Nelly Sachs: Glühende Rätsel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nelly Sachs: Glühende Rätsel

Sachs-Glühende Rätsel

Immer noch um die Stirn geschlungen
den strengen Horizont der Krankheit
mit dem rasenden Aufstand des Kampfes −
die Rettungsleine in den Abgrund geworfen
das Nacht-Ertrinkende zu fassen −

O−A−O−A−
ein wiegendes Meer der Vokale
Worte sind alle abgestürzt −

 

 

 

Nelly Sachs’ Zyklus Glühende Rätsel in einer Komposition von Heinz Holliger.

 

 

Lyrische Stimmen von draussen

(…)

Das Leid und die Gewalt, welche die letzten Lebensjahre von Miguel Hernández verdunkelte und die ihn schliesslich zugrunde richtete, hat auch das Werk der heute dreiundsiebzigjährigen Dichterin Nelly Sachs geprägt. Doch wenn Hernández ein Kämpfer war, der mit dem, wofür er gekämpft hatte, unterging, so spricht aus den Dichtungen von Nelly Sachs die reine Stimme der Opfer, die wehr- und hilflos den Schrecken ihrer barbarischen Feinde ausgeliefert waren. Zu Beginn dieses Jahres wurde Nelly Sachs der Friedenspreis des deutschen Buchhandels zuerkannt, der ihr im Oktober in Frankfurt überreicht wird. In der Begründung zu der Entscheidung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels heisst es, Nelly Sachs habe den Ausspruch eines Philosophen widerlegt, das nach Auschwitz ein Gedicht nicht mehr möglich sei.
Nelly Sachs, in Deutschland geboren und aufgewachsen, lebt seit ihrer Flucht kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges in Schweden. Erst zu ihrem 70. Geburtstag vor drei Jahren wurden ihre Gesammelten Gedichte unter dem Titel Fahrt ins Staublose veröffentlicht; vor kurzem folgte nun noch ein kleinerer Gedichtzyklus in der Insel-Bücherei (Frankfurt a.M.) Glühende Rätsel. Auch in diesem Gedichtzyklus wird das eigene Erleiden und das Leid ihres ganzen jüdischen Volkes im Gedicht gestaltet. Die Schrecken, die diesem Volk bereitet wurden, können nicht vergessen werden:

Steinbeladener Atem sucht neue Wege ins Freie
aber der gekreuzigte Stern
fällt immer wieder wie Fallfrucht
auf ihr Schweisstuch –

Wie für so viele Angehörige ihres Volkes, so bleibt auch für Nelly Sachs das Schicksal des Flüchtlings, des Heimatlosen und des Exilierten bestimmend. Hatte sie früher geschrieben: „An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt“, so schreibt die Dichterin, die „landsflüchtig / mit dem schweren Gepäck der Liebe“ ausserhalb Deutschlands lebt, auch noch in ihren jüngsten Gedichten von diesem Schicksal, das Leben und Handeln ihrer Leidensgenossen noch Jahrzehnte nach den schrecklichen Ereignissen bestimmt:

Alle Länder haben unter meinem Fuss
ihre grossen Schrecken angewurzelt
die hängen schwer – uralte Ziehbrunnen
immer überfüllend den Abend
das tönende Wort –

So kann ich nicht sein
nur im Stürzen.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 18.6.1965

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Bernt von Heiseler:
Der Kranich, Heft 7, 1965

 

Zu den Gedichten von Nelly Sachs

Als Nelly Sachs im Todesjahr von Rimbaud, 1891, geboren wurde, hatte „die Moderne“ bereits ihr Manifest und ihr Programm. Baudelaire hatte in seinem Essay über die Malerei von Constantin Guys die Moderne (la modernité) zum ersten Male programmatisch gegen Klassik und Romantik definiert. Trotz der Antithese nicht nur gegen die – zeitlose Gültigkeit beanspruchende – Klassik (Baudelaire führte dagegen den Begriff der Mode im Zusammenhang mit der Moderne ein), sondern auch gegen die Romantik blieb die von Frankreich ausgehende Moderne dem romantischen Erbe verpflichtet.
Eines ihrer Hauptelemente, die gewollte Künstlichkeit (die in Baudelaires „Künstlichen Paradiesen“ sogar thematisch konzipiert wurde), forderte bereits Friedrich Schlegel, ja, sie gab dem „Romantischen“ seinen Namen: romantisch, „wie in Romanen erfunden“ – eine künstlich-künstlerisch geformte und erfundene Welt gegen das Ideal der „abgebildeten“ Wirklichkeit in der Klassik.
In Deutschland kam „die Moderne“ erst im Expressionismus zum Durchbruch, also im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts; aber Nietzsche hatte ihr Wesen schon hellsichtig erkannt und artikuliert, und noch Benn fühlte sich diesem Einfluß in dieser Jahrhundertmitte verpflichtet und sprach ihn in seinen „Problemen der Lyrik“ aus.
Nietzsche erkannte die ästhetische Emanzipation der Form vom Inhalt, die „Oberfläche aus Tiefe“, die „Transzendenz der schöpferischen Lust“; und in dem Hereinnehmen der Metaphysik in die Ästhetik erkannte er ein antikes Element: indem er die griechische Gesinnung der Formanbetung als modern erklärte, zog er die Verbindungslinie von der Moderne zu ihrem traditionellen Erbe, aus dem sie sich speist. Nietzsche spricht in seiner Ästhetik aus, was die Expressionisten zu realisieren versuchten:

Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen, mitzuteilen – das ist der Sinn jedes Stils.

Das Tempo der Zeichen, der Rhythmus, wurde zu einem wesentlichen Element des Expressionismus, er sprengte, aufgeladen mit einer „inneren Spannung von Pathos“, die logischen Regeln der Grammatik. Die ersten bedeutenden expressionistischen Gedichte von Georg Heym, Franz Werfel und Else Lasker-Schüler erschienen im Jahre 1911, im gleichen Jahr erregte Carl Sternheim mit seinen Dramen Die Hose und Die Kassette großes Aufsehen. Kurt Hiller formulierte die Intentionen der Neuen Lyrik polemisch gegen Realismus und Naturalismus in seiner Streitschriftensammlung Die Weisheit der Langeweile. Gegen die einseitige Gefühlsbetontheit forderte Kurt Hiller eine Intellektualisierung der Lyrik; er bezeichnete die „klassizistischen“ Scheidewände zwischen „Gefühl und Intellekt“ als unpsychologisch, weil das sogenannte Gefühlsleben durch die Bewegungen des Intellekts erheblich determiniert werde. Die daraus resultierende Ironisierung der lyrischen Stimmungsrequisiten diente aber nicht nur der Destruktion, sondern auch als Reizelement des Dissonanten und Häßlichen, wie es schon Baudelaire kultiviert hatte.
Im Jahre 1911, das die neue Entwicklung der Lyrik sichtbar einleitete, war Nelly Sachs zwanzig Jahre alt.
Sie wußte nichts von dieser neuen Lyrik. Ihre Gedichte aus dieser Zeit, die sie Selma Lagerlöf sandte, sind ganz idyllisch und romantisch, sie haben nichts von Dissonanz und Häßlichkeit, weder im Leben noch als Reizelement in der Kunst, wobei das eine ohne das andere nicht denkbar ist; mit Dissonanz und Häßlichkeit, mit dem Zusammenbruch einer geordneten Realität, kam Nelly Sachs erst zwei Jahrzehnte später in Berührung. Den Durchbruch zu ihrem Stil verursachten nicht literarische Einflüsse und das Experimentieren mit der Sprache, sondern das „Leben unter Bedrohung“, das heißt die ständige Bedrohung eines Vernichtungslagers unter Hitler.
Nicht literarische Schulen waren ihre Lehrmeister, sondern, wie sie selber sagt:

… die furchtbaren Erlebnisse, die mich selbst an den Rand des Todes und der Verdunkelung gebracht haben, sind meine Lehrmeister gewesen. Hätte ich nicht schreiben können, so hätte ich nicht überlebt. Der Tod war mein Lehrmeister. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können, meine Metaphern sind meine Wunden. Nur daraus ist mein Werk zu verstehen.

Die Situation eines, der mit der Sprache arbeitet und so, in einem ausgeglichenen Verhältnis von Erleben und Sprach-Erleben, zu einem eigenen Stil kommt, ist anders als die des Nackt-Überlebenden, für den das sprachliche Erfassen des unfaßbaren Erlebnisses die einzige Überlebensmöglichkeit ist. So ist der Tod als Bezugspunkt der Gedichte von Nelly Sachs zu begreifen, der Tod, der als Massenmord unter Hitler ein anderes Gesicht erhält. Die Zeit des Sterbens und der Verfolgung unter Hitler ist immer konkret als Ausgangspunkt zu betrachten, auch wenn von biblischen Zeiten die Rede ist, die immer auch zur Analogie dienen. Die Umgebung des Bezugspunktes Tod ist als Verhältnis von Opfer und Henker konzipiert und getragen von der Sehnsucht, sich vom Irdisch-Sterblichen zu befreien und ins Unsichtbar-Dauernde zu verwandeln.
Dieser Themenkreis, der bis auf die jüngsten Gedichte von Nelly Sachs derselbe geblieben ist, wird in seinem Sich-Gleich-bleiben doch allgemeiner.
Am Beginn steht das Prosastück „Leben unter Bedrohung“. Hier wird die Erfahrung unmittelbar ausgesprochen:

Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte, in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stießen an die Tür… Die Tür war die erste Haut, die aufgerissen wurde… Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer… Das Gehirn faßt nichts mehr. Die letzten Gedanken kreisten um den schwarzgefärbten Handschuh, der die Eintrittsnummer zur Gestapo verdunkelte und fast das Leben kostete.

Dieses wortgewordene Grauen finden wir später nicht mehr so unmittelbar; im Akt des Schreibens befreit man sich nicht nur relativ von den Erlebnissen selbst, sondern auch vom empirie-verhafteten Ausdruck. Nicht, daß eine Distanz zum Erlebten einträte: es ist in den späten Gedichten ebenso gegenwärtig, auch wenn sich Wörter wie „Gestapo“ nicht mehr finden. Es ist gegenwärtig, aber der Themenkreis und die Metaphorik sind allgemeiner und zugleich dichter geworden, die „Schritte“ sind zum Beispiel in lyrischer Verkürzung zur Synekdoche für die sich nähernden, todbringenden Henker geworden.
Die Verwandlung der Welt ins Unsichtbare vollzieht sich im sprachlichen Ausdruck selbst: er ist kristallisch „dicht und transparent“. Mit dieser scheinbaren Paradoxie läßt sich der eigentümliche Charakter dieser Gedichte umschreiben, die jene Übergänge zu artikulieren suchen, die im Zeitablauf fast nicht fixierbar sind, es ist die „Minute / darin das Weltall / seine unlesbaren Wurzeln schlägt“. So sind die Gedichte ständig im Begriff, sich zu verflüchtigen. Nelly Sachs verhindert dies Verflüchtigen, indem sie eine reale Situation und Zeit zum Ausgangspunkt ihrer Visionen macht. An den Regieanweisungen in den Dramen und mimischen Spielen ist dies gut beobachtbar, zum Beispiel verwandeln sich Wäschestücke in Erdteile und Wäscheleinen in Meridiane. Die Sehnsucht, die immer Sehnsucht, aus dem Irdisch-Vergänglichen ins Unsichtbare, Unvergängliche ist und die im Bilde der Musik und des Lichts den Übergang in kosmische Beziehungen herstellt, diese Sehnsucht ist der Impuls für das ständige Transzendieren realer Dinge und Personen ins Transreale. Weiß überhöht von Jenseitssehnsucht, verlieren die realen Bilder, von denen ausgegangen wird, ihre realen Farben die Farben haben nur noch zeichenhaften Charakter. Die Metaphorik dieser Gedichte ist von diesem Impuls charakterisiert: in lyrischer Reduzierung transzendiert in den Gedichten das Real-Sinnliche innerhalb einer Metapher, die Konkretes mit Abstraktem verbindet, ins Transreale (Springwogen der Sehnsucht, Sehnsuchtsseil, weißer Sehnsuchtsdorn, Schraubstock der Sehnsucht etc.).
Indem Nelly Sachs elementare und sinnliche Wörter zu Bezugsmetaphern in ihrer spezifisch gebildeten Symbolik macht (die eben auf das Transzendieren der Bereiche angelegt ist und für die der Begriff der Symbolik schon nicht mehr ausreicht), bindet sich sozusagen das Flüchtige, sich ins Unsichtbare Verwandelnde in diesen Metaphern an die Erde an; zugleich an die ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte dieser Erde und ihres Erdstoffes, der einstigen Steinkohlenwälder, die zu Steinen und Edelsteinen wurden und alte Erinnerungen bergen, des Staubes und Sandes, der als Wanderstaub und -sand das Vergängliche und Vorübergehende der irdischen Existenz symbolisiert. Die Gesteinskunde selbst wird mit Gefühlen identifiziert („die Geistergeologie der Liebe“), weil der Gesteinskundige die Erinnerungen erlauscht, die der Stein enthält.
Die Erde wird als Zwischenreich beschrieben, als Unterwegs, als Ort der Verwandlung des irdisch-vergänglichen Staubes in Licht und Musik. Durch das ständige Transzendieren der Bereiche erhält die gegebene Wirklichkeit den eigentümlichen Charakter des Vorläufigen, das sich unter Einwirkung bestimmter Kräfte jederzeit ändern kann. Die irdische Existenz ist dabei einem festen Aggregatzustand vergleichbar: unter Einwirkung unsichtbarer Kräfte verflüssigt sie sich gleichsam, und schließlich verflüchtigt sie sich ins Unsichtbare kosmischer Zusammenhänge.
Nelly Sachs erzählt oder schildert nicht, sie evoziert und beschwört; sie beschwört das eigentlich Unaussprechbare, das sich an unfixierbaren Übergängen Ereignende. Sie evoziert eine Wirklichkeit, die nur an den punktuell fixierbaren Ausgangssituationen als Realität benannt werden kann. Der Motivkreis, nicht nur die Situation, wird in diesem Streben nach dem Transrealen sowohl in die Vergangenheit als auch in eine utopische Zukunft und bis ins Kosmische erweitert.
Das Schicksal der verfolgten Juden im Dritten Reich ist der konkrete Ausgangspunkt. Um es begreifbar zu machen, wird es aus dem unfaßbaren Geschehen gelöst und seine Frühgeschichte mithereingenommen sowie die von den Propheten vorausgesagte Zukunft. Am Ende umspannt der Motivkreis das gesamte Menschenschicksal, in dem das Opfer-Henker-Verhältnis als Grundsituation gekennzeichnet ist; das „Seufzen der Kreatur“ in ihrer irdischen Unvollkommenheit, die sie überwinden will, wird aus jener Sehnsucht erklärt, die den irdischen Staub in Musik verwandeln will (die Dichtung ist Modell dieser Verwandlung in Musik), abstreifen „das Schlafgewand Leib“. Die Gestalt des Chassids David in dem Mimenspiel Der magische Tänzer steht zeichenhaft für die Sehnsucht nach dem Staublosen. Er wird vom Magischen Tänzer erst aus seinen Kleidern, dann „aus sich selbst“ gelockt.
Der Akt des Transzendierens – hier im Tanz symbolisiert – ist einer Häutung vergleichbar: Das Schlafgewand Leib bleibt als Hülle im Irdisch-Vergänglichen zurück, wird selbst zu Staub, der die Vergänglichkeit symbolisiert. Wichtig ist, daß im Schlafgewand Leib selbst, also auch im Staub, die Sehnsucht steckt, die die eigenen Grenzen übersteigen will, die auch den Tod als Grenze überwinden will.
Die Sehnsucht der Erde selbst, sich von ihrer Vergänglichkeit zu befreien, liegt in ihrer Frühgeschichte, in der sie ein leuchtender, unsterblicher Planet war. Dieses einstige Leuchten wird auf die Frühgeschichte der Menschheit bezogen. In diesem Sinne ist ihr Attribut „blind“ und „augenlos“ zu verstehen. Die Erde ist der erloschene, der blinde „Milchstraßenbettler“ zwischen den leuchtenden Sternen:

