen Volkes. Der Part der Inspiration war das schwierigste – man musste mit der Möglichkeit des Scheiterns rechnen, also damit, dass aus einem Gedicht nicht mehr als eine – vielleicht sogar brillante – technische Übung wurde. Für Achmatowa war die Dichtung auch eine Angelegenheit von Tapferkeit und Stoizismus. Den gefeierten Lyrikern der „Tauwettergeneration“ wie Jewtuschenko, Wosnessenski und Achmadulina stand sie äußerst skeptisch gegenüber: Aus ihrer Sicht waren sie oberflächlich, allzu sehr an unmittelbarem Erfolg und übertriebener Innovation interessiert, ihnen fehlte das ethische Rückgrat. In diesem Zusammenhang erwähnte sie oft Balmont und Sewerjanin – zwei Lyriker des Silbernen Zeitalters, die unvergleichlich populärer gewesen waren als Mandelstam oder Zwetajewa, sich aber auf lange Sicht als zweitrangige Dichter erwiesen hatten.

Hinsey: Über dem Tor des Hauses an der Fontanka in Leningrad, wo Achmatowa gelebt hat, stand die Inschrift „Deus conservat omnia“, die in Ihrem Gedicht „Nach der Vorlesung“ zitiert wird – eine vielschichtige Reverenz an die Dichterin.

Venclova: Dieses Gedicht ist der Versuch, etwas von Achmatowas Auffassung der künstlerischen Arbeit zu vermitteln. Ihren Monolog habe ich erfunden, aber ich hoffe, dass sie die Aussagen akzeptabel gefunden hätte.
Die Worte „Deus conservat omnia“ stehen in Einklang mit Achmatowas fester Überzeugung, dass das Gedächtnis eine Form von höherer Gerechtigkeit sei, fähig, alles – Gutes wie Böses – zu vergelten. Das Gedächtnis war der rote Faden ihrer Philosophie. Durch die Bewahrung der Welt – oder wenigstens ihrer Fragmente – in Versen konnte ein Mensch ihrer Ansicht nach Gott ebenbürtig werden.

Hinsey: Achmatowa glaubte, dass alle Dichter in gewisser Weise Hellseher sein müssen, und neigte dazu, mit ihnen „über den Äther“ zu kommunizieren. Hat dies auch Ihre Beziehung berührt?

Venclova: Nein, aber wir sprachen manchmal darüber. Einmal habe ich gesagt, dass Gumiljow in seinen späten Werken ein mystischer Dichter gewesen sei. „Nun ja, jeder Dichter ist ein Mystiker“, hatte Achmatowa erwidert, „aber Gumiljow war auch ein Hellseher, er hat im wahrsten Sinne des Wortes die Zukunft gesehen. Er hat zum Beispiel gewusst, dass Flugzeuge sehr schwer werden würden, was sie heute auch sind, obwohl sie zu seiner Zeit noch leicht und wenig leistungsstark waren.“

Hinsey: Achmatowa ist für ihre tiefgründige und meisterhafte Lyrik berühmt, doch waren die Menschen, die ihr begegneten, von ihrem wunderbaren Sinn für Humor und für das Absurde begeistert. Einmal besuchte sie ein schwedischer Professor, der über ihre Lyrik arbeitete. Was sie an diesem Treffen am stärksten beeindruckte, war sein weißes Hemd. „Wir haben die Revolution, Kriege und Blutvergießen aller Art erlebt“, sagte sie, „während die Schweden dieses Hemd gewaschen und gebügelt haben…“

Venclova: Viele ihrer geistreichen Bemerkungen sind in Michail Ardows Buch festgehalten – Michail, Wiktor Ardows Sohn, ist später ein russisch-orthodoxer Priester geworden. Einige ihrer Bonmots aber sind seiner Aufmerksamkeit entgangen. Da gab es zum Beispiel die Geschichte über einen sowjetischen Redakteur, der verlangte, sie solle das Wort „Engel“ aus einem ihrer Gedichte streichen. Er begründete seine Forderung mit der vollkommen marxistischen Aussage: „Engel existieren nicht.“ – „Nun, was existiert denn dann?“, fragte Achmatowa. Eine andere Geschichte, die nur wenigen bekannt ist, betrifft ihre Beziehung zu Pasternak. Eines Abends gingen sie zusammen durch die Straßen von Moskau und unterhielten sich über den eher zweitrangigen Schriftsteller Sergei Spasski, dessen Gedichte Pasternak über Gebühr lobte. Plötzlich fiel Pasternak auf die Knie und machte Achmatowa einen Heiratsantrag. „Lieber Boris“, sagte sie sanft, „ich bin nicht Spasski.“

Hinsey: Im Dezember 1964 erhielt Achmatowa die Erlaubnis, nach Italien zu reisen, um den Ätna-Taormina-Preis anzunehmen, am 4. Juni 1965 wurde ihr in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen. Hat sie mit Ihnen über diese Reisen gesprochen? Wie hat sie ihren Ruhm aufgenommen?

Venclova: Als Dmitri Seseman sie fragte: „Wie hat Ihnen Italien gefallen, Anna Andrejewna?“, erwiderte sie: „Es war zu spät.“ Sie hatte Norditalien – überhaupt Westeuropa – als junges Mädchen besucht, vor der Revolution. Doch die Reisen nach Taormina und Oxford gehörten zu ihren Lieblingsthemen. Sie war glücklich, Rom gesehen zu haben (ich glaube, sie war nie zuvor dort gewesen), sprach aber von der „verdächtigen Stadt, in der Gott höchstwahrscheinlich mit Satan konkurrierte“. Andererseits hat sie es nicht geschafft, Venedig zu sehen, und mit einem Anflug von Humor berichtete sie, das Wasser, das im Bahnhof an die Räder ihres Zuges spritzte, sei ihr einziger Eindruck von Venedig gewesen. Sie war sich durchaus bewusst, dass der Ätna-Taormina-Preis eine Art Generalprobe für den Nobelpreis war, und das erfüllte sie zweifellos mit Stolz, trotzdem nahm sie es unbeschwert.