Erde, Erde, bist du eine Blinde geworden
Vor den Schwesternaugen der Plejaden
Oder der Waage prüfendem Blick?

Das Blindwerden der Erde und das Schuldigwerden der Menschheit stehen in einem, wenn auch nicht streng fixierbaren, Zusammenhang. Die Erde war ausgezeichnet vor den anderen Sternen, sie war das „Lieblingskind“ der Sonne, und unter den „Singenden“ war sie

die Sehnsuchtsvollste
Die im Staube begann ihr Werk: Engel zu bilden −
Sie, die die Seligkeit in ihrem Geheimnis trägt
Wie goldführendes Gewässer −

Ihr „Werk“, identifizierbar der Aufgabe des Menschen, ist die Verwandlung von Sand in Licht, die metaphorisch umschrieben wird („Engel zu bilden“). So trägt sie, die Vergängliche, Tod und Wiedergeburt als Geheimnis und Sehnsucht in sich, als „goldführendes Gewässer“. Gold (als Farbe und Stoff), Licht, Musik, Tanz, Engel sind antipodisch zum Tod und seiner Metaphorik (schwarz, Mond, Eis, Nacht, Schnee, Schweigen) zu verstehen als (Wieder-) Geburt, Auferstehung und also als Überwindung von Tod und Vergänglichkeit.
Das antipodische Verhältnis von Tod und Geburt (das als von Gott vererbter „Zwillingsschmuck“ bezeichnet wird) ist auch als Verhältnis von Statischem und Dynamischem konzipiert.
So gehört Schlaf, Starre, Versteinerung, Eis, Schweigen und Vergessen zum Symbolfeld des Todes, und Wachen, Tanz, Sprung, Schweben, Fliegen, Sprache, Erinnern, Musik, Wind, Atem, Hauch zum Symbolfeld von Geburt und Auferstehung.
Das Starre der Versteinerung (in einem Stein) deutet, wie im Märchen, auf die Unerlöstheit hin, die auf ein Wunder (der Auferstehung) wartet; deshalb schlummert in allem Erstarrten die Sehnsucht nach Auferstehung. Der Stein (Edelstein), in dem eine „frühe Lichtintelligenz“ wohnt (die auf das einstige Leuchten der Erde hinweist), ist Zeichen dieser versteinerten Unerlöstheit. In ihm schlummert das erstarrte Leben; „ein von Ohnmacht übermanntes Insekt im Kristall“, wie wir es im Bernstein sehen, spricht vom einstigen Leben, das nun gleichsam in einem Dornröschenschlaf erstarrt ist. Der „Stein mit der Inschrift der Fliege“ hält in sich vergangenes Leben und vergangene Träume gefangen. Im „Chor der Steine“ finden wir eine direkte Anspielung auf das Märchenmotiv der Verzauberung und Erlösung durch einen Kuß (als Zeichen erlösender Liebe) zu neuem Leben:

Unser Gemisch ist ein vom Odem Durchblasenes.
Es erstarrte im Geheimnis
Aber kann erwachen an einem Kuß.

Der Hinweis auf die Schuld, die dem Schlaf der Versteinerung vorausging, ist im Bilde der Salzerstarrung konkret gegeben, nämlich der Hinweis auf die zur Salzsäule erstarrte Frau Lots. Schuld, Reue und Erlösung sind ineinander verwoben.

Blitze
salzversteinert wetzen
Reue die im Blut begraben −

Salz gehört auch als Element zum Leidsymbol Meer und Träne und weckt den Durst nach Erlösung („salzige Traube / durstlockende“). Als „Salz der Verzweiflung“ wird es von den Henkern den sterbenden Greisen aus dem ausgetrockneten Auge gepreßt.
So hat Salz an zwei Bereichen (Meer und Stein) Anteil und bezieht beide aufeinander.
In den Steinen ist das Geheimnis von Tod und Geburt aufbewahrt, und in ihnen ist, wie in der Erde, die Sehnsucht zur Auferstehung, der Erlösung aus der Versteinerung, enthalten. Der „Chor der Steine“ sagt:

Wenn einer uns hebt
Hebt er Urzeiten empor −
Wenn einer uns hebt
… Hebt er Billionen Erinnerungen in seiner Hand
Die sich nicht auflösen im Blute
Wie der Abend.
Denn Gedenksteine sind wir
Alles Sterben umfassend.

Ein Ranzen voll gelebten Lebens sind wir.
Wer uns hebt, hebt die hartgewordenen Gräber der Erde…

Die anaphorische Wiederholung („Wenn einer uns hebt“), die nach vierfacher Wiederholung zum dreisilbigen „Wer uns hebt“ verkürzt wird, ist kennzeichnend für den Charakter dieser eindringlich-beschwörenden Sprache der Gedichte. Der Stein, der „die großen Dunkelheiten / der Steinkohlenwälder“, denen er entstammt, in sich trägt, ist Teil der Erde und ihrer Geschichte. Die Erde ist auch von der Steinstarre befallen und trägt die Sehnsucht nach Erlösung in sich. Die Steinzeit ist die Jugend der Erde, die Jugend des Planetengreises. Jetzt ist sie der verloschene „Planetengreis“, weil „ihre Liebe ausgewandert ist“, sie ist der hilflose „Milchstraßenbettler / mit dem Wind als Blindenhund“.
Der Wind als „Blindenhund“ kann der Erde zur Erlösung verhelfen, er ist „Wind der Erlösung“ und gehört zu den positiven Elementen des Beweglich-Lebendigen, zu Luft, Hauch und Atem (die wiederum der Sprache zugeordnet sind: „Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde“). Sein Zusammenhang mit dem Auferstehungssymbol Musik wird bildlogisch evoziert:

wie viel schlafende Musik
im Gehölz der Zweige
wo der Wind einsam
den Geburtenhelfer spielt.

Die blinde Erde, vom Wind als „Blindenhund“ geführt, wird als „augenlose Stelle“ zum Spiegel für die anderen Sterne:

vielleicht augenlose Stelle am Himmel,
darin andere Gestirne zu leuchten beginnen
bienenhaft vom Dufte des Gewesenen angezogen −

Die Erinnerung an das einstige Leuchten der Erde wird in dem das Leuchten der anderen Sterne reflektierenden Spiegelbild erneuert; so kann „ein Sternbild Spiegel“ als Benennung der Erde selbst verstanden werden:

Erde, o Erde
Stern aller Sterne
Einmal wird ein Sternbild Spiegel heißen.
Dann o Blinde wirst du wieder sehn!

Die „augenlose Stelle am Himmel“ wird zum Spiegel, der das Licht der anderen Sterne auffängt und spiegelbildhaft selbst zu leuchten beginnt. Vorsichtig sei hier schon gefolgert, daß der Spiegel als Gleichnis der Dichtung zu verstehen ist, jedoch nicht im wörtlichen Sinne (als Abbild), sondern als Ahnung vom einstigen Leuchten des Urbildes; dann wird der kosmische Bezug um dieser Ahnung willen hergestellt.
In der Dichtung wird die Geschichte der Erde erinnernd evoziert; so reflektiert die Dichtung ihr einstiges Licht wie in einem Spiegel (die anderen Sterne beginnen darin zu leuchten). Die Verwandlung von irdischem Staub zu Licht wird im Irdischen vollzogen, im dichterischen Raum der Erinnerung. Aber die Erinnerungs-Aufgabe ist als fragende Klage formuliert:

O Erde, Erde
… Ist niemand auf dir, der sich erinnert an deine Jugend?
Niemand, der sich hingibt als Schwimmer
Den Meeren von Tod?
Ist niemandes Sehnsucht reif geworden
Daß sie sich erhebt wie der engelhaft fliegende Samen
Der Löwenzahnblüte?…

Die Aufgabe der Erde (synonym der Aufgabe der Dichtung) „Engel zu bilden“ scheint durch die Schrecklichkeit dessen, was auf ihr geschah, unerfüllbar. Der Hoffnungsrest, der in der Sehnsucht nach Transzendenz sich ausdrückt, wird auf die Zukunft verwiesen:

Einmal wird ein Sternbild Spiegel heißen…

Der Zustand des Schreckens und des Todes auf der Erde ist präsent:

Dies ist der Stern
geschält bis auf den Tod −

Dies ist des Apfels Kerngehäuse
in Sonnenfinsternis gesät

Der Tod will auch die Erinnerung an das einstige Leuchten auslöschen, den Spiegel zerschlagen, der das Leuchten reflektiert. Die Henker der Hitlerzeit erscheinen als alles beherrschende Verkörperung des Todes; an ihren Händen wachsen „die kleinen Tode“:

Erde,
alle Saiten deines Todes haben sie angezogen,
zu Ende haben sie deinen Sand geküßt;
der ist schwarz geworden
von soviel Abschied und soviel Tod bereiten.
… Aber wie Pilze wachsen die kleinen Tode
an ihren Händen,
damit löschen sie deine Leuchten,
schließen die Wächteraugen der Cherubim…

Die Identifikation der Erde mit den Opfern, den Verfolgten, geht aus einem früheren Gedicht der „Gebete für den toten Bräutigam“ hervor, in dem sich ein Vers des eben zitierten, wesentlich späteren Gedichtes wiederfindet:

Wenn ich nur wüßte,
Worauf dein letzter Blick ruhte.
War es ein Stein, der schon viele letzte Blicke
Getrunken hatte, bis sie in Blindheit
Auf den Blinden fielen?

Oder war es Erde,
Genug, um einen Schuh zu füllen,
Und schon schwarz geworden
Von soviel Abschied
Und von soviel Tod bereiten?

Das Spiegelmotiv kehrt hier, unter anderem Vorzeichen, wieder und erhellt das Motiv des Blindseins der Erde (das ja nur in der ersten Ebene als konkretes Erloschensein des Planeten zu verstehen ist). Der Stein, Teil der Erde, hatte schon viele letzte Blicke der Sterbenden getrunken, mit deren Leben auch ihr Augenlicht erlosch: das Erblinden ist hier die Synekdoche für das Sterben.
Der Stein fängt als Spiegel die erblindenden Blicke der Sterbenden auf (die als Letztes den Stein gesehen haben, bevor sie starben) und wirft sie als Spiegelbild „auf den Blinden“, das heißt den sterbenden Bräutigam, dessen brechendes Auge im Sterben erlischt. „Schwarz“ ist die Farbe des Todes, „blind“ ist als Attribut des Sterbens erklärt worden: wenn die Erde „schwarz geworden“ ist von soviel „Tod bereiten“, dann ist sie blind, also tot.
Unsterblich aber bleibt die Kraft, die in den erlöschenden Augen war, als Keim zu neuem Leben gespeichert; deshalb kann Tod und Leben als „Zwillingsschmuck“ bezeichnet werden. Diese unsichtbare Kraftquelle zu neuem Leben ist in der Erde selbst bewahrt,

die die Seligkeit in ihrem Geheimnis trägt
Wie goldführendes Gewässer −

Gold und Licht (Geburt, Auferstehung) werden immer synonym verwendet, so ist die „goldene Weide des Lichts“ metaphorisch und symbolisch, also zeichenhaft zu verstehen. Das flüssige Element der Erde, ihr Gewässer, verkörpert das Leiden als Tränenstrom des Planetengreises, der „blindgeweint“ ist:

Nach innen weinst du mit den Meeresaugen
die Leidenstrümmer
in die Seelenwelt.

Das Leiden aber trägt in sich nicht nur das Sterben, sondern auch das Geheimnis der Auferstehung („Wie goldführendes Gewässer –“). Die blinde Erde hat als Möglichkeit und als Erinnerung (im Innern Aufbewahrtes) die Lichtquelle zu neuem Leben, denn alles Augenlicht, alle letzten Blicke, hebt sie spiegelhaft auf.
Das Spiegelmotiv wird auch mit den Augen selbst assoziiert, in Abwandlung des bekannten Bildes vom „Spiegel der Seele“.

O ihr durchsichtigen Türen
Zu den inneren Reichen,
aber denen soviel Wüstensand liegt…

Als die Henker diese „durchsichtigen Türen“ zuschlugen, konnten sie damit die inneren Reiche nicht zerstören – sie bestehen weiter, ihre „Seherkraft“ ist Potential zu neuer Geburt:

O ihr erloschenen Augen,
Deren Seherkraft nun hinausgefallen ist
In die goldenen Überraschungen des Herrn,
Von denen wir nur die Träume wissen.

Wie der Spiegel ist das Echo als Metapher der Aufhebung im Hegeischen Sinne zu begreifen. Im Spiegel und im Echo ist das Irdische (Gestalt und Stimme) als Sichtbares zerstört und als Unsichtbares erinnernd bewahrt, deshalb sind Echo und Spiegel der Dichtung identifizierbar. Nelly Sachs hat Echo und Spiegel, da sie synonym zu verstehen sind, bildlogisch in der Synästhesie „Echobild“ und „Echo der Augen“ verbunden; beides sind Metaphern des Transzendenten und als solche nicht der Vergänglichkeit ausgeliefert. Sie konstituieren den Raum des Er-innerten. Die aktive Funktion des Echos für die Erinnerung wird deutlich in dem Gedicht „Land Israel“:

Land Israel,
nun wo dein vom Sterben angebranntes Volk
einzieht in deine Täler
und alle Echos den Erzvätersegen rufen
für die Rückkehrer,
ihnen kündend, wo im schattenlosen Licht
Elia mit dem Landmanne ging zusammen am Pfluge…

Die Erzvätersegen sind in den Tälern Israels als Echo bewahrt, sie tönen für das zurückkehrende Volk Israels; das aktive „Rufen“ der Echos deutet auf die unsichtbare Kraft des Erzvätersegens hin, er ist nicht vergänglich wie der, der ihn einst sprach.
Spiegel und Echo (analog der Dichtung) haben auch die Funktion, den Schrecken der Verfolgung festzuhalten und zu erinnern, denn er soll für die Kommenden Warnung sein, er darf nicht vergessen werden.
Der übriggebliebene Schuh eines toten Opfers, erinnernder Zeuge, wird als „Echo“ bezeichnet. „Ein Schuh“ – aus dem „Chor der verlassenen Dinge“ – spricht:

Verlornes Menschenmaß; ich bin die Einsamkeit
Die ihr Geschwister sucht auf dieser Welt −
O Israel, von deiner Füße Leid
Bin ich ein Echo, das zum Himmel gellt.

Ebenso werden in Echos die Schritte der Henker bewahrt, die sich den Opfern einst näherten und den Tod brachten:

Schritte −
In welchen Grotten der Echos
seid ihr bewahrt,
die ihr den Ohren einst weissagtet
kommenden Tod?

Das Spiegelmotiv kehrt im Wortspiel der „Spiegelschrift“ wieder, auch als Funktion der Erinnerung; jedoch ist das Erinnern nicht mehr unmittelbar möglich, es erschließt sich, indem sozusagen in Spiegelschrift rückwärts gelesen wird. Der Chor der toten Opfer bindet den Nachkommen vom Sterben unter den Händen der Henker:

Und tragen wir der Menschenhände Siegel
Und ihre Augen-Blicke eingesenkt. wie Raub −
So lest uns wie verkehrte Schrift im Spiegel
Erst totes Ding und dann den Menschenstaub.

Auch die „Wahrsager des Himmels“ sind nicht mehr wörtlich vernehmbar, sie sind

sternenrückwärts gewachsen
wie Spiegelschrift −

Spiegel und Echo heben das Erkannte auf; das erkannte Erkennen wird in ihnen als Erinnerung aufbewahrt und in einem zukünftigen Zeitpunkt zum Wiedererkennen; es ist gleichsam in einem Zwischenzustand der Bewegung und ein Vor-Echo für die Zukunft. So besitzen Echo und Spiegel die Erinnerungsstärke niemals endender Gegenwart, in der die Zeit aufgehoben ist.
Hermann Broch hat in seinem Roman Der Tod des Vergil den Bezug von Echo und Dichtung formuliert. Er begreift Stimme und Sprache als Echo eines verborgenen und neu zu findenden Urbildes, in dem Bild und Bedeutung eins waren; es war das reine Wort, das am Anfang war. Deshalb habe nur diejenige Dichtung Wert, die erfüllt sei von der echogleichen Ahnung des Urbildes aller Bilder. Diese Ahnung zu artikulieren sei Aufgabe der Dichtung, darin bestehe ihre Erkenntnisfunktion.
Das Wort, das sich gegen das tödliche Schweigen schwach und leise behauptet, und das nur echohaft als Ahnung in der Dichtung fixiert werden kann, steht, mit deutlich religiösem Bezug, im Mittelpunkt der Dichtung von Nelly Sachs. Es ist ständig vom Schweigen bedroht; Schweigen bedeutet: sprachlose Erstarrung im Tode.
Es ist das Wort der Liebe,

das die verstümmelten Silben zusammenfügt
… darin die Ideogramme sich küssen und heilen.

Es ist das Wort, das am Anfang war und das wiedergefunden werden kann, wenn „die Geistergeologie der Liebe aufgerissen“ ist und sichtbar wird:

Warte
bis die Buchstaben heimgekehrt sind
aus der lodernden Wüste
und gegessen von heiligen Mündern
Warte
bis die Geistergeologie der Liebe
aufgerissen
und ihre Zeitalter durchglüht
und leuchtend von seligen Fingerzeigen
wieder ihr Schöpfungswort fand:
da auf dem Papier
das sterbend singt:

Es war
am Anfang
aaaaaaaaaEs war
aaaaaaaaaaaaaaGeliebter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEs war −

Im Nicht-Ausgesprochen-werden am Ende des Gedichtes gibt Nelly Sachs dem Wort die größte Bedeutung – es ist das Wort jenseits der Sprache. Das Imperfekt anstelle des erwarteten Futurs fällt auf: „… bis die Geistergeologie der Liebe… wieder ihr Schöpfungswort fand:…“ Mit ihm wird die Aufhebung der Zeit, die Rückkehr (die eine Heimkehr ist) des zukünftigen Wortes in seinen Anfang realisiert. In der „Engführung“, dem letzten Gedicht aus Paul Celans Gedichtband Sprachgitter, finden sich Verse, die auch „das Wort“ umkreisen, allerdings ohne die religiöse Hoffnung auf eine mögliche Zukunft. Eine Strophe hat dieselbe typographische Anordnung wie das eben zitierte Gedicht: drei voneinander abgesetzte Zeilen, wovon die letzte abbricht und in einem verstummenden Gedankenstrich endet:

Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht – und – Nacht. – Zum
Aug geh, zum feuchten.
aaaaaZum
aaaaaaaaaAug geh,
aaaaaaaaaaaaaaaaazum feuchten −

Die Wiederholungen, die abbrechenden Zeilen und heftigen Gedankenstriche des Verstummens finden wir bei Paul Celan noch häufiger als bei Nelly Sachs. Nelly Sachs umwirbt das Wort gleichsam noch mit Bedeutungen und semantisch teilweise nachvollziehbaren Symbolbezügen. Bei Celan spürt man stärker die Drohung des tödlichen Schweigens; die lyrische Verkürzung ist radikaler und näher am Verstummen. Die Tendenz zum Verstummen wird allgemein als Kriterium zeitgenössischer Lyrik angesehen. Wie wenig sie ein bloß formales Kriterium ist, erweist sich an den zitierten Gedichten. Das innere Erleben sprengt hier die traditionell abgeschlossene Form – derselbe Vorgang läßt sich an späten Gedichten Hölderlins nachweisen. Von ihm geht jene Linie der „Moderne“ aus, die sich auf kein poetologisches Programm beruft.
Die andere, sozusagen programmatische, Linie der Moderne geht, wie eingangs erwähnt, von Baudelaire aus; sie läßt sich über die Surrealisten, Expressionisten, Dadaisten bis zu den Experimentellen verfolgen, sie hat ein lyrisches Manifest: die Analyse des dichterischen Schöpfungsprozesses. Die Theorien und Manifeste setzen sich mit der alten, „klassischen“ Poetik auseinander und „bilden“ eine neue. Freilich ignorieren nicht beide Linien der Moderne einander, sondern wirken dialektisch aufeinander, jedoch so, daß die von Hölderlin ausgehende Linie der Moderne niemals großen Wert auf eine Theorie legt. Zu ihr gehören Dichter, die in der allgemeinen literaturgeschichtlichen Einordnung nicht zusammengesehen werden:
Trakl, (der späte) Rilke, Nelly Sachs und Paul Celan. Allen gemeinsam ist der starke Einfluß Hölderlins und die Tatsache, daß sie den Literaturhistorikern Kopfzerbrechen bereiten, da sie sich in keinen -Ismus gut einordnen lassen. Die Schwierigkeit beginnt bei Hölderlin, dessen Einordnung in die Klassik ähnlich problematisch ist wie die von Trakl in den Expressionismus, wie die von Rilke in den Symbolismus, wie die von Nelly Sachs und Paul Celan in das zeitgenössische Bild der Moderne, wobei man Paul Celan gern mit dem Surrealismus zusammenbringt. Die Reflexion über Dichtung und Sprache findet sich (außer bei Trakl) immanent in ihren Gedichten, nicht in einer Theorie außerhalb des Gedichteten. Entscheidend ist, daß ihr Weg vom inneren Erleben zu dem ihnen eigenen Stil verläuft. Bei den Expressionisten scheint ein ähnliches Phänomen vorzuliegen, aber es verhält sich doch anders: Wenn bei ihnen der Ausdruck, die „Expression“ des inneren Erlebens den Stil bestimmt, so geschieht auch dies programmatisch: Das Erlebnis und sein rhythmischer Ausdruck werden proklamiert, dem Schrei entspricht die Rhetorik des Schreis, also dem Pathos des Stils ein bewußtes Pathos des Lebens. So wirken Leben und Stil reziprok aufeinander.
Der Kunstwille, der die Logik zugunsten der Rhythmik (entsprechend der Lebensrhythmik) liquidiert, sprengt das syntaktische Gefüge und die traditionelle Wortbedeutung.
Bei den Dichtern, die als von Hölderlin ausgehende Linie zusammengefaßt werden können (so sehr sie in der Detailbetrachtung divergieren mögen), geschieht das Aufsprengen der üblichen Wortbedeutung und des syntaktischen Gefüges mit der Intention, das Nicht-Mehr-Sagbare noch in die Sprache hereinzuholen.
Aus dieser Intention ist die Tendenz zum Verstummen zu begreifen als das Scheitern davor, das Un-Sagbare noch auszudrücken, und ebenso der sprachgestische Charakter dieser Gedichte (aus dem heraus die Satzzeichen und die Typographie starken Symbolgehalt bekommen). Auf diesen Sachverhalt reflektierte Paul Celan in seiner Büchner-Preis-Rede 1960 (eine der wenigen theoretischen Äußerungen Celans!):

das Gedicht heute zeigt, und das hat, glaube ich, denn ) doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapiden Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen… das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst, es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.

Sprache bedeutet Leben, und die Neigung zum Verstummen, die Bedrohung durch Sprachlosigkeit, wird als tödlich empfunden: Verstummen heißt Umnachtung und Tod. Deshalb heißt Schreiben-können Überleben-können: „Hätte ich nicht schreiben können, so hätte ich nicht überlebt“, sagt Nelly Sachs.
Es gilt, die mißbrauchte Sprache neu zu schaffen.
Die programmatische Linie der Moderne versuchte dies, indem sie die mißbrauchten Wörter aus ihrem „Sprachschatz“ ausklammerte — das schien die einzige Möglichkeit, überhaupt noch etwas zu sagen, das nicht durch Abnützung und Mißbrauch hohl und unwahr klang. Allerdings birgt dieses Verfahren, das sich gegen den Ideologiecharakter der Sprache wehrt, selbst die Gefahr der Ideologisierung, weil ganze Sprachbereiche (Landschaft, Gefühl, Religion etc.) tabuiert werden und man nur in unterkühltem Understatement von ihnen zu sprechen wagt. Andererseits werden „prosaische“ Sprachbereiche erschlossen, die früher tabuiert waren (und die kräftige Erwähnung dieser Bereiche hilft mancher lyrischen Mittelmäßigkeit zur Bestätigung des begehrten Attributes „modern“); das hat die lyrische Sprache erweitert und bereichert. Allerdings auf Kosten der tabuierten Sprachbereiche.
Nelly Sachs arbeitet in anderer Weise gegen die Ideologisierung der Sprache: Sie setzt sich der mißbrauchten Sprache aus, sie versucht, ihre einstige Reinheit herauszufiltern, das „verlorene Alphabet“ wiederzufinden. „Das verlorene und wieder gerettete Alphabet“ ist der bezeichnende Untertitel eines ihrer Dramen. Sie beweist, daß kompromittierte Wörter wie „Liebe“, „Sehnsucht“, „Stern“, „Mond“, „Gott“, „Auferstehung“ oder „Heimat“, deren einstige Unschuld lange vor der Entdeckung des Schlagers zerstört wurde, im neuen Bezug wiedergeboren werden können: Sie erhalten ihre Legitimität – trotz der totalen Korrumpierung dieser „Sprachmittel“ – aus der spezifischen Konstellation in den Gedichten von Nelly Sachs zurück.
Diesem Ja-Sagen zu den mißbrauchten Wörtern ist ein Gefühl tödlicher Bedrohung der Sprachexistenz als Ausschlag der Existenzbedrohung – vorausgegangen. Es ist kein trotziges, eher ein zögerndes Dennoch-Sprechen vor der Folie tödlichen Schweigens, hervorgegangen aus der Erfahrung des totalen Mißbrauchs der Sprache und des Menschen; ebenso total ist die Rückgewinnung und Neufindung der Sprache, die keinen Sprachbereich tabuierend ausschließt.
Die verbrauchten und mißbrauchten Worthülsen werden zu neuen spannungsgeladenen Wortfeldern, Zeichenkonstellationen, Symbolbezügen und Metaphern zusammengefügt, zusammengefügt auf Widerruf, denn sie sind vom Zerspringen bedroht.
Nachdem geschah, was man sich nicht vorstellen konnte (nämlich der totale Mißbrauch von Mensch und Sprache), geschieht bei Nelly Sachs, was man sich nicht mehr vorstellen kann: der verhunzten, prostituierten Sprache wird ihre Unschuld wiedergegeben.
Nelly Sachs wählt hierzu nicht den Weg der immanenten Sprachkritik, der Enthüllung des umgangssprachlichen Klischees, sie tastet sich vorsichtig in den zerstörten, entwürdigten Sinnbereich der Sprache vor und fügt aus den entwerteten Worthülsen „das neue Alphabet“. Das „erschwiegene Wort“ (Celan) ist aus dem „Schon-nicht-mehr der Sprachlosigkeit“ in das Gedicht zurückgeholt. Vor dem Hintergrund von tödlichem Schweigen vollzieht sich die Geburt des neuen Wortes, die die Wiedergeburt des alten Wortes ist.