Hinsey: Im Jahre 1961 wurde ein Gesetz gegen das Schmarotzertum verabschiedet, mit der Absicht, Künstler und Freigeister ohne festes Arbeitsverhältnis unter Kontrolle zu bringen. Im November 1963 erschien in der Zeitung Wetscherni Leningrad ein Artikel, der Brodsky beschuldigte, ein literarischer Parasit zu sein. Am 13. Februar 1964 wurde Joseph Brodsky verhaftet, fünf Tage später begann sein Prozess. Achmatowa hat Brodsky sehr nahegestanden. Hat sie mit Ihnen über diese Ereignisse gesprochen?

Venclova: Den Namen Brodsky hatte ich, wie schon erwähnt, zum ersten Mal 1960 gehört, an dem Tag, an dem Pasternak starb. Begegnet bin ich ihm erst 1966, aber ich kannte und schätzte viele seiner Samisdat-Gedichte, die ich von Andrei Sergejew und anderen bekam. Sein Prozess war ein schockierendes Ereignis, das in Moskau und Leningrad, aber auch in Litauen sehr breit diskutiert wurde. Achmatowa hat Brodsky bei jedem erdenklichen Anlass erwähnt – sein Schicksal gehörte damals zu ihren vordringlichsten Interessen.

Hinsey: Sie hat versucht, Brodsky zu unterstützen…

Venclova: Ja, sie hat ihr Möglichstes getan, Petitionen vorbereitet und einflussreiche Leute des öffentlichen Lebens als Fürsprecher gewonnen, wie Dmitri Schostakowitsch, Samuil Marschak und Alexander Twardowski. Sie hat auch versucht, Alexander Prokofjew zu beschwichtigen, einen einflussreichen Leningrader Literaten und Erzfeind Brodskys. In unseren Gesprächen nannten wir ihn stets „Prokop“. Einmal hatte Achmatowa ein kleines Fest ausgerichtet, wo wir auf Brodskys Freiheit und „Prokops“ Untergang anstießen. (Auch Anatoli Naiman, damals sehr eng mit Brodsky befreundet, war an diesem Abend anwesend: Ihm gelang es, Brodsky an seinem Verbannungsort, in einem Dorf in Nordrussland, zu besuchen, das Fest hat wahrscheinlich vor seiner Reise stattgefunden.) Übrigens hatte Achmatowa Gewissensbisse wegen Brodsky, weil sie – völlig grundlos – glaubte, er sei in erster Linie wegen seiner Freundschaft zu ihr, einer allgemein bekannten „Volksfeindin“, verhaftet worden.
Brodsky seinerseits hatte kaum eine Ahnung von Achmatowas Versuchen, ihm zu helfen, und fühlte sich ein wenig im Stich gelassen. Doch kehrte er nach Leningrad zurück, als sie noch am Leben war, und erfuhr dort die Wahrheit.

Hinsey: Hat sie über Gedichte von Brodsky gesprochen?

Venclova: Sie hat mir ein bekanntes Gedicht von Brodsky vorgetragen, das ihr gewidmet war, „Hähne werden krähend sich regen“, und es als „wunderbar“ bezeichnet. Brodsky selbst hielt es für misslungen. Sie hat mir auch einige seiner im Gefängnis entstandenen Gedichte gegeben, die auf unbekannte Weise aus seiner Zelle geschmuggelt worden waren.

Hinsey: Wann haben Sie Achmatowa zum letzten Mal gesehen?

Venclova: Es war wahrscheinlich im Herbst oder Winter 1965. Ich habe sie zur Wohnung von Andrei Sergejew begleitet. Er lebte am Stadtrand von Moskau in einem viergeschossigen Wohnblock, der sich von anderen, gleichartigen, die in langen Reihen standen und keine Hausnummern trugen, durch absolut nichts unterschied. Diese Wohnblocks wurden meistens als Chruschtschoby bezeichnet, Chruschtschow-Slums. Wie zu erwarten war, brachte ich sie zur falschen Wohnung im falschen Haus. Einen Fahrstuhl gab es nicht in diesen Gebäuden, das Treppensteigen fiel ihr wegen ihrer Herzprobleme schwer. Gott sei Dank mussten wir nur in die erste Etage. Achmatowa war nicht besonders begeistert, doch schließlich haben wir Sergejew gefunden und einen langen Abend zusammen verbracht. Danach habe ich sie wieder zurück nach Moskau begleitet, zu ihrer alten Freundin Ljuba Stenitsch, die leider in der fünften Etage wohnte und ebenfalls keinen Fahrstuhl hatte. Wir haben eine halbe Stunde oder mehr mit Treppensteigen zugebracht. Am nächsten Tag rief mich Ljuba an und teilte mir mit, Achmatowa habe mir meinen Irrtum bei Sergejew verziehen und ich sei ihr auch weiterhin willkommen. Nach diesem Abend habe ich Anna Achmatowa nie wiedergesehen: Kurz darauf fuhr ich nach Vilnius und kehrte erst Anfang März nach Moskau zurück.

Hinsey: Anna Achmatowa ist am 5. März 1966 in einem Sanatorium außerhalb von Moskau gestorben. Es gab eine Reihe von Gedenkveranstaltungen für sie, unter anderem im Sklifossowski-Institut in Moskau und in der Nikolaus-Marine-Kathedrale in Leningrad; es gab einen Gottesdienst in Komarowo, wo sie ihre kleine Datscha hatte. Dort liegt sie auch begraben. Haben Sie an einer dieser Veranstaltungen teilgenommen?