Es war
am Anfang
aaaaaaaaaEs war
aaaaaaaaaaaaaaGeliebter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEs war −

Die Assoziationskomplexe in den Gedichten von Nelly Sachs sind diesem Modell zugeordnet: „Wort“, „Buchstabe“, „Hieroglyphe“, „Sprache“ beziehen sich deutlich auf Leben, Wiedergeburt, Auferstehung, ebenso auf das entsprechende Zeichenfeld „Gold“, „Licht“, „Musik“, „Same“, „Knospe“, „Atem“, „Wind“, „Hauch“, Antipodisch hierzu beziehen sich „Schweigen“, „Sprachlosigkeit“, „Verstummen“, „Taubheit“ auf den Zeichenkomplex des Todes. Auch in der menschlichen Anatomie spiegelt sich dieses Verhältnis von Leben und Tod (den die Henker bringen). In der Form der Synekdoche stehen einzelne Teile für ein Ganzes:
„Auge“ (im Gegensatz zu blicklos, augenlos, blind, das heißt tot), „Ohr“ (das lauschend die „neue Sprache“ vernimmt), „Herz“ (das liebend die Buchstaben heimführt) und „Kehle“ (die eigentlich stimmtragende, die von den Henkern zerschnitten wird) haben die Funktion, das „goldene Geburtengeheimnis“ zu sehen, zu erlauschen, zu erfühlen und zu singen (Dichtung) – ihnen entgegen arbeiten die todbringenden Instrumente der Mörder, die das Leben zerstören: „Finger“, „Hände“, „Zahn“, „Gebiß“:

und im Geheg der Zähne hält
der Henker den letzten Fluch −

Das konkrete Geschehen der Verfolgung der Juden unter Hitler ist als Henker-Opfer-Beziehung dem allgemeinen Verhältnis von Tod und Geburt zuzuordnen, weil es dieses, wie das Verhältnis von Schweigen und Sprache, ändert. Nirgends ist die Henker-Opfer-Beziehung deutlicher als hier, aber es hat sie immer schon gegeben.
Im Bild der „Schritte“ des sich nähernden Verfolgers ist dieses Verhältnis evoziert:

Schritte −
Urzeitspiel von Henker und Opfer,
Verfolger und Verfolgten,
Jäger und Gejagt −

in dem heftigen Gedankenstrich des Verstummens mitten im letzten Wort, wird das Gefühl des Gewohnten, Unabänderlich-Scheinenden, des scholl nicht mehr gräßlichen Schreckens, den wir mit den bekannten Gegensatzpaaren assoziieren, schockartig unterbrochen: Das Grauen dieses „Urzeitspiels“ trifft plötzlich und ganz unvermittelt; dies ist erreicht nicht etwa durch ganz ungewohnte Wörter, die uns aus dem Feld der Gewohnheit locken, sondern mit einer Sprachgeste im gewohnten Sprachablauf, der so unterbrochen wird. Der sprachgestische und -mimische Charakter der Gedichte von Nelly Sachs wird auch für die Klangsemantik relevant, welche die Lautqualitäten im Detail des Einzellautes reflektiert, nicht nur unter dem Aspekt der Lautmalerei ganzer Wörter. (Die Vorliebe für Dentale z.B. für Leid- und Todeskomplexe: „Zenit des Schmerzes“, „abschiedsschwarz“, „Auch Schechina kannst du sagen, / die Staubgekrönte, / die durch Israel Schluchzende“.
Dem Henker-Opfer-Verhältnis sind antipodisch Assoziationskomplexe zugeordnet, wobei der Wortkomplex, der „Henker“ betrifft, immer dieselbe symbolische Bedeutung hat, nämlich Mord und Tod: Jäger, Mörder, Häscher, Räuber, Marionettenspieler, Todesgärtner, Hände, Finger, Zähne, Messer, Schritte, Angler, Kain (der erste Mörder). Der Wortkomplex, der „Opfer“ betrifft, ist offener: Flüchtling, Gejagte, Verfolgte, Füße, Auge, Schrei, Seufzer, Fisch (Kieme), Koralle, Kinder, Herzen, Nachtigall (Kehle, Flügel).
Die Nachtigallen, für die als Synekdoche oft nur die „Kehlen“ stehen, werden als „gefiederte Erben des toten Volkes“ Israel bezeichnet; Israel ist Gottes „Mitternachtssängerin“. Nachdem die „Schatten des Schrecklichen fielen“, sind die Nachtigallen nur noch Boten des Schmerzes:

Wegweiser der gebrochenen Herzen,
Die ihr euch füllt am Tage mit Tränen,
Schluchzet es aus, schluchzet es aus
Der Kehle schreckliches Schweigen vor dem Tod.

Nur noch für die Liebenden (die neben den Engeln als reine Wesen erscheinen, nicht verstrickt in Schuld) singen die Nachtigallen:

Geschirmt sind die Liebenden
und nur für sie schlagen noch die Nachtigallen
und sind nicht ausgestorben in der Taubheit…

Am Bild der Nachtigall zeigt sich, daß der Begriff des Symbolfeldes, der für den Wortkomplex „Henker“ – stereotyp, entsprechend der Statik des Todes, gebraucht – genügt, für den Wortkomplex „Opfer“ nicht mehr ausreicht.
Denn Nachtigallen (und als Synekdoche „Kehlen“) symbolisieren nicht, nur die hilflosen Opfer. Im Gegensatz zu den stummen Fischen als Symbol des Opfers sind sie zugleich die Inkarnation des reinen Gesanges und der Musik, ihre Kehlen sind die Stimmträger des Liedes, sie haben also teil an Auferstehung und Geburt. Wichtig ist auch, daß sie Flügel haben und also fliegend die Erdenschwere überwinden; so stehen sie zeichenhaft für die überwindung des Irdisch- Vergänglichen und weisen damit wieder auf den Gesang zurück: ihr Fliegen kündet als symbolische Handlung, wovon sie singen: vom Ende des Vergänglich-Sterblichen und der Verwandlung in Musik (die unsichtbare Auferstehung). Und wiederum ist diese symbolische Handlung modellhaft zu verstehen für die Aufgabe der Dichtung: das geschehene Leid klagend zu erinnern.
Der beschwörende Anruf an die „Erben des toten Volkes“

O ihr Nachtigallen in allen Wäldern der Erde!
Gefiederte Erben des toten Volkes…

gilt den in allen Völkern der Erde überlebenden jüdischen Dichtern, denn „Israel, / Gottes Mitternachtssängerin“ ist namenlos geworden und „verging im Dunkeln“.
So sprengt das Bild der Nachtigall (als Beispiel für viele) durch die Vieldeutigkeit den nachvollziehbaren symbolischen Bezug nicht nur wegen der Vielzahl der Symbole, die es enthält (Opfer, Israel, Dichtung, Transzendenz, Musik), sondern auch, weil das Bild der Nachtigall zeichenhaft steht für die Bewegung der Dichtung (besonders der von Nelly Sachs, die Stefan Zweig als „ekstatisch aufsteigende Linie“ bezeichnete?); wie sie erhebt sich die Dichtung vom Irdischen in den kosmischen Bezug. Der Weg vom Gegenstand zum Bezug ist kennzeichnend für die Gedichte von Nelly Sachs: Die schon gegenstandslos gewordene Empfindung, die das Irdische übersteigen will, treibt über sich selbst hinaus.
Das Zeichen (das mit dem Bild „Nachtigall“ evoziert wird) birgt nicht, im Unterschied zum Symbol, in sich den Hinweis auf das, wofür es steht, es ist kein Zusammengeworfenes („sym-bolon“) von Bild und Bedeutung. Das Zeichen oszilliert mehr als das Symbol, es ist zaghafter, offener, ohne den Hintergrund einer geschlossenen Anschauungswelt. Nelly Sachs selbst versteht ihre Gedichte als „Zeichen im Sand“. Das Zeichen in sich ist nicht bedeutungsgeladener als irgendein Wort. Auch wenn es symbolische Momente in sich faßt, so sind diese doch nur in der spezifischen Konstellation der Wortumgebung, in der das Zeichen steht, relevant.
Die unvollständige Bestimmtheit, daher vieldeutigere Interpretationsmöglichkeit unterscheidet das Zeichen vom Symbol.
Die Doppelnatur des Zeichens erweist sich in seiner dialektischen Struktur: Als Funktionswert in einem spezifischen Zusammenhang ist es präzise definierbar, in zweiter Ebene bleibt es zugleich dunkel und offen. Das präzis Definierbare am Bild der Nachtigall ist ihr Symbol wert als hilfloses Opfer. Die Identifizierung mit den überlebenden jüdischen Dichtern ist schon nicht mehr eindeutig und präzise, und als Bild der Transzendenz ist „Nachtigall“ nur mehr offen assoziierbar. Das Zeichen „Nachtigall“ wirkt auf andere Wortfelder, in die es mit seiner Bedeutung hineinreicht und bringt diese dadurch in Bewegung, löst ihren strengen Symbolbezug. Musik als Symbol der Auferstehung und des Übergangs in kosmische Zusammenhänge bleibt zunächst abstrakt; aber sobald die Nachtigall zur Verkörperung der Musik wird, wird das Symbol sinnlich bereichert und kann – offener geworden – mit anderen Wortfeldern in Beziehung treten: Das Zeichen ist besetzbar von Bedeutung, weil es in viele Bedeutungen hineinreicht. Im Gegensatz zur Metapher wird es nicht identisch wiederholt, sondern erscheint an verschiedenen Stellen unter verschiedenen Konstellationen; das macht es vieldeutiger und vieldimensionaler und für die Beschreibung des Unbeschreiblichen relevanter als einerseits das Symbol (das durch seinen sinnbildlichen Charakter je schon eine gesicherte Realitätsordnung voraussetzt) und andererseits die Metapher, die als verhältnismäßig isolierte gegenständliche Entsprechung eines Zustandes oder spezifischen Bildes kaum mehr symbolische Elemente enthält als das Zeichen.
H.O. Burger bildete (gegenüber dem adäquaten Symbol) den Begriff des „evokativen Äquivalents“: Der Dichter spreche weltaufbrechende exorbitante Erlebnisse, hinter denen im modernen Gedicht meist keine „Weltanschauung“ mehr stehe, in Bildern und Klängen aus, die nicht mehr als Symbole, sondern als evokative Äquivalente zu kennzeichnen seien. Das evokative Äquivalent ist ungefähr zwischen der Metapher und dem Zeichen anzusiedeln. Die Evokationskraft in den Gedichten von Nelly Sachs besteht in der Konstellation innerhalb der Gedichte, das heißt im Gedicht-Raum. Die zeichenhafte Konstellation geht über den symbolischen Bezug deshalb hinaus, weil sie nicht nur hinweisende Funktion hat, sondern auch sprachverändernde; Bedeutungen werden umgebogen (innerhalb der Zeichen), bekannter Sinn wird durch die Konstellation aufs neue verschlüsselt, Disparates wird zusammengezwungen, aber als Folie (gegen die und mit der gearbeitet wird) dient immer noch die ursprüngliche Bedeutung, das heißt, durch das Zeichen wird auf sie zurückgeführt.
Auch das Opfer-Symbol Fisch hat außer dem symbolischen noch zeichenhaften Charakter: er verweist, als Tier des Meeres, auf das Meer als Symbol des Leids und der Tränen; dies erhellt den Symbolcharakter von Fisch, Kieme und Koralle wiederum umgekehrt, vom Meer, dem „Element des Leidens“ aus (seine Geschöpfe sind Opfer): „Was schweigt im Element des Leidens / der Fisch zappelnd zwischen Wasser und Land?“ Der Fisch an der Angel des Mörders ist ein anschauliches Bild für die Hilflosigkeit des ausgelieferten Opfers, das sich überhaupt nicht wehren kann.
Der kosmische Zusammenhang der Elemente Erde und Meer wird personalisierend verwoben. Vom „Planetengreis“ heißt es:

Nach innen weinst du mit den Meeresaugen
die Leidenstrümmer
in die Seelenwelt.

Von den Mördern heißt es:

Der Greise
Ausgetrocknetes Auge
Habt ihr noch einmal zusammengepreßt
Bis ihr das Salz der Verzweiflung gewonnen hattet −

Salz steht zeichenhaft für die Versteinerung und Erstarrung, zugleich für die Essenz des Schmerzes (von Meer und Träne). Durch die Personifizierung der Erde als Planetengreis mit blindgeweinten Meeresaugen und dem „Wind als Blindenhund“ wird das Sich-Verflüchtigende kosmischer Zusammenhänge im menschlichen Gleichnis festgehalten und andererseits der „namenlose“ Schrecken der Verfolgung nachvollziehbar evoziert.
Das Henker-Opfer-Verhältnis pervertiert das natürliche Verhältnis von Tod und Geburt. Die Kinder beginnen nicht richtig zu leben, und die Greise können nicht ruhig sterben.
Durch den Massenmord ist das Henker-Opfer-Verhältnis so beherrschend geworden, daß von sinnvollem Tode zu sprechen zum Zynismus wird.
Deshalb ist die Verwandlung ins Unsichtbare bei Nelly Sachs trotz mancher Analogien anders zu begreifen als die Introversion des Irdischen in den Rilkeschen „Weltinnenraum“, der die Todesbejahung, das Mit-Hineinnehmen des Todes ins Leben als Aufgabe der Verwandlung sieht.
Angesichts des Massenmordes kann Tod nur noch als unfaßbares Grauen aufgefaßt werden; jede andere Betrachtung wäre ein Hohn auf die Opfer. Ein Gedicht „nach Auschwitz“ muß dieses Wissen enthalten.
Nelly Sachs reflektiert in ihren Gedichten diesen veränderten Zustand der Welt qua Veränderung; auch wenn das „goldene Geheimnis der Geburten“ als religiöse Hoffnung den Mord übersteigt, wenn Sehnsucht immer transzendierende Elemente in sich birgt, so macht das Tod und Leid noch nicht sinnvoll; es ist als „Seufzen der Kreatur“ zu verstehen, die in ihrem Glauben an Gerechtigkeit den Ort emotionaler Sicherheit, der in dieser Welt des Massenmordes nicht sein kann, in ein Unsichtbares verlegt.
Aus der Schuld am „künstlichen“, mechanisierten Tod werden die Henker angesprochen, die die Greise nicht ruhig sterben ließen:

Auch der Greise
Letzten Atemzug, der schon den Tod anblies
Raubtet ihr noch fort.
Die leere Luft… habt ihr beraubt!
… O ihr Räuber von echten Todesstunden,
Letzten Atemzügen und der Augenlider Gute Nacht…

Der Tod, von dem Rilke spricht als dem Element, das ins Dasein einbezogen werden soll, wird Nelly Sachs als „natürlicher“ Tod, („Wiegenkamille Tod“), der mit uns wächst, in Gegensatz gestellt zum geplanten, künstlichen Tod („Treibhausungeheuer Tod“) – dieser Tod läßt keine Reflexion mehr darüber zu, ob er sinnvoll sein könnte:

Hände
Der Todesgärtner,
Die ihr aus der Wiegenkamille Tod,
… Das Treibhausungeheuer eures Gewerbes gezüchtet habt…
Was tatet ihr,
Als ihr die Hände von kleinen Kindern waret?

der natürliche Tod, der Objekt war, und den die „lautlosen Schläge der Zeit“ füllten, wird zum Subjekt, zum alles beherrschenden Massenmord; Tod, der nicht mehr von der Zeit gefüllt wird, sondern der die „Stundenuhr“ jeden Augenblick füllt, das Verhältnis von Subjekt und Objekt hat sich umgekehrt und damit die gesamte Ordnung der Welt, die in diesem Verhältnis modellhaft: vorgebildet war (die Syntax ist das sprachliche Modell dieser Ordnung):

Lange schon fielen die Schatten.
Nicht sind gemeint jetzt
Jene lautlosen Schläge der Zeit
Die den Tod füllen −
Des Lebensbaumes abgefallene Blätter…

Während der kurzen Trennung
Zwischen deinem Blut und der Erde
Haben sie Sand hineingespart wie eine Stundenuhr
Die jeden Augenblick Tod füllt.

Die Zeit, einst bestimmend, ist untergegangen im Tod, der einzig sie bestimmt.
Auch die Nacht hat in diesem Zusammenhang ein anderes Gesicht bekommen. Nelly Sachs reflektiert ihren einstigen positiven Wert, den sie von den Romantikern bis zu Rilke hat. Die Nacht stand zeichenhaft für das Innere und Transzendente, das sie evozierte. Novalis nennt sie die „Tageszeit der Seele“, weil in ihr die Gegenständlichkeit (als Gegeneinander-Stehen der Dinge) aufgehoben wird und die Dinge nicht mehr durch harten Umriß voneinander trennend abgegrenzt – miteinander in Beziehung treten können.
Die Nacht ist auch die Tageszeit der Liebenden (bei Novalis und bei Rilke), denn keine Unterschiedlichkeit und Abgrenzung trennt sie mehr, in ihr ist Identität möglich – auch bei Nelly Sachs finden wir diese Seite der Nacht als der Zeit der I Liebenden, sie wird als vergangene evoziert, hier sind die Liebenden dem natürlichen Tod nah, sie üben

in den Nächten lächelnd das Sterben,
den leisen Tod
mit allen Quellen, die in Sehnsucht rinnen.

Dieser vergangene Zustand der Zeit und der Nacht bleibt als leise Hoffnung für die Zukunft, er bleibt auch als Hoffnung für den unsichtbaren Bereich jenseits von Tod und Vergänglichkeit. Dem Tod wird es nicht immer gelingen, die Zeit zu überholen und sich zum dienstbaren Objekt zu machen, denn:

Im Morgengrauen,
Wenn ein Vogel das Erwachen übt −
Beginnt die Sehnsuchtsstunde allen Staubes
Den der Tod verließ.

Diese Sehnsuchtsstunde jenseits des Todes unterliegt nicht mehr dessen Zeitmaß, in ihr ist die Zeit aufgehoben und „Qual, Zeitmesser eines fremden Sterns“ wird aufhören; für den Gequälten ist Tod nicht mehr furchtbar, sondern er wird als Erlösung von aller Qual herbeigesehnt:

O Zeit, die nur nach Sterben rechnet,
Wie leicht wird Tod nach dieser langen Übung sein.

Mit der Erfahrung der Qual, die schlimmer ist als die des Todes selbst, überwindet Nelly Sachs den Erfahrungshorizont ihrer Generation und die Philosophie der zwanziger Jahre, für die Hannah Arendt als kennzeichnend feststellt, daß aus dem Kriegserlebnis heraus „die Todeserfahrung zu einer vorher nie gekannten philosophischen Dignität gelangte“. Nach Auschwitz aber wissen wir, daß Qual schlimmer sein kann als Tod, ja, daß, mit ihr verglichen, Tod Erlösung sein kann.
Wir wissen heute, schreibt Hannah Arendt,
daß Mord bei weitem nicht das Schlimmste ist, was der Mensch dem Menschen antun kann, und daß andererseits der Tod keineswegs das ist, was der Mensch am meisten fürchtet. Der Tod ist nicht ,der Inbegriff alles Furchterregenden’ und die Todesstrafe kann leider sehr wohl verschärft werden, denn der Satz: ,gäbe es keinen Tod, es gäbe keine Furcht auf Erden’… müßte nicht nur dahin geändert werden, daß neben den Tod der unerträgliche Schmerz tritt, der unerträgliche Schmerz wäre dem Menschen überhaupt untragbar, wenn es keinen Tod gäbe… Es wäre angesichts unserer Erfahrungen vielleicht an der Zeit, die philosophische Dignität der Schmerzerfahrung zu entdecken…

Die Schmerzerfahrung ist Ausgangspunkt für das Angstphänomen, das zwar den Tod zum Anlaß hat, jedoch den tausendfachen, der die Zeit fassungslos erstarren läßt und die Menschen sprachlos macht und sie nur noch Fragen stammeln läßt:

Welche geheimen Wünsche des Blutes,
Träume des Wahnes und tausendfach
Gemordetes Erdreich
Ließen den schrecklichen Marionettenspieler entstehen?
Er, der… Furchtbar umblies
Die runde, kreisende Bühne seiner Tat
Mit dem aschgrau ziehenden Horizont der Angst!

An diesem Horizont steht das Gestirn des Todes, das die Zeit sich unterwarf:

Und am ziehenden aschgrauen Horizont der Angst
Riesengroß das Gestirn des Todes
Wie die Uhr der Zeiten stehend.

Gestirn des Todes ist der Mond, der einst positiv war wie die Nacht. Die Angst ist nicht nur die vor dem Tod, es ist die Angst vor dem (zum Tode führenden) Verrat, die auch „die Gefetteten“ nicht verläßt, weil dieser Ort Erde, auf dem so Schreckliches geschah, keine emotionale Sicherheit mehr bieten kann:

Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.

Was kann Garantie dafür gewähren, daß der Schrecken unwiederholbar sei? Vielleicht kann man ihn für die Zukunft verbannen, indem man ihn warnend beschwört. Dies ist nicht nur Aufgabe der er-innernden Dichtung, die gegen das Vergessen arbeitet, es wohnt auch etwas Magisches in solcher Beschwörung – das instinktive Gefühl, etwas zu verhindern, das man für die Zukunft vorwegnimmt, indem man es ästhetisch realisiert. (Der Sinn der negativen Utopie.)
Innerhalb dieser Beschwörung ist der Verrat ein wichtiges Motiv, der für die Zukunft verbannt werden soll.
Der Verrat war so total, daß er auch die Sprache absorbieren konnte. Nelly Sachs untersucht ihn bis hinein in seine scheinbar belanglosen Äußerungsformen, bis hinein in den kleinen, den alltäglichen Verrat; zum Beispiel in dem Drama Simson fällt durch Jahrtausende ist es der „alltägliche“ Verrat Ninas an ihrem Mann Manes, der sie schließlich aus Gewissensqual gänzlich verstört und hektisch macht. Symbol des Verrats ist, in Anspielung auf den Verrat von Petrus an Jesus, der Hahn, beziehungsweise der Hahnenschrei in der Morgendämmerung – sie ist die „Zeit“ des Verrats, „die unser Wohnort“ ist:

O Israel,

O das spitze Messer des Hahnenschreis
der Menschheit ins Herz gestochen,
O die Wunde zwischen Nacht und Tag
die unser Wohnort ist!

Im Zusammenhang einer konkreten Situation in einem Vernichtungslager erscheint der Hahnenschrei deutlich als Signal des Verrats; zugleich wird von der direkten Situation und deren informativer Sprachebene ausgegangen: einem beginnenden Morgen im Lager, an dem die in der Nacht getöteten Menschen („nachtgeronnen Blut“) auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden, während irgendwo ein Hahn kräht:

Wächter
Wächter
sage deinem Herrn:
Es ist durchlitten −

und
Zeit den Scheiterhaufen
anzuzünden
der Morgen singt
und nachtgeronnen Blut
im Hahnenschrei
soll fließen −

Das biblische Pathos der Anrede (die psalmartige Wiederholung der Anrede und das Vokabular der Bibelsprache: „Es ist durchlitten“ mit deutlicher Anspielung auf das Leiden und Sterben von Jesus) wird durch die folgende Strophe aufgehoben, in der das Grauenhafteste als nüchtern-informative Feststellung erscheint und dadurch noch grauenvoller wirkt (die Wirkung der Dichtung Kafkas geht von solchen Modellen aus).
Das doppelt zu beziehende „es ist“ „durchlitten / und / Zeit den Scheiterhaufen / anzuzünden“ hebt den Kontrast der Situation der Opfer („durchlitten“) und der Henker („Zeit den Scheiterhaufen anzuzünden“) besonders hervor: Gerade indem die Henker ganz undämonisch erscheinen (und dieses Bild ist ganz realistisch), gerade in der Nüchternheit, mit der das Todeshandwerk wie Tageshandwerk betrieben wird, liegt die starke Wirkung des Grauens. Der Verrat (Hahnenschrei) ist zum alltäglichen Geschehen geworden.
Das „Gerede“, der Verrat in der Sprache, wird über den schmerz- und todverschlossenen Mund der Opfer hinweg veranstaltet, um das Todesschweigen zu „über-reden“ und zu verhüllen:

O du Drama schwarze Zeit
mit unendlichem Gerede
hinter dornverschlossenem Mund.

Verrat war es, der einst zur Sprachverwirrung führte, zum „doppelzüngigen“ Wort, das der mörderischen Tat vorauseilte, um sie zu verhüllen.
Gegen den Verrat in der Sprache, mit dem die verräterische Tat vorbereitet wird und – so darf man aus dem konkreten Bezugnehmen der Gedichte zum Faschismus folgern – gegen die Ideologisierung der Sprache, die Verrat an ihrem metakommunikativen Wert bedeutet und die Menschen entzweit, ermahnt Nelly Sachs die Völker der Erde:

Völker der Erde
… die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden −

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt −
und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht −

Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können…

Die Kosmologisierung und Personalisierung von Sprache ist ein „modernes“ Phänomen. Sie findet sich vor allem bei den von Hölderlin beeinflußten Dichtern der Moderne. Sie zeigt das Problematisch-Werden von Sprache selbst, die nicht mehr als „Instrument“ beherrscht werden kann. In einem Gedicht Rilkes, das bezeichnenderweise Hölderlin gewidmet ist, heißt es:

Wie sie doch alle
wohnen im warmen Gedicht,
häuslich und lang
bleiben im schmalen Vergleich…