Venclova: Wie damals, als Pasternak starb, war ich auch diesmal zufällig in Moskau; jemand rief mich an und teilte mir mit, dass Anna Andrejewna gestorben sei. Am 9. März war ich bei der Trauerfeier in der Leichenhalle des Sklifossowski-Instituts, einem heruntergekommenen Ort, der von Hunderten, vielleicht auch Tausenden Menschen belagert wurde. Ich glaube, es waren Andrei Sergejew und seine Frau Ljuda, dank deren ich überhaupt bis zum Sarg vordringen konnte. Ich habe keine offiziellen Reden gehört, vermutlich wurden welche gehalten. Zu jener Zeit war mein Privatleben in völliger Auflösung begriffen, ich dachte an Selbstmord. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass Achmatowa auf mich aufpasste und von meinen Sorgen wusste, und das war mir ein Trost. Weder in Leningrad beim Gottesdienst in der Nikolaus-Marine-Kathedrale noch an ihrem Grab in Komarowo, wo Brodsky und seine Freunde sich von ihr verabschiedeten, bin ich dabei gewesen. Ihr Tod war das wahre Ende des Silbernen Zeitalters.

aus Tomas Venclova: Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen, Suhrkamp Verlag, 2018

Oxford

Das erste auffindbare Dokument über das Vorhaben, Anna Achmatowa nach Oxford einzuladen, ist die Antwort auf einen Brief oder eine telefonische Anfrage. Sir Isaiah Berlin teilte am 27. Oktober 1964 dem Professor Maurice Bowra Achmatowas Adresse mit: Ulica Lenina 42, Kwartira 23, Leningrad. „Meiner Meinung nach“, riet er, „wäre es am besten, ihr ein Telegramm und einen formellen Brief zu schicken, in dem Telegramm zu sagen, daß der Brief folgt und daß man darauf nicht unbedingt eine schnelle Antwort erwartet – anderenfalls gerät sie in Panik wegen der Ausreisebewilligung.“ Parallel dazu solle man eine Kopie des Telegramms und des Briefes per Diplomatenpost an den britischen Botschafter in Moskau schicken und je ein Exemplar der sowjetischen Botschaft in London zukommen lassen sowie „der guten Miss Brenda Tripp vom British Council, deren Gefühle für Achmatowa sehr zärtlich sind und von der ich annehme, daß sie am besten für diese Angelegenheit geeignet ist; sie könnte in einem beigelegten Brief das Foreign Office sowie andere Institutionen in England informieren, z.B. die Gesellschaft Großbritannien. (…) Ich glaube, das ist alles an Formalitäten.“
Die Initiatoren der Ehrung wußten bereits von Achmatowas bevorstehender Italienreise und folgerten daraus, daß es ihr „möglich sein könnte, die Reise auf unser Land auszuweiten“. Am 3. November schickten sie ein Telegramm nach Leningrad mit der offiziellen Benachrichtigung: „The University of Oxford invites You to Accept an honorary Degree of Doctor of Letters“ und dem beruhigenden Satz:

Es ist nicht notwendig, dieses Telegramm zu beantworten.

Auch der gleichzeitig entsandte Brief mit der Unterschrift des Leiters der University Registry, Sir Folliot Sandford, sollte aufregungshemmend wirken:

Es wäre ein leichtes, die spezielle Auszeichnungzeremonie zu einem Zeitpunkt zu arrangieren, wenn Sie sich im Lande befinden.

Währenddessen wurde Miss Brenda Tripp aktiv, zu dieser Zeit Leiterin der Osteuropa-Abteilung des British Council, ausgestattet mit profunden Kenntnissen über sowjetische Institutionen und ebenso über die einzuladende Person. Sie war im November 1945 dabeigewesen, als Isaiah Berlin sich von der Autorenbuchhandlung aus auf den Weg zum Fontannij Dom machte, sie hatte in Moskau zur Zeit der Exkommunikation Achmatowas gearbeitet, wußte also sehr gut, wie heikel bereits die Zielsetzung war: Die in der Sowjetunion nur halbwegs anerkannte Achmatowa gerade in die englische Universität einzuladen, zu deren wichtigsten Autoritäten Berlin gehörte, ein Emigrantensohn und ehemaliger Diplomat, den man in der Sowjetunion einstmals der Spionage bezichtigt hatte. Hinter der vertraulichen Korrespondenz unterschiedlichster Institutionen – schon bald wurde auch die Abteilung für Ost-West-Beziehungen des Außenministeriums eingeschaltet – entfaltete sich ein Komplott zugunsten der alten Dame, von der zunächst keinerlei Nachricht eintraf.
Wahrscheinlich auf informellem Wege einigten sich die Teilnehmer darauf, daß der British Council die geeignete Institution sei, um in der Sache vorzusprechen. Der BC verfügte über einen legitimen sowjetischen Partner, das Staatliche Komitee für Kulturbeziehungen mit dem Ausland. Es ist anzunehmen, daß auf diplomatischer Ebene gleichzeitig die mögliche Reaktion der sowjetischen Behörden erkundet wurde. Spätestens Ende November brauchte man in Oxford ein erstes positives Signal, um das Zeremoniell rechtzeitig vorbereiten zu können.
Schließlich schickte Anna Achmatowa am 1. Dezember 1964, inmitten ihrer Vorbereitungen für die Reise nach Italien, aus Moskau ein Telegramm. Sie erklärte, sie wolle die Auszeichnung „with gracitude“ annehmen. Über den Zeitpunkt ihrer möglichen Reise äußerte sie sich vorsichtig:

Was das Datum meiner Ankunft in Oxford anbelangt, so hängt es von meinem Gesundheitszustand ab.

Darunter verstand sie mit Sicherheit nicht nur Blutdruckwerte und EKG-Befunde, sondern ebenso die offizielle Behandlung ihres Reiseantrags.
Erst nach dieser langen Vorgeschichte beschloß die Oxforder Universität am 15. Dezember 1964, Anna Achmatowas bevorstehende Ehrung der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Am nächsten Tag berichteten alle führenden britischen Zeitungen darüber – ein höflicher Druck auf Moskau. Diese Einladung konnten die Sowjets nicht einfach als Provokation abtun, denn beinahe gleichzeitig erschien auf Surkows Betreiben eine winzige Nachricht in der Literaturnaja Gaseta über die Verleihung des Ätna-Taormina-Preises an Anna Achmatowa. Die Mitteilung zeugte davon, daß die sowjetische Kulturpolitik die Dichterin – wie Radio Jerewan sagen würde, „im Prinzip“ – als reisefähig betrachtete.
Am 16. Dezember 1964 schickte der Generalsekretär des British Council, Paul Sincer, einen offiziellen Brief an Achmatowa, versehen mit einem Satz, der weniger ihr als den Behörden ihrer Heimat galt:

Diese Einladung schicken wir Ihnen im Einklang mit dem entsprechenden Artikel der englisch-sowjetischen zwischenstaatlichen Vereinbarung, unterschrieben in London im Januar 1963.