In dem zitierten Gedicht „Völker der Erde“ äußert sich die Personalisierung von Sprache noch als bewußte Beschwörung; der Vergleich mit der anthropomorphen Ebene wird – meist in Genitivmetaphern – als Vergleich sichtbar gemacht.
Später verschmelzen Landschaft und Sprachlandschaft. Jede Ortschaft wird – wie es in einem Gedicht Rilkes heißt – „Ortschaft der Worte“. Wegspur und Sprachspur werden identisch, wie bei Paul Celan oder bei Günter Eich.
Der verkürzte, immer noch entschlüsselbare Vergleich in den Genitivmetaphern der frühen Gedichte von Nelly Sachs ist in den späten Gedichten zur unmittelbaren Identifizierung disparater Bereiche in „absoluten“ Metaphern reduziert. Hugo Friedrich spricht von der „sinnlichen Irrealität“ der absoluten Metapher, die nicht mehr bloß eine Vergleichsfigur ist, sondern „eine Identität schafft“. Deshalb wäre es falsch, den Stellenwert von symbolischen Metaphern in den frühen Gedichten auf die späten Gedichte anzuwenden. „Meer“ ist nicht mehr eindeutig mit „Leid“ identifizierbar; „Sand“ eröffnet in den späten Gedichten weitere Dimensionen als die der Vergänglichkeit. Die Vieldimensionalität der absoluten Metaphern, die eine „neue“ Identität schaffen, verhindern das gewohnte Identifizieren in Denk- und Gefühlsschemata. Th.W. Adorno spricht angesichts moderner schwerverständlicher Texte vom „Schock des Unverständlichen“: der Leser sieht sich ohne den Anschauungshintergrund gewußter Symbole und nach solchem ersten Kommunikationsbruch kann eine neue Kommunikation nur hergestellt werden, wenn der Leser auf solchen Anschauungshintergrund verzichtet, wenn er sich der Offenheit der poetischen Zeichen überläßt, die ihre Identität erst in der dichterischen Konstellation erhalten. In dieser Situation kann auch ein religiöser Bereich nicht mehr fixiert und unmittelbar beschworen werden. Die Metapher „Gottdurchlässig“ aus einem der jüngsten Gedichte von Nelly Sachs zeigt diese veränderte Situation, in der die Grenzen zwischen konkreten, identifizierbaren und transzendenten Bereichen „durchlässig“ geworden sind, durchlässig wie die Grenzen des eigenen lyrischen Ichs; das lyrische Ich, sagt Gottfried Benn, ist ein „durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich“. Wir haben keine „Lederhaut“, die uns gegen die Umwelt abdichtet, stellt Dylan Thomas in einem Brief fest. Dylan Thomas, der Nelly Sachs vor allem in den späten Gedichten oft verwandt ist, beschreibt seine dichterische Arbeit selbst als „dialektische“:

… Jedes Bild trägt den Keim seiner Zerstörung in sich. Meine dialektische Methode, wie ich sie verstehe, besteht in einem ständigen Aufbauen und Niederreißen von Bildern, die aus dem Zentrum kommen, das zerstörerisch und schöpferisch zugleich ist…

Wir sind selbst „durchlässig“ geworden wie die poetischen Zeichen, die diese Situation „zeigen“.
In den späten Gedichten von Nelly Sachs werden die Metaphern nicht mehr in einen Symbol- und Metaphernkatalog integriert wie früher; die Identität des Ichs nicht weniger als die der Dinge ist ins Wanken geraten; mit der Gefahr des Identitätsverlustes wird das Nichtidentische freigegeben und die ästhetische Identitätserweiterung erreicht. Das Gedicht „Im Meer aus Minuten“ spricht diese Erfahrung aus. Das „Fallen der Ich-Grenzen“, von dem in der Psychoanalyse die Rede ist, wird in der Bildlogik dieses Gedichtes (Untergang, haushoch verschlungene Worte; Meer aus Minuten) sehr genau evoziert:

Im Meer aus Minuten
jede einzelne verlangt Untergang
Rettung-Hilfe haushoch verschlungene Worte
nicht mehr Luft
nur Untergang
raumlos
nur Untergang…

Der persönliche und traditionsverpflichtete Ton elegischer Klage ist einem unpersönlicheren Ton des Registrierens einer unveränderlichen Lage gewichen, der das persönliche Betroffensein hinter die Dinge und hinter die Sprache selbst zurücknimmt. In solcher Situation läßt sich nichts mehr beschreiben und beschwören. Die Klage selbst wird erstickt vom gehetzten Rhythmus eines gleichsam stichwortartigen Protokollierens. Der Protokollierende selbst gleicht dem Ertrinkenden im „Meer aus Minuten“. Die „dialektische Methode“ der modernen Kunst bewegt sich zwischen Identitätsverlust und Identitätsverweigerung. In dem Roman L’Emploi du Temps registriert Michel Butor diese Situation – die Bildlichkeit erinnert, trotz der Verschiedenheit der Assoziation, an das Gedicht von Nelly Sachs; beiden liegt die Erfahrung der Gefahr des Identitätsverlustes zugrunde:

Ich fühle, wie um mich her die Kettenfäden gleich der steigenden Flut den Schußfaden überwallen, und bald werden meine Hände ganz in diesem Gewebe gefangen sein, und ich werde, an diesen Webstuhl gefesselt, den Hebel nicht mehr finden, um das Muster zu bewahren.

Die im Futur formulierte Situation ist bei Nelly Sachs bereits Gegenwart:

… nicht mehr Luft
nur Untergang
raumlos
nur Untergang…

In den frühen Gedichten von Nelly Sachs finden wir vor allem die anaphorische, vom Stil der Bibel beeinflußte Wiederholung am Zeilenbeginn. Aber der lange Atem für die beschwörende anaphorische Wiederholung ist einer sozusagen atem-losen Spannung gewichen, welche die Worte hervorpreßt; die immer kürzere Wiederholung führt hier – wie in Celans Todesfuge – zu einer „Engführung“ der Themen; die Zeile „nicht mehr Luft“ und die Zeile „raumlos“ werden so fast simultan evoziert (luft-raum-los). Der „Untergang“ konkretisiert sich zu einem Ertrinken im „Meer aus Minuten“: das im wörtlichen Sinne zu verstehende Atemlos-Werden ist zugleich rhythmisch-artikulatorisch verifiziert. Wurde früher „Atem“ – beeinflußt von der griechisch-lateinischen Tradition (pneuma-anima) in den Gedichten Hölderlins – zusammengesehen mit „Wind“, „Seele“, „Hauch“ und mit allem Positiv-Lebendigen assoziiert, so finden wir diese Assoziation (die in sich gleichgeblieben ist) fast nur noch negativ formuliert; oft ist sie verbunden mit dem für die späten Gedichte typischen unpersönlichen Infinitiv-Stil:

… zum Meer laufen
atemlos werden
das Blühen
verweigern…

heißt es in dem Gedicht aus den Glühenden Rätseln: „Schneller Zeit schneller…“ – hier ist bereits in der ersten Zeile die Funktion der Wiederholung spürbar: der durch die Wiederholung schon zu Beginn beschleunigte Rhythmus drängt die Wörter fast zur Gleichzeitigkeit zusammen. Zusammenhänge werden nur noch stichwortartig skizziert oder neu und überraschend gesetzt, indem disparate Bereiche und Sprachschichten zu neuen Konstellationen zusammengezwungen werden wie in den Epiphanien von James Joyce:

Diese Jahrtausende
geblasen vom Atem
immer um ein zorniges Hauptwort kreisend
aus dem Bienenkorb der Sonne
stechende Sekunden
kriegerische Angreifer
geheime Folterer…

Hier sind verschiedene Sprachebenen ineinander verschränkt; die Zeitebene („Jahrtausende“ in dialektischem Gegensatz zu „Sekunden“) ist verschmolzen mit dem Bildhintergrund „Bienenkorb“ – „stechende“ – „kriegerische Angreifer“; „kriegerische Angreifer“ beziehen sich zunächst auf „stechende“ Bienen innerhalb des Bildhintergrundes; das heißt „Bienen“ werden unbewußt mit „Sekunden“ identifiziert aus der hier gesetzten Konstellation (die keinen symbolischen Anschauungshintergrund mehr hat). So werden die „Jahrtausende“ („geblasen vom Atem“, der zeitlich den Sekunden entspricht) zu einer unendlichen Zahl stechender, zugleich existierender Sekunden verräumlicht. Die kriegerischen „Angreifer“ sind aber gleichzeitig mit der anthropomorphisierten Sprachebene in diesem Gedicht vermittelt („zorniges Hauptwort“ – „geblasen vom Atem“ – „kriegerische Angreifer“ „geheime Folterer“); „kriegerische Angreifer“ und „geheime Folterer“ werden als synonym empfunden, obwohl sie gegensätzlich strukturiert sind (mit Angreifern verbindet sich die Assoziation eines offenen und nicht geheimen Kampfes). Der identifizierende und zugleich gegensätzliche Bezug dieser bei den Zeilen wirkt auf die vorhergehende Zeile zurück: „kriegerische Angreifer“ und „geheime Folterer“ paraphrasieren die mit „Bienen“ assoziierten „stechenden Sekunden“ (die ihrerseits in die anthropomorphisierte Sprachebene hineinreichen).
Die aus der sprachlichen Konstellation erzwungene Identifizierung von „Bienen“ und „Sekunden“ wird durch den Bezug der beiden folgenden Zeilen notwendig und nachvollziehbar. Es entsteht die Assoziation eines nicht endenden („Jahrtausende“) ständig stechenden Schmerzes; die „stechenden“ Sekunden sind, da sie sich zu einer qualvollen Zeit summieren, „geheime Folterer“; zugleich sind sie durch die Aggressivität des stechenden Schmerzes „kriegerische Angreifer“ in der Art stechender Bienen.
In der Analogie zu „Bienen“ entsteht im Gesamtzusammenhang das Bild eines riesigen Bienenschwarms (die Zeit von „Jahrtausenden“ ist verräumlicht durch die Identifizierung von Bienen mit Sekunden), der (vielleicht provoziert?) aggressiv um einen Bienenkorb kreist. Die Zeitebene (Jahrtausende) und die Sprachebene (Hauptwort) wird mit diesem Bildhintergrund verschmolzen. Der „Bienenkorb der Sonne“ verbindet sich durch das Partizip „kreisend“ mit „Hauptwort“ ohne einen unmittelbaren Zusammenhang herzustellen. „Sonne“ bleibt innerhalb der verschränkten Sprachschichten fast isoliert, sie ist einzig mit dem Partizip „stechend“ bildlogisch verknüpfbar; die positive Farbassoziation, die sich durch die Analogie „Bienenkorb“ (Honig – honigfarben) und „Sonne“ vielleicht kurz einstellt, wird durch die Festlegung auf die negative Eigenschaft der Bienen (stechen) abgelenkt.
Eine „stechend“ heiße Sonne wird sprachpsychologisch mit Bienen und Sekunden verbunden; in dem Partizip „stechende“ fallen also drei Sprachschichten zusammen, die aufeinander und auf die übrigen Sprachebenen wirken:
Die Zeit wird als unendliche Menge gleich schmerzhafter Augenblicke verräumlicht; der dauernde „stechende“ Schmerz unendlich vieler Sekunden („Jahrtausende“) verbindet sich mit „stechender“ Sonnenhitze, „stechenden“ Bienen und erinnert durch die anthropomorphisierten Attribute an menschliche Folterer und Angreifer. In dieser Gedichtstrophe eines der jüngsten Gedichte von Nelly Sachs ist die Simultaneität als Gleichzeitigkeit verschiedener Sprach- und Bildschichten, Bewußtseinsebenen und gegensätzlicher Sinnesbereiche verifiziert. Simultaneität ist das Hauptmerkmal der Moderne; sie kennzeichnet das veränderte Bewußtsein zur Dimension von Zeit und Raum und zur Funktion der dichterischen „Vision“ und Erinnerung. Die von James Joyce definierte „Epiphanie“ ist das dichterische Erscheinungsbild moderner Simultaneität. Im angestrebten Nebeneinander verschiedener Eindrücke ist die Epiphanie der Brennpunkt aller bis dahin unzusammenhängenden Vorstellungs-Geraden. Am Partizip „stechende“ entzündet sich in dem Gedicht „Diese Jahrtausende“ die Epiphanie, in der sich die verschiedenen Sprachschichten überschneiden und einander erhellen. Walter Höllerer hat die Epiphanienlehre von Joyce erläutert:

Was durch die Sinne in einem bestimmten, konzentrierten Moment wahrgenommen wird, nimmt als Erscheinung Umrisse an. Im gleichen Vorgang aber wird Epiphanie als wahrgenommener Moment auch schon Erscheinungs-Vision, vorgestellter Moment, der die einzelne Wahrnehmung von einem avisierten Ganzen her aufleuchten, ,strahlen’ läßt. Erinnerung und Erwartung verknüpfen die äußere Erscheinung mit den älteren Menschheitserfahrungen und -träumen und den jüngsten vortastenden Entdeckungsversuchen. Augenblick und Einzelding werden so, wie bisher kaum je, betont.

An die Stelle eines oft scheinkommunikativen, vergleichenden Vorverständnisses tritt die Epiphanie als, wie Joyce selbst sagt, „plötzliche geistige Manifestation“, die nur für diesen Augenblick gültige Konstellation, die hergestellt wird und nicht als symbolischer Kairos gegeben ist.
Der Unterschied von traditionellem, nachvollziehbarem Vergleich und moderner, zeichenhafter Epiphanie wird deutlich, wenn wir mit dem erläuterten späten Gedicht von Nelly Sachs „Diese Jahrtausende“ das erwähnte frühe Gedicht „Völker der Erde“ aus dem Zyklus „Sternverdunkelung“ vergleichen, in dem eine ähnliche Thematik noch deskriptiv „behandelt“ wird. Das Gedicht bedient sich sogar einer ähnlichen Bildlichkeit, aber liefert sozusagen einen Kommentar mit durch vergleichende Begriffe, die die Bilder „entschlüsseln“:

Völker der Erde…
die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden −

Das späte Gedicht verzichtet auf ein unmittelbar ansprechbares Gegenüber, auf persönliche Klage und warnende Beschwörung. Der Zustand der babylonischen Sprachverwirrung als Modell für den Sprachverrat, der dem Verrat in der Tat vorausgeht, wird nur sehr indirekt, gleichsam atmosphärisch evoziert.
Erst die letzte Strophe nimmt die unmittelbar nicht identifizierbare Metapher „zorniges Hauptwort“ wieder auf. Der Zustand hilfloser Sprachverwirrung („in allen Sprachen“) wird gezeigt (nicht ausgesprochen) und die spürbare persönliche Intention wird in die Sprache selbst projiziert:

Vokale und Konsonanten
schreien in allen Sprachen:

Hilfe!

Das Modell der Sprachverwirrung heute ist in der „Sprache der totalen Verwaltung“, wie Herbert Marcuse sie definiert, gegeben. Die Sprache der modernen Dichtung widersteht gerade durch ihre Schwerverständlichkeit, durch den „Schock des Unverständlichen“, den sie auslöst, der Sprache des gesellschaftlichen Verwaltungsapparates. Diese zeugt, wie H. Marcuse feststellt,

von Identifikation und Vereinigung, von systematischer Förderung positiven Denkens und Handelns, von dem planmäßigen Angriff auf transzendente, kritische Begriffe. In den herrschenden Sprechweisen erscheint der Gegensatz zwischen zweidimensionalen, dialektischen Denkweisen und technologischem Verhalten oder gesellschaftlichen ,Denkgewohnheiten‘. … Das Wort wird zum Cliché und beherrscht als Cliché die gesprochene oder geschriebene Sprache; die Kommunikation beugt so einer wirklichen Entwicklung des Sinnes vor.