Paul Sincers Einladungsbrief machte vermutlich einen langen Marsch durch verschiedene Institutionen, bevor er bei der Adressatin landete. Erst am 21. Februar 1965 konnte Achmatowa Aleksej Surkow mitteilen:

In Anbetracht dessen, daß ich den Vorschlag der Oxforder Universität, die Auszeichnung mit dem Titel honoris causa des Doktors der Literaturwissenschaften, angenommen habe, ist es für mich notwendig, in Oxford persönlich anwesend zu sein. Ich bitte Sie um die Vorbereitung von Reisedokumenten für mich und Kaminskaja, Anna Genrihowna (…), die Tochter meiner Pflegetochter, die mich begleiten wird, da ich wegen meines Gesundheitszustands nicht allein reisen kann.

Ihrerseits versuchte sie, den Entscheidungsträgern die Sache zu erleichtern, indem sie in einem Interview dem nach Leningrad entsandten Korrespondenten der Oxford Mail am 26. Januar 1965 mitteilte:

Ich habe keinerlei Auseinandersetzung mit dem Schriftstellerverband, und die Gedichte, die von mir veröffentlicht werden, wähle ich selber aus.

Wie wir wissen, stimmte diese Behauptung nicht einmal für den letzten Gedichtband, Lauf der Zeit, der noch zu ihren Lebzeiten publiziert wurde.
Trotz dieser scheinbar günstigen Voraussetzungen ging die Bearbeitung des Antrags im Schneckentempo voran. Während die Oxford er bereits nach Achmatowas Körpermaßen für den zeremoniellen Hermelinmantel und den Doktorhut gefragt hatten, war es immer noch nicht möglich, den Tag der Auszeichnung festzulegen. Dieser war für die Universität deshalb besonders wichtig, weil noch drei andere Kandidaten, der italienische Literaturwissenschaftler Gianfranco Contini, der britische Mediziner Sir Geoffrey Keynes und der englische Dichter Siegfried Sassoon, am selben Tag die Auszeichnung erhalten sollten.
Mitte März wandte sich das Sekretariat des Vice-Chancellors der Universität an das britische Außenministerium mit der Bitte, es möge versuchen, den Vorgang in der sowjetischen Hauptstadt zu beschleunigen. Das Foreign Office beauftragte damit den britischen Kulturattaché, der wiederum den entspechenden Artikel XI. des Kulturabkommens dem sowjetischen Partner in Erinnerung rief. Vielleicht kam es zu irgendeiner Zusage, denn Achmatowa selbst teilte am 29. März mit, sie würde nach dem 1. Juni kommen. Am 7. April schließlich stand der Termin fest: Die Zeremonie sollte am 5. Juni um 14.30 Uhr beginnen.
Die britische Seite traf konkrete Vorkehrungen. Sir Isaiah Berlin schlug am 3. Mai vor, Anna Achmatowa und ihre „Enkelin“ Anja Kaminskaja sollten zwischen dem 1. und 6. Juni bei ihm in Headington wohnen – in den Tagen danach erwarte er Verwandtenbesuch aus den USA. Am 24. Mai wurden bereits zwei Zimmer im Londoner President Hotel am Russell Square für den geplanten Tag der Ankunft, den 29. Mai, gebucht.
Wie wir heute aus sowjetischen Geheimdokumenten wissen, konnten sich die Moskauer Genossen erst zu dieser Zeit in ihrem komplizierten Subordinations- und Zuständigkeitsdschungel zu einer gültigen Entscheidung durchringen. Politbüromitglied Djemitschew und Staatschef Podgornij setzten ihre Unterschriften am 22. Mai 1965 direkt auf den Antrag des Schriftstellerverbands, auf dem bereits das Placet von Achmatowas Erzfeind Polikarpow stand. Die Ausreisekommission, diesmal nicht des ZK, sondern „nur“ des Leningrader Kreiskomitees, genehmigte Achmatowas zweiwöchige Reise auf ihrer Sitzung vom 24. Mai. Den diesbezüglichen „Auszug aus dem Protokoll“ schickte man am Donnerstag, dem 27. Mai, zum Paßamt. Dann kam ein Wochenende, und das gültige Reisedokument samt den Fahrkarten wurde Anna Achmatowa vom Schriftstellerverband erst am Montag, dem 31. Mai, dem Tag ihrer Abreise, ausgehändigt.
Achmatowa wollte möglichst frühzeitig in London eintreffen. Angesichts ihrer Herzkrankheit rieten die Ärzte von einer Flugreise ab. Die Zugfahrt über Moskau, Warschau, Köln und Ostende dauerte mehr als vierzig Stunden. Was ihr schonungsbedürftiges Herz in diesen Tagen an Streß auszuhalten hatte, lassen die Zeitzeugenberichte nur erahnen. Kornej Tschukowskij, drei Jahre zuvor selbst Ehrengast in Oxford, verfolgte das Geschehen sehr aufmerksam und beschrieb es in seinem Tagebuch:

16. Mai 1965. Achmatowa bereitet sich auf die Englandreise vor. Sie kommt zu mir. Ihre Krönung findet im Juni statt. 28. Mai. Achmatowa konnte doch nicht nach England abreisen. Unsere haben ihr die Ausreisevisa nicht gegeben. Sie sitzt auf ihren Koffern bei den Ardows. (…) Zuerst wurde ihr mitgeteilt, daß sie am Freitag abreisen kann, dann – am Dienstag, aber das Visum haben sie ihr erst am Montag gegeben.

Auch Anatolij Najman schilderte das Tauziehen um Achmatowas Reisepaß und gab das Lamento der Sechsundsiebzigjährigen wieder:

Was denken die? Daß ich nicht zurückkomme? Daß ich deswegen hiergeblieben bin, als alle weggereist sind, deshalb in diesem Land mein ganzes – und was für ein! – Leben verbracht habe, damit ich jetzt alles austausche?

Die Annahme, hinter den verzögerten oder gar ablehnenden Entscheidungen der Behörden steckten rationale Erwägungen, gehörte zu den Machtlosigkeitsphantasien der Sowjetbürger. Man versuchte immer wieder, „mit deren Kopf zu denken.“
Am Vorabend ihrer Oxford-Reise lag gegen Achmatowa zweifellos einiges vor. Die ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda beschäftigte sich zu dieser Zeit des öfteren mit literarischen Werken sowjetischer Autoren, welche „auf illegalem Weg“ in den Westen gelangt waren, „Verleumdungen gegen die KPdSU enthalten, unsere Wirklichkeit sowie die Innen- und Außenpolitik des sowjetischen Staates dem ausländischen Leser in verfälschter Weise darstellen.“ Neben Texten von Solschenizyn Okudshawa, Brodskij und anderen wurde „ein in unserem Land nicht veröffentlichter Gedichtzyklus unter dem gemeinsamen Titel ,Requiem‘, den man A. Achmatowa zuschreibt“, erwähnt. Im Vorfeld der bereits geplanten Verhaftung von Andrej Sinjawskij und Julij Daniel waren solche Anschuldigungen kein Scherz. Die ZK-Abteilung beschränkte sich aber zunächst darauf, das KGB um die Identifizierung der Autoren solcher „schwarzer“ Publikationen zu bitten.
So handelte es sich bei der Herauszögerung von Achmatowas bereits abgesegneter Reise nicht um eine Bestrafung, sondern allein um das, was Shakespeares Hamlet „des Stolzen Mißhandlung“ nennt. Hatte man der Dichterin nach dem grundsätzlichen „Ja“ des Politbüros zum Ätna-Taormina-Preis fast vier Monate Zeit für die Reisevorbereitungen gelassen, so mußte sie jetzt diese für ihr Alter und ihren Gesundheitszustand große Aufgabe in wenigen Tagen bewältigen. Der mittlere Apparat, wahrscheinlich irritiert durch den Liberalismus der höchsten Machtebene, versuchte über einen bürokratischen Bummelstreik die Begünstigte an ihr fortdauerndes Ausgeliefertsein zu erinnern. Daß Zeitungen wie die Times oder der Daily Telegraph in diesen Tagen bereits das Kommen der „Matriarch of Russia’s Poets“, der „russischen Sappho“ in ihren Schlagzeilen ankündigten, schien keinerlei Einfluß auf das Verfahren in Rußland zu haben. Was sollte den Bürokraten denn eine Sappho? Auch einen Sophokles, einen Dante oder einen Goethe hätten sie bezüglich seiner Vorstellungen über Menschenwürde ohne zu zögern eines besseren belehrt.
Allerdings hatte die sowjetische Bürokratie sich in diesem Fall selbst ein Bein gestellt. Als Anna Achmatowa am späten Mittwochabend, dem 2. Juni, auf der Victoria Station eintraf, wurde sie, außer von Vertretern des British Council und zahlreichen Journalisten, auch von Wsewolod Sopinskij erwartet, Kulturattaché der sowjetischen Botschaft. Laut Daily Telegraph hatte der Diplomat Unangenehmes mitzuteilen:

Wenn die Einladung erst morgen kommt, ist es zu spät.

Sollte heißen: Wenn die Oxforder Universität die sowjetische Botschaft in London erst am Donnerstag, dem 3. Juni, benachrichtige, könne die Beteiligung der offiziellen Vertreter der Sowjetunion an der Zeremonie nicht gesichert werden. Gemäß den damaligen Gepflogenheiten durften sowjetische Diplomaten den 30-Meilen-Gürtel um London nur mit einer Sondergenehmigung des Foreign Office verlassen, und für diese benötigte man drei Tage Bearbeitungszeit.
„Die Vertreter der russischen Botschaft sind erstaunt, daß sie für den Sonnabend, wenn die russische Dichterin Anna Achmatowa das Ehrendoktorat der Literatur erhält, nicht nach Oxford eingeladen worden sind“, so die offizielle Scheinempörung der Repräsentanten eines Staates, der sich diese Reise seiner größten Dichterin nur mit sichtbarem Unwillen hatte abringen lassen. Der Sprecher der Universität Oxford erklärte daraufhin, es habe keine Ausladung der sowjetischen Vertreter gegeben.

Die Empfänger des Ehrendoktorats werden immer gefragt, wen sie zu der Zeremonie einladen möchten, und dies ist auch in diesem Fall geschehen.

Allerdings wußten die britischen Gastgeber nicht, daß es den sowjetischen Gepflogenheiten einfach nicht entsprach, wenn der gewöhnliche Staatsbürger eine offizielle Persönlichkeit aus irgendeinem Anlaß einzuladen beliebte. 

„Anna Akhmatova, Andreae filia“, so hieß sie in der lateinischen Ansprache des Public Orators, zog am Sonnabend, dem 5. Juni 1965 im Sheldon-Theater den roten hermelinverbrämten Mantel an und setzte den schwarzen Doktorhut auf. Sie wurde als „Femina haec augusta“, als russische Sappho geehrt. Ihre wichtigsten Werke wurden aufgezählt, ihre Leistungen nicht nur als Dichterin, sondern auch als russische Patriotin wurden betont, die Konflikte mit den Obrigkeiten ihres Landes taktvoll verschwiegen. „Einige Jahre nach der Wiederherstellung des Friedens“, die vorsichtige Zeitangabe zeugt von einer gewissen Unsicherheit betreffs des Werdegangs der Autorin, „veröffentlichte sie im Staatsverlag eine Anthologie mit zweihundertfünfzig Gedichten.“
Die offizielle Übersetzung der Laudatio, verfertigt von der Auslandsabteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbands, spricht an dieser Stelle erstaunlicherweise von zweihundertzwanzig Gedichten. Sie enthält außerdem einen wahrhaft grotesken Lapsus: Das Jugendpoem „Am Ufer des Meeres“ (U samowo morja) wird aus dem Englischen „By the very Sea“ als „Am blauesten Meer“ (U samowo sinjevo morja) übersetzt. Jeder, der damals in Rußland lebte und Radio hörte, wußte, daß dies die Anfangsworte einer populären Schlagerschnulze waren. Nebenbei gesagt handelte es sich bei dem erwähnten Sammelband wahrscheinlich um die „Anthologie der klassischen koreanischen Poesie“, die in Achmatowas Übersetzung in zwei Auflagen (1956 und 1958) erschienen war.