Gegen die Sprachlenkung durch den Apparat der verwalteten Gesellschaft, der die Sprachverwirrung und Sprachlüge bewußt fördert, um das Individuum manipulierbar zu machen, arbeitet das moderne Gedicht. Die Vieldimensionalität und Nichtidentifizierbarkeit seiner Metaphern und Zeichen widerlegt das vom Apparat gesteuerte „eindimensionale“ Denken, das durch die Leistungsfähigkeit und Produktivität des Apparates den Schein von Rationalität und Wahrheit erhält; so gesehen ist Kunst, wie Herbert Marcuse sagt, „die Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist“. In den späten Gedichten von Nelly Sachs öffnet sich eine neue Dimension der Transzendenz: jene Dimension, die das Bestehende und Etablierte, „das, was ist“, transzendiert; die durch neue Konstellationen Denk- und Gefühlsgewohnheiten sprengt, die, wie Nelly Sachs sagt, „einbricht“ in „die Felder der Gewohnheit“.
Die in den frühen Gedichten formulierte Aufgabe der dichterischen Erinnerung gegen jede Form des Vergessens – auch die der einordnenden Gewohnheit – wird in den späten Gedichten unausgesprochen realisiert: vielleicht kann in ihnen, was Herbert Marcuse von der Kunst erhofft, die Freiheit „überwintern“.

Gisela Dischner, aus: Bengt Holmqvist (Hrsg.): Das Buch der Nelly Sachs, Suhrkamp Verlag, 1977

Sprache der Rätsel – Rätsel der Sprache

Wenn einer Rätsel aufgibt, dann müssen sich andere daran versuchen, sie zu lösen. Gewiß ist damit nicht behauptet, daß sich die Rätsel lösen lassen. Es aber dabei bewenden zu lassen, die Rätselhaftigkeit der Rätsel „geduldig zu erfahren“, um nicht ihren sich der Deutung entziehenden Rest zu zerstören, könnte letztlich nicht gefährlicher sein als der Versuch der Deutung. Denn noch ist nicht ausgemacht, wer der „eine“ ist, der die Rätsel aufgibt, noch ob nicht der sich versucht, der versucht sie zu lösen, noch gar, ob nicht gerade dies aufgegeben sein kann. Rätsel wollen geraten werden, wer könnte es sich leisten, ihren verborgenen Rat auszuschlagen.
Bekanntlich sind nicht alle Rätsel von der Art der Kinderrätsel. Aber noch in ihnen zeigt sich die Grundstruktur des Rätsels, einer der weiß oder zu wissen vorgibt, und andere, die im Lösen ins Wissen eingeschlossen, die eingeweiht werden. Zwar steht nichts „auf dem Spiel“, meist entlastet sich der angespielte Ernst im Scherz. Aber manchmal ist auch Buße zu zahlen, das Pfand, das der gibt, der nicht rät, steht ein für ihn, der das Pfand ist. Wird „im Ernst“ gespielt −, keineswegs nur im Märchen – dann muß der, der keine Pfänder mehr hat, sich selbst preisgeben. Entweder nur seinen Leib oder gleich sein Leben. Von der Struktur her ist das „Ich seh etwas, was du nicht siehst“ von der Rätselfrage der Sphinx oder anderen in verschiedenen Kulturen belegten Formen des „Halsrätsels“ nicht unterschieden. Bei den „Halsrätseln“, bei denen es also gleich „um Kopf und Kragen“ geht, ist jedoch der Bezugspunkt verlagert, es sind nicht mehr Ausprägungen „bewußter Symbolik“, sondern Erscheinungsweisen des „An sich Rätselhaften“. Die Lösung ist bei Gott oder bei den Göttern. Der Rätselwettstreit als Gesellschaftsspiel ist die säkulare Abart des kultischen Rätselwettstreits. Rätsel und Opferhandlung gehören zusammen. Wer am Opferrätsel teilnimmt, nimmt teil am Rätselhaften Gottes, dem er zum Opfer fallen kann. Priester und Seher sind Eingeweihte, der Prophet Verwandtschaft von „ainigmos“ Rätsel und „ainos“ Spruch im Griechischen bezeichnet diesen Zusammenhang. Das Rätsel Gottes, das Rätsel der Weltschöpfung, das Rätsel des Menschen sind als menschliche Rätsel bezogen auf das Rätsel der Sprache. Nur in ihm läßt sich „Rätselhaftigkeit an sich“ zum Sprechen bringen, ein Prozeß in dem Denken und Dichten auf je ihre Weise gefordert sind. Ob sich der Dichter als „aenigmator“ versteht, ob er die Sprache künstlich verrätselt, ob er formal Rätsel dichtet, in jedem Fall dichtet er auf dem Grund der Rätselhaftigkeit. Selbst wenn sie nicht darum weiß, hat die Sprache des Rätsels teil am Rätsel der Sprache; und in diesem Rätsel der Sprache teil am Rätsel des Rätsels. Was aber geschieht, wenn gerade dies im gedichteten Rätsel zur Sprache kommt?
Nelly Sachs nennt ihre letzten Gedichte Glühende Rätsel. Illuminieren sie die „Wohnungen des Todes“, übernehmen sie die Aufgabe der Sterne in der Weltzeit der „Sternverdunkelung“, glühen sie, wenn „niemand weiß weiter“, werden sie aus „Flucht und Verwandlung“, begegnen sie kometengleich auf der „Fahrt ins Staublose“? Schon dieser Versuch, die späten Gedichte zu allen früheren in Beziehung zu setzen, weist die Glühenden Rätsel aus als Texte, die zu allen früheren in Beziehung gesetzt werden können, die aber gerade weil sie in diese Beziehung gebracht die Beziehung aushalten, sich von den früheren unterscheiden müssen. Ehe diese Andersheit, die sich formal auf den ersten Blick in den Reduktionen anzeigt, gedeutet werden soll, scheint es geraten, die früheren Werke der Nelly Sachs auf „Rätsel“ hin zu befragen.
Im Eli taucht es als Metapher zum ersten Mal auf (1943).

… Alt mußte die Erde werden,
bis der Haß,
der sich blutig mühte,
das Rätsel Jude zu lösen,
den Einfall bekam
es aus der Welt zu werfen mit Musik

Marschmusik ertönt, während die Verse gesprochen werden. Der barbarischste Versuch, das Rätsel, das den Nichtjuden mit den exilierten Angehörigen des auserwählten Volkes aufgegeben ist, nicht zu raten, sondern aus der Welt zu schaffen, hieß Endlösung. In der rätselhaften Existenz des Volkes Gottes kam zugleich das Rätsel der eigenen Existenz zum Vorschein. Da diese aber in Blut und Boden, Volk und Rasse aufgehen mußte, sollte jene ausgerottet werden. Das „rassisch auserwählte Volk“ vernichtet das von Gott auserwählte Volk, um damit die Frage nach dem Rätsel, die Frage nach diesem verborgenen Gott zu vernichten. Wie diese plagiierte Auserwähltheit wurde auch deren Bindung an Blut und Boden pervertiert. Das „Rätsel Jude“ ist nämlich nie nur individuelles Rätsel, sogar nicht nur das Rätsel des „Volkes Israel“, es ist immer zugleich das Rätsel des „gelobten Landes“. Deshalb gilt die Sehnsucht aus dem Exil zurückzukehren auch dem Heiligen Land – ein Stückchen Erde wird dem Toten in der Fremde auf die Augen gelegt −, weil dieses Land miterlöst wird. Aber „dies Land / ein Kern / darin eingeritzt / sein Name!“ steht stellvertretend für die ganze Erde, für alle unerlöste Schöpfung: Mensch und Tier, Erde und Stern. Von Anfang an, nicht erst in der jüdischen Mystik, ist die historische Erlösung verbunden mit der kosmischen.
So verwundert es nicht mehr, vom „Rätsel der Erde“ und der „Rätselfrage der Schwalbe“ zu hören in den Gedichten der Sternverdunkelung, in denen sich die Erfahrung des gegenwärtigen Leidensraumes öffnet in die Geschichte des Alten Bundes und ins Kosmische.

… Aus ihrem heimlichen Takt entlassen
sind die Schritte,
die wie Brunnenschwengel an das Rätsel der Erde klopfen

… O der Schwalben Rätselfragen
an das Geheimnis

Wird mit den unsichtbaren Schritten an das Rätsel der Erde, an die Rätselhaftigkeit der Kosmogonie geklopft, so rühren die stummen Rätselfragen der Schwalben, Schnittmuster ihres Fluges, an das Geheimnis. Auch sprachlich geschieht an den drei bisher betrachteten Stellen Verschiedenes; die verkürzte Metapher „Rätsel Jude“ ist verschlossener als die explizierende genitivische „Rätsel der Erde“; die Rätselfrage hingegen hat doppelte Fremdheit, denn nicht nur erhält die Schwalbe keine Antwort auf ihre Frage, noch der Mensch auf seine, was es mit der Rätselfrage der Schwalbe auf sich habe. Nur aus dem Wissen, daß sie an „das Geheimnis“ rühren, werden die Rätselfragen überhaupt erst als diese erkennbar. Der dies Erfahrende hat ein, ihm vielleicht jetzt noch verborgenes, Vorwissen.

… Ausfährt im Sterben
der Rätsel Kometenschweif,
leuchtet,
wenn die Seele
sich heimtastet an seinem Geländer

Das Vorwissen ist bezogen auf einen Bereich, von dem die Seele mit dem Geborenwerden ausgekehrt ist, denn sie kehrt dahin „heim“ im Sterben. Aber die Anamnesis sichert nicht den Heimweg. Auf diesem Weg durch die Nacht gibt es nur das Geländer des leuchtenden Kometenschweifs der Rätsel. Sie fangen erst an zu leuchten, wenn der Mensch stirbt. Vorher verstellen sie ihm das Licht.

… Was im Gebiß der Mitternacht geschah,
ist so mit schwarzem Rätselmoos verflochten −
es kehrt auch niemand heil zu seinem Gott zurück −

Das dicht verflochtene, filzige Rätselmoos ist schwarz in der Weltstunde Jakobs, von dem hier die Rede ist. An anderer Stelle heißt es

… Saul, der Jäger aus Schwermut,
verzehrt unter der schwarzen Angst-Feuer-Dornen-Krone
will die Welt mit Fingern fangen,
aller Horizonte Rätselrinde zerbeißen…

Der, der die Rätselrinde zerbeißen will, weiß sich darin gefangen, weiß sich durch sie von dem Geheimnis getrennt. Wo ist der Baum zu dieser Rinde? Diesseits oder jenseits der Rinde – vom Menschen aus gesehen – oder auf beiden Seiten? Baum des Lebens, Baum des Todes und Baum der Erkenntnis.
Während an den ersten drei Fundstellen das Wort Rätsel abstrakt verwendet wurde, wurde es in den drei letzten konkretisiert: Kometenschweif, bzw. Geländer der Rätsel, Rätselmoos und Rätselrinde. In Und niemand weiß weiter kommt das Wort noch einmal vor:

… In deiner Hand
verpuppten Rätselmoos
wickelt sich die Nacht aus
bis du den flügelatmenden Morgenfalter hältst…

Wieder ist das Rätselmoos dunkel, versponnen in den Fäden haben sich die nächtigen Rätsel verpuppt, in der Hand der Wahnsinnigen entpuppen sie sich aber schon im Leben, wickeln sich aus zum hellen Morgenfalter. Was dem Entrückten (morbus sacer) schon in der Zeit gelingt, erfährt der andere erst im Sterben.

Diese Kette von Rätseln
um den Hals der Nacht gelegt
Königswort weit fortgeschrieben
unlesbar

denn es muß ausgelitten werden
das Lesbare
und Sterben gelernt im
Geduldigsein −

Erst hier im vorletzten Gedicht der Fahrt ins Staublose, dem vorletzten Gedicht also vor den Glühenden Rätseln, wird das Rätsel noch einmal angesprochen. Zwar ist hier, wenn auch in verändertem Bildgefüge, noch einmal die Beziehung genannt zwischen Rätsel, Nacht und Sterben, aber zum ersten Mal ist das Rätsel explizit bezogen auf einen anderen Bereich, den des lesbaren und unlesbaren Wortes.
Um dieselbe Zeit wird das Verhältnis von Rätsel und Sprache auch in einem der Stücke thematisch: (der blinde) Beryll sieht in der Nacht. In einer Szene treffen zwei Rätselauffassungen aufeinander. Die Situation sei kurz skizziert: Die Sonne schreibt Zeichen in die Bienenwaben-Wände der Arche, die also mit den Wänden schmelzen müssen. Die Nacht spricht dazu „Auf dem schwarzen Grund / wird das Geheimnis süß“. Jemand rennt mit der Stirn gegen die „Wand der Nacht“. Diese dumpfen Schläge werden von einem Fernsehkommentator schnell aufgeklärt

Des Rätsels Lösung:
Es sind die Apfelbäume die ihre Äpfel rollen lassen
bumbs – bumbs
Plötzlich aus dem verlorenen Paradies hereingewandert
Wir sind die Besieger aller alten Mythen

aber nachdem einige andere Stimmen sich geäußert haben, spricht wieder, während Musik erklingt, die Nacht

Und die Erde baut leise
auf den Traumwegen der Worte
die Zeichen eingerätselt
in der Locke des Propheten
GEDULLA…

Daraufhin wirft Azraela, der gefallene Engel, die Bausteine der Worte der Nacht dem stummen Netzach zu. Der setzt die Buchstaben in der Luft zusammen und sie leuchten. Der blinde Beryll hört die „Vokale und Konsonanten singen“. Beryll ist – wieder Michael im Eli – „einer der geheimen Gottesknechte, die sechsunddreißig an der Zahl – und ihnen gänzlich unbewußt – das unsichtbare Universum tragen“, schreibt Nelly Sachs im Nachwort zu den Stücken. Damit deutet sie selbst auf den Bezugspunkt ihres Schreibens, jene chassidische Mystik, die für sie im Sohar kulminiert. In diesem – gegen Ende des 13. Jhdts. entstandenen „Buch des Glanzes“ treffe sich aber, so meint sie, „die Mystik der ganzen Welt“. Was in den Gedichten, zumal seit dem Zyklus „Geheimnis brach aus dem Geheimnis“ für den Dichter des Sohar noch stärker verschlüsselt war, wird in den Stücken explizit. „Beryll“ hat als zweiten Titel „Das verlorene und wieder gerettete Alphabet“, den das Nachwort kommentiert: „Das Alphabet ist das Land, wo der Geist siedelt und der heilige Name blüht.“ Wie im Spiel der Azraela mit Netzach werden im Zerschlagen der alten Worte die Elemente, die Buchstaben nicht vernichtet, sondern frei zur Verwandlung in neue Worte. Auch im Griechischen heißt „stoicheon“ beides: Element und Buchstabe zumal bei Empedokles und Demokrit −; dabei ist es in diesem Gedankengang aufschlußreich, daß stoicheon zunächst den Stift in der Sonnenuhr bezeichnet, der den Schatten wirft. Im „Beryll“ heißt es

… Ihr habt euer Alphabet erschlagen −
Eure Buchstaben vergessen −
Sintflutertrunken ist euer Wort.