Es gibt nur wenige Einzelheiten darüber, wie Achmatowa in Oxford – die zehn Tage in England wurden außerdem um einen Abstecher nach Paris ergänzt – ihre Zeit verbrachte. Wir wissen allerdings im wesentlichen, mit wem sie im Verlauf ihrer letzten Auslandsreise geredet hat. Sie gab der Times ein Interview, in welchem sie als einzig erwähnenswerte zeitgenössische russische Dichterin Maria Petrowych benannte. Für ihre Verehrer sprach sie in ihrem Oxforder Hotelzimmer mehrere Gedichte, unter anderem das „Requiem“, auf Band. Etwa fünfzig Personen waren es, mit denen sie in den zwei Wochen mehr oder weniger ausführlich sprach. Jugendfreunde, ehemalige Geliebte, russische Exiljournalisten und Verwandte, die sie seit fünfzig Jahren nicht gesehen hatte, schafften alle miteinander eine Atmosphäre, in der Achmatowa ihr ganzes Leben noch einmal Revue passieren lassen konnte.
Sicherlich fühlte sich die alte Frau von diesem zweiten Triumphzug körperlich und seelisch überfordert. Ihre beiden Begleiterinnen, Anja Kaminskaja und die junge Amanda Height, die spätere Achmatowa-Biographin, mußten ständig auf ihre begrenzte Belastbarkeit achten und diese Rücksichtnahme vor allem bei den begeisterten, nostalgischen oder einfach neugierigen Besuchern durchsetzen. Der Schauspieler Wladimir Rezepter versuchte später, mit Hilfe von Kaminskaja Achmatowas Tagesprogramm zu rekonstruieren:

3. Juni. Auf dem Titelblatt der Londoner Zeitungen Photos der ,russischen Sappho‘. Im Hotelzimmer Blumen, dunkelrote Rosen.
4. Juni. Tagsüber Stadtrundfahrt in London. Am Abend mit dem Auto nach Oxford. Sie geraten in einen Stau.
5. Juni, morgens. Festliches Frühstück an der Universität. Die Auszeichnung
(…).
Dann noch zwei Tage in Stratford. Auf den Spuren von Shakespeare. Vor dem Geburtshaus steigt Anna Achmatowa nicht aus, sie fühlt sich schwach. Auch das ehemalige Wohnhaus von Shakespeares Frau besichtigt Anja allein. Am Abend wird im Shakespeare-Theater
Der Kaufmann von Venedig gespielt. Vor der Vorstellung beginnt Achmatowa, sich unwohl zu fühlen. Anja will sie nicht allein lassen, aber sie schickt die junge Frau doch ins Theater: „Das ist für ein ganzes Leben…“

Über manche Fragen der englischen Journalisten und noch mehr über einige Gespräche mit exilrussischen Freunden in Paris erregte Achmatowa sich sehr: Fast alle Gesprächspartner wollten ihre Meinung über die sowjetische „Neue Welle“ hören.
Diese literarische Strömung – sie verstand sich eher als literarische Generation – wurde im Westen fast ausschließlich von Jewgenij Jewtuschenko und Andrej Wosnessenski vertreten. Das Neue an ihr bestand darin, daß sie brisante politische und private Themen mit einer erhöhten Dosis an Individualität zu verbinden wußte. Anscheinend kehrte sie zu den zwanziger Jahren zurück der eher konventionell und politisch veranlagte Jewtuschenko knüpfte an Majakowskij an, während der gelernte Architekt Wosnessenskij mehr Neigung zu Formexperimenten zeigte.
Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre brachte die „Neue Welle“ eine Art antistalinistischer Sturm-und-Drang-Stimmung zum Ausdruck. Ihre Bücher erschienen in Zehntausender-Auflagen, zu den Lesungen auf dem Majakowskij-Platz oder in Stadien kamen Tausende, und die Dichter entwickelten sich schnell zu Leitfiguren ihrer Zeit. Bei aller Kritik an den sowjetischen Zuständen blieben sie der Mentalität ihrer Gesellschaft verhaftet – die Quelle ihres atemberaubenden Aufstiegs und ihres grundsätzlichen Scheiterns. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer kulturellen Fronde hatte ihr Status etwas Offiziöses und Zweideutiges. So genossen sie eine relativ großzügige Reisefreiheit und publizierten regelmäßig Gedichte über Erlebnisse, von denen die meisten ihrer Leser nicht einmal träumen konnten. Zunehmend wurden diese Dichter zum literarischen Exportartikel, wie der Dissident Andrej Amalrik später spottete, zum „roten Kaviar der sowjetischen Kulturpolitik“.
Als Anna Achmatowa sich während ihrer Westreise mit der verblüffend erfolgreichen Präsenz der „Neuen Welle“ konfrontiert sah – Wosnessenskij hielt sich im Sommer 1965 ebenfalls in England auf und schickte ihr ein Grußtelegramm – war die „Welle“ in Rußland bereits abgeebbt. Nach Chruschtschows öffentlichen Wutausbrüchen gegen die Ketzer in Literatur und Kunst (Dezember 1962 und März 1963) übten die wichtigsten Vertreter der neuen Poesie demütigende Selbstkritik. Dies zeigte deutlich, daß das radikale kritische Potential dieser Dichtergeneration bereits erschöpft war – gesellschaftliches Engagement im Sinne des XX. Parteitags der KPdSU als künstlerisches Credo konnte nicht für ein Lebenswerk ausreichen. Vor allem im Westen galten die nun nicht mehr ganz jungen Leute noch lange als „die“ rebellischen sowjetischen Autoren, die Moskauer „Beat-Generation“.
Für Achmatowa wiederholte sich mit der „Neuen Welle“ etwas bereits Erlebtes: In den zwanziger Jahren, so schrieb sie an Anatolij Najman im Januar 1960, war sie bereits vor dem angeblichen Publikationsverbot 1925 an die Peripherie der damaligen literarischen Öffentlichkeit geraten. Die junge Generation wollte nur noch von großer Revolutionsdichtung hören.

Alle standen links (damalige Bezeichnung für die künstlerische Avantgarde, G. D.) von mir, alle waren neuer, modischer: Majakowskij, Pasternak, Zwetajewa. Über Chlebnikow will ich gar nicht sprechen – er war der Erneuerer par excellence.

Mit der „Neuen Welle“ entstand eine ähnliche Situation. Die jungen Talente, die Anna Achmatowa nicht das Wasser reichen konnten – dazu reichten weder ihr Bildungsniveau noch ihre handwerklich-schriftstellerischen Fähigkeiten – erwiesen sich einfach als „interessanter“. Achmatowas Gedicht „An die Verteidiger Stalins“ entstand ungefähr zur selben Zeit wie Jewtuschenkos „Stalins Erben“ (Oktober 1962 H). Während Jewtuschenkos tagespolitisch inspirierter Text direkt aus der Schreibmaschine in die nächste Prawda-Ausgabe wanderte, wurden die düsteren, prophetischen Zeilen der Dichterin erst 1989 gedruckt.
Mit anderen Worten: Anna Achmatowa war und blieb in der produktivsten Phase ihres literarischen Schaffens unzeitgemäß. Am besten paßte sie noch in die Atmosphäre der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – kein Zufall, daß diese Zeit mit ihrem kurzlebigen Triumph zusammenfiel. Die Zeit nach 1956 war bei allen Erleichterungen, die sie für die Dichterin mit sich brachte, erst recht nicht die ihre. Achmatowas Antistalinismus war kein politischer, sondern ein rein persönlicher Standpunkt, Schmerz und Wut waren konkret historisch und zeitlos zugleich. Wie hätte Antigone den Tod ihres Bruders im Zentralorgan von Kleons allein herrschender Partei einklagen können?
Außerdem stellen ihre Gedichte eine wundervolle, aber nicht angenehme Lektüre dar. Ihr Hauptwerk, das Poem ohne Held, ist äußerst schwer verdaulich – fast jede Zeile setzt eine russische intellektuelle Hochbildung aus der ersten Dezen nie dieses Jahrhunderts voraus, und auch die ominöse „sympathische Tinte“, die „Spiegelschrift“, macht dem Leser viel zu schaffen. Die Allusionen brauchen den Verstand und die Vorbildung des Philologen.
Ob es so etwas wie die Unsterblichkeit von literarischen Werken gibt, ist unbekannt. Dazu fehlt ein Kronzeuge: der unsterbliche Leser. Sicher ist nur, daß die Form der Dichtung gewöhnlich deren Inhalt überlebt. Was beispielsweise das völlig inaktuelle „Poem“ am Leben erhält, ist die bildliche Genauigkeit und die unverwechselbare traurig-feierliche Musik der Achmatowa-Strophe. Die Anfangszeilen:

Ich schaue aus dem Jahre Vierzig
auf alles wie vom Turm herab

werden dem russischen Leser künftiger Generationen ein ebenso exaktes Zeitgefühl suggerieren wie die erste Phrase der Divina Commedia den Italienern:

Auf halbem Wege dieser Lebensreise
fand ich in einem dunklen Walde mich…

oder der „Caput I“ von Heinrich Heines Wintermärchen den Deutschen: 

Im traurigen Monat November war’s
die Tage wurden trüber…

Im übrigen kann man auch die beiden letztgenannten „Poeme“ heute nicht mehr ohne Fußnoten genießen. Den meisten Gedichten von Dantes, Heines und Achmatowas Zeitgenossen hingegen konnten bereits einige Jahre nach ihrer Entstehung keine Fußnoten mehr helfen. 

Sir Isaiah Berlin stellte Anna Achmatowa im Juni 1965 die heikle Frage, ob sie ihr Poem nicht decodieren, entziffern oder zumindest für den gewöhnlichen Verstand interpretieren wolle. Darauf bekam er Erstaunliches zu hören.

Sie antwortete: Wenn all jene, die die Welt gekannt haben, über welche sie spricht, von Verderben oder Tod getroffen werden, dann stirbt auch das Poem. Es wird zusammen mit ihr und ihrer Zeit beerdigt, es wurde nicht für die Ewigkeit und nicht einmal für die Nachfahren geschrieben. Für die Dichter ist allein die Vergangenheit, die Kindheit wichtig – wichtiger als alles andere. (…) Prophezeihungen und Oden an die Zukunft (…) sind bloß eine Art Deklamationsrhetorik, das Einnehmen einer majestätischen Haltung, ein auf die unklar umrissene Zukunft geworfener Blick – eine Pose, die sie verachte.

Doch neben solchen Äußerungen gibt es den trotzig-hoffnungsvollen Satz: „Und doch wird meine Stimm’ erkannt“, einer der vielen Hinweisen darauf, daß Achmatowa sich die Unsterblichkeit, die Bewunderung der Nachwelt wünschte und sie erwartete. Ihr „Requiem“ verstand sie nicht einfach als Erinnerung an die Opfer des Großen Terrors, sondern auch als Verewigung der eigenen menschlichen und poetischen Leistung. Denn mit ihrem „gequälten Mund“ schrie ein „Hundertmillionenvolk“ seinen Schmerz heraus, und deshalb war sie sicher, daß man ihr irgendwann „ein Denkmal in diesem Land“ weihen würde. Damit stand sie ganz in der Tradition Puschkins, der unter einem Motto aus dem „Exegi monumentum“ von Horaz seinen Anspruch auf Unsterblichkeit mit den Worten begründete:

Weil ich die Freiheit pries in unsern strengen Tagen
Und Nachsicht mit den Sündern sang.

Die Oxforder Gespräche zwischen Achmatowa und ihrem Gastgeber kennen wir nur in Berlins Version. Vielleicht wird der dritte Band von Lidija Tschukowskajas Aufsätzen – nunmehr leider als posthumes Werk – etwas mehr über Achmatowas „personal impressions“ aussagen. Anatolij Najman sprach nur von einer Bemerkung, die sie über Isaiah Berlin gemacht hatte:

Nach ihrer Rückkehr aus England erzählte sie von der Begegnung mit einem Menschen, der in ihrem Leben einen besonderen Platz einnahm. Dieser lebte jetzt, nach ihren Worten, in einem wunderschönen Schloß, umgeben von Blumengärten, er habe Diener, Silber, usw. „Ich dachte mir“, fügte sie hinzu, „kein Mann sollte sich in einem goldenen Käfig einsperren lassen“.

Einiges aus diesem leisen Vorwurf ist dem Kulturschock der Sowjetbürger gegenüber den Segnungen des Westens zuzuschreiben. Kornej Tschukowskij war bei seinem Oxfordbesuch vom Wohlstand der oberen Zehntausend vorbehaltlos angetan. Besonders beeindruckte ihn Berlins Gattin, von der er nicht vergaß anzumerken, daß sie aus einer steinreichen Familie stammte:

Eine schlanke, schweigsame, entzückend taktvolle Frau führte mich in das Zimmer ihres Sohnes. Ein riesengroßes Zimmer, die Hälfte von der Modelleisenbahn, mit Schienen, Bahnhöfen und anderem besetzt. Der Knabe besitzt die unterschiedlichsten Comics, schaut Fernsehen (Afrikas Dschungel), auf dem Tisch ein Lehrbuch der lateinischen Sprache; ich habe ihn über die lateinische Konjugation und Deklination ausgefragt, er antwortete einwandfrei. (…) Ich habe vergessen zu sagen, daß Schostakowitsch bei den Berlins wohnte, als er den Doktortitel erhielt.

Die ewig obdachlose Achmatowa konnte nur wenig Begeisterung für dieses Familienidyll aufbringen, und auch ihre Gespräche mit der sicherlich entzückenden Lady Berlin blieben kühl und formvollendet. Die Bemerkung von dem „goldenen Käfig“ galt sicherlich nicht ihr; dazu war sie für die Dichterin nicht wichtig genug. Der „goldene Käfig“ ist jedoch aus anderen Gründen interessant. Eines der letzten Gedichte Achmatowas, ein Vierzeiler, datiert auf den 5. August 1965, stellt das Motiv in einen merkwürdigen Zusammenhang:

Es führt dieser flammende Steg
nicht zur geheimnisumwobenen Grotte.
Zum goldenen Käfig der eine Weg,
der andre zum roten Schafotte.

Der flammende Steg meint den Weg zum Ruhm. Jemand, der „den einen“ Weg nimmt, wird infolge seiner erworbenen Meriten eingesperrt – wenn auch im goldenen Käfig –, jemand, der „den anderen“ Weg nimmt, wird schlicht getötet. Aus dem russischen Original geht grammatikalisch klar hervor, daß den einen Weg ein „Er“, den anderen eine „Sie“ beschreitet. Das Schicksal, das sie zusammenbrachte, ist erfüllt, und deshalb trennen sich die Wege.
Von der Angst vor dem Ruhm spricht auch ein anderes Gedichtfragment, ebenfalls aus dem Jahr 1965:

Betet zur Nacht, damit ihr
nicht plötzlich im Ruhm erwacht.

Konkret beziehen sich diese Zeilen auf das böse Erwachen im August 1946, als Achmatowa durch das Schdanowsche Anathema als „Dirne und Nonne“ plötzlich landesweit berühmt wurde.

Deinetwegen mußte ich mit Blutgeld zahlen
Viele lange Jahre unter Knutenqualen…

beschwert sie sich bei dem „Gast aus der Zukunft“ über diese Zeit des „bösen Ruhms“, der unaufhörlich hinter ihr „raschelte“. Dieser „böse Ruhm“ warf einen überdimensionalen Schatten auf den als Entschädigung gedachten „guten Ruhm“, und das keineswegs nur symbolisch. Nach der Italienreise, so erzählte sie Berlin in Headington, wurde sie von Vertretern des KGB nach ihren Eindrücken gefragt: Ob sie bei den Schriftstellern auf antisowjetische Stimmungen gestoßen sei, ob sie sich mit Exilrussen getroffen habe.

Was sollte sie antworten, wenn ähnliche Fragen – und dies sei unvermeidlich – über England gestellt würden? Über London? Über Oxford?

Diese Befürchtungen erklären zumindest teilweise, warum Achmatowas Begegnung mit Berlin im Juni 1965 tatsächlich trauriger war als das vorausgegangene Getrenntsein zwischen 1946 und 1956 oder gar die „Nichtbegegnung“ im August 1956. Ängste hatte Achmatowa jederzeit gehabt, und sie hatte gelernt, damit zu leben, dagegen anzukämpfen. Nur war im Juni 1965 ihre Lebenslust schon erloschen. Die späte Oxforder Begegnung war gewiß von jener tiefen Melancholie geprägt, die an „Lotte in Weimar“ erinnert.
Anders als die Bewohnerin des Fontannij Dom war die Frau, die einige Tage in Berlins Haus und im Oxforder Hotel Randolph verbrachte, bereits dem Tode zugewandt.

O mein Gott! Du siehst, ich bin so müde
Müd’ von Leben, Tod und Auferstehn!

hatte sie bereits 1962 in ihrem Jossif Brodskij gewidmeten Gedicht „Letzte Rose“ geschrieben. Zukunftspläne hatte sie fast keine mehr, und wenn sie sich von den zahlreichen alten und neuen Bekannten in Westeuropa verabschiedete, so sagte sie eher aus Höflichkeit denn aus Überzeugung „Auf Wiedersehen“. Der Besuch des „Gastes aus der Zukunft“ hatte zwanzig Jahre später nur von einem „Gast aus der Vergangenheit“ erwidert werden können. 

(…)

György Dalos, aus György Dalos: Der Gast aus der Zukunft. Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte, Europäische Verlagsanstalt, 1996

 

 

AN DIE ACHMATOWA 

In Moskau war der letzte Zar
bereits vergessen, aber nicht
die Verse der um Hilfe Flehenden,
die sie ihrem Henker entgegen-
jaulte, um seine Hand aufzuhalten,
die auf Kosten des Lebens wucherte
und an die niemand je zurückdenken
wird, bis heute sind ihre knappen
Zeilen gültig und sie erlangen
ihren klassischen Status zurück. 

Rafael Cadenas
Übersetzung: Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer
Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zur Autorin + dekoderKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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