Aber nach jeder Sintflut fügt Netzach die Buchstaben wieder zusammen, nicht nur zu „Tohu“ und „Bohu“ (Äther und Wasser, in der jüdischen Mystik aber auch „Materie und Form“), sondern im „Beryll“ zu dem Jakob Böhme-Wort „Nichts – ist die Sucht nach Etwas“. Die Entsprechungen von Theosophie und (deutschem) Chassidismus, von chassidischer und franziskanischer Mystik tauchen in diesem Zusammenhang nicht unvermutet auf. „Franziskus – Baalschem übersteigen heiliges Fasten / glänzen im Nichts“. Aber weder diesen Beziehungen noch denen zur platonischen und neuplatonischen Gnostik oder der philonischen Logoslehre kann hier nachgegangen werden, sondern dem Sprachrätsel.
Hinter dem „Alphabetismus“ steht die kabbalistische Sprachmystik, die in ihren Anfängen, wie die Kabbala überhaupt, außer auf Genesis vor allem auf den nicht-pentateuchischen Schriften, besonders auf Ezechiels Schau des himmlischen Wagens, der Merkaba, beruht, aber auch auf der anderen Stelle, wo von der Schriftrolle die Rede ist, die der Herr den Ezechiel essen hieß. Bedeutsam für die Entwicklung der Sprachmystik wird das Buch „Jezira“ (3.–6. Jhdt.), das von den 10 Urzahlen, den Sephirot, und den 22 Buchstaben handelt, von denen es heißt „(Gott) ersann sie, bildete sie, stellte sie zusammen, wog sie, vertauschte sie und brachte durch sie die ganze Schöpfung hervor sowie alles, was erschaffen werden soll“. Aber auch die talmudische Lehre kennt bereits in vorkabbalistischer Zeit eine sprachmystische Deutung der Tora. So erzählte im 2. Jhdt. Rabbi Meir, einer der bedeutendsten Mischna-Lehrer: „… Als ich aber zu Rabbi Ismael kam, fragte er mich: Mein Sohn, was ist deine Beschäftigung! Ich erwiderte ihm: Ich bin (Tora-) Schreiber. Da sprach er zu mir: Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben ausläßt oder zuviel schreibst, zerstörst du die ganze Welt…“ Später mischen sich beide Ströme und so heißt es im 13. Jhdt. bei Gikatilla: „Wisse, daß die ganze Tora etwas wie eine Explikation und ein Kommentar zum Tetragrammaton JHWH ist.“
Aus diesen Ansätzen erklärt sich, was dann „Kabbalistik“ genannt wird: einmal die Gematria, die Zahlenmystik, die den gleichen Zahlenwert bei semantisch verschiedenen Wörtern kalkuliert; zum andern der Lettrismus, magische Vertauschungen der Buchstaben des Tetragramms und der 22 Buchstaben, die sich zu ebenfalls kalkulierten Permutationen von Buchstaben und Buchstabengruppen als einem Chiffresystem des Kosmos entwickeln; und schließlich ein esoterischer Metaphorismus, der häufig als apokalyptische Geschichtsmystik oder als gnostische Theosophie und Kosmologie auftritt.
Alle drei kabbalistischen Prinzipien sind in der Geschichte der europäischen Literatur wirksam geworden – bei den Barockdichtern, bei Hölderlin, Novalis, Mallarmé, bis hin zu A. Holz, J. Joyce, R. Queneau und eben Nelly Sachs – und es ist fadenscheinig, „Metapher“ gegen „Kalkül“ ausspielen zu wollen; beides sind – oft genug verschlungene – „Äste am einen Stamm“ der Sprache, aus der Dichtung gemacht ist.
In den letzten, den metaphorischen Zug der Sprachmystik gehört z.B. eine Stelle aus dem Jezirakommentar Isaak des Blinden (Ende des 12. Jhdts.):

(Der Sprache und der Dinge) Wurzel ist in einem Namen, denn die Buchstaben sind wie Zweige, die erscheinen wie Flammen, die sich flackernd bewegen, bei denen Bewegung stattfindet, und die doch mit der Kohle verbunden sind, und wie die Blätter des Baumes, und seine Äste und Zweige, deren Wurzel immer im Baum ist. … So folgt denn, daß alles in der Wurzel, welches der eine Name ist, drin ist.

Von hier führt ein Weg zurück zu den Texten von Nelly Sachs. Schon im Eli heißt es:

… zu denken,

daß dieser Staub das Gebetbuch des Lurja hätte berühren können,
als es versteckt lag,
bis seine Buchstaben Flammen sprühten –

und

Staub der Gebetbücher,
aus denen Buchstaben springen wie Flammen

Ehe einem aber die „Kette von Rätseln“ wie Flammen aufspringt, muß das Lesbare ausgelitten und Sterben geduldig gelernt werden. Wieviel diese Rätselkette mit dem Alphabet und den lesbaren und unlesbaren Worten zu tun hat, ergibt sich noch aus anderen Stellen, die hier nur noch zitiert sein sollen:
im Beryll

… Einer ertrank bis in die Sprache der Fische −
Einer hat seine Adern geöffnet
Blut füllt die Glorienkette des Alphabets

oder im Eli

Maure dies mit ein
es sind die heiligen Worte darin,
mein Geliebter gab sie mir,
und ich trug sie als diese Kette um meinen Hals

und im Prolog zu Abram im Salz

Da liest der Ausgräber
in der Bibel des Staubes
eingeküßtes Muster
königlich Gewebtes
und
sieht die Kette
golden
den Staub sonnen…

Dem nachgehend, was „Rätsel“ im Gedicht der Nelly Sachs bedeutet, zeigten sich Rätsel des Menschen, Rätsel des Kosmischen, Rätsel Gottes und Rätsel der Sprache. Wenn alles aus dem einen Atem, dem einen Alphabet geschaffen ist, dann ist auch das Unlesbare lesbar, die Sprache der Fische hörbar, dann kann kein Atemzug verloren gehen. Dem Frommen wird des Rätsels Lösung im Sterben offenbar; dem Dichter bleibt schon vorher die Aufgabe, das Unlesbare lesbar zu machen, das Gebet zu finden, das die verstümmelten Silben der abgeschnittenen Schöpfung zusammenfügt, die Verwandlungen der Welt zu sagen, die Umgangssprache des unsichtbaren Universums zu erlauschen, das Schweigen zur Sprache zu bringen. Aber all dies geschieht im Gedicht der Nelly Sachs schon in den Gedichten, die vor den Glühenden Rätseln entstanden sind. Wenn sie etwas anderes sind diese Annahme war der Grund, warum zunächst versucht wurde zu deuten, was Rätsel bis dahin in diesem Dichten bedeutet und aus welcher Sprachwurzel es kommt – dann ist zu fragen, gibt es einen Weg, der außer dem Sterben in die „Glut“ führt? In den besprochenen Gedichten fand sich ein einziges Mal der Wandel vom nächtigen Rätselmoos zum „Morgenfalter“, bei der Besessenen. Ist dies die einzige Möglichkeit? Das Eingangsgedicht heißt nun:

Diese Nacht
ging ich eine dunkle Nebenstraße
um die Ecke
Da legte sich mein Schatten
in meinen Arm
Dieses ermüdete Kleidungsstück
wollte getragen werden
und die Farbe Nichts sprach mich an:
Du bist jenseits!

Das eingestandene Wissen „du bist jenseits“, wird ohne jeden ekstatischen Gestus gesagt. Der mystische Weg ist das alltägliche Inventar und zugleich die kosmische Szenerie. Nacht, diese eine und die Weltnacht; Straße, diese eine und der „Lebensweg“. Aber dann wird der ungewohnte, der unvertraute Weg gegangen „um die Ecke in eine dunkle Nebenstraße“. Da plötzlich identifiziert sich der Schatten mit dem Körper. Nach kabbalistischer Deutung hatte Adam vor dem Fall „Gewänder von Licht“ und nachher nicht nur „Gewänder von Haut“, sondern „Gewänder von Schatten“. Jetzt fallen Körper und Schatten zusammen; das ermüdete Kleidungsstück, das solange getragen wurde, will „getragen“ werden. Die Finsternis ist so schwarz oder das Licht so blendend, daß der Schatten zurückfällt und die Farbe Nichts spricht. Das finstere Licht Hiobs, der innerste Grund oder der höchste Ort göttlicher Weisheit, der sich jeder Vergegenständlichung entzieht, ist – Urlicht oder Urfinsternis – das Nichts. Aus diesem Nichts spricht das Wort, das darin seine „Grundlosigkeit“ hat (Meister Eckhart). Äußerstes Ziel kabbalistischer und christlicher Mystik ist die unio mystica, nur aus ihr wird gesprochen: du bist jenseits.
In der Konsequenz dieser „Unio“ wird das Vokabular einfach, die großen Vergleiche fallen weg, die Metaphorik verkürzt sich, der Stil wird elliptisch, der ganze Text reduziert sich ins Spruchhafte. Diese Meditationen einer Existenz sind zugleich Meditationen des Dichtens. Früher hieß es in Flucht und Verwandlung:

Uneinnehmbar
ist eure nur aus Segen errichtete
Festung
ihr Toten.

Nicht mit meinem Munde
der
Erde
Sonne
Frühling
Schweigen
auf der Zunge wachsen läßt
weiß ich das Licht
eures entschwundenen Alphabetes
zu entzünden…

Während Nelly Sachs dort versuchte, die Sprache des Schweigens zum Sprechen zu bringen und die Aporie einbekennt, sind die Glühenden Rätsel sprechendes Schweigen. Der Felsen ist durchschmerzt, die Festung der Toten, die Wohnungen des Todes öffneten den „Seeleneingang“. Alles ist gleichsam von „jenseits“ gesprochen. Deshalb ändert sich, außer der zugrundeliegenden kabbalistischen Mystik, nahezu alles in diesen Gedichten. Selbst die Dinge, die in diesen Reduktionen auftauchen, bleiben nicht mehr passiv:

Im verhexten Wald
mit der abgeschälten Rinde des Daseins
wo Fußspuren bluten
glühende Rätsel äugen sich an
fangen Mitteilungen auf
aus Grabkammern −

Hinter ihnen
das zweite Gesicht erscheint
Der Geheimbund ist geschlossen −

Der dies sagt, weiß sich eingeschlossen in den Geheimbund. Er kennt das zweite Gesicht, das die „sich an äugenden“ Rätsel löst. Er schaut die glühenden Rätsel, die obersten Sephirot, die „wie Blitzlichter hin und her laufen“. Sie verstehen Mitteilungen, die – aus Grabkammern – aus dem Sterben kommen. Die blutenden Fußspuren sind dann nicht weniger lesbar als die Buchstaben, die man aus der abgeschälten Rinde schneidet. „Eure Buchstaben sind aus unserem Fleisch“. Die Bäume stehen im verhexten Wald, der – „diesseits“ – undurchdringlich ist wie das schwarze Rätselmoos.
Vielleicht kann eine Gegenüberstellung den Intentionalitätswechsel, so ließe sich der beobachtete Vorgang objektivierend nennen, weiter verdeutlichen: das von außen Nennen, wobei die Dinge fixiert werden müssen, also passiv bleiben – und das von Innen Sprechen, wobei die Dinge, im gleichen Ungrund schwebend, aktiv werden können; einmal: Sprachmystisches beschwörend, zum andern: aus mystischem Vollzug sprechend.

Unter den Gedichten der Sternverdunkelung findet sich folgendes:

ZAHLEN

Als eure Formen zu Asche versanken
in die Nachtmeere,
wo Ewigkeit in die Gezeiten
Leben und Tod spült −

erhoben sich Zahlen
(gebrannt einmal in eure Arme
damit niemand der Qual entginge)

erhoben sich Meteore aus Zahlen,
gerufen in die Räume
darin Lichterjahre wie Pfeile sich strecken
und die Planeten
aus den Magischen Stoffen
des Schmerzes geboren werden −

Zahlen – mit ihren Wurzeln
aus Mördergehirnen gezogen
und schon eingerechnet
in des himmlischen Kreislaufs
blaugeäderter Bahn

Gegen dieses hymnische und trotzdem abgelöste Nennen – das lyrische Ich ist nur in der inständigen Trauer des Grundtons anwesend – der Verwandlung der schrecklichen, konkreten Zahlen in den kosmischen Zahlenhimmel läßt sich ein spätes Gedicht halten:

Ich sah ihn aus dem Haus treten
das Feuer hatte ihn angebrannt
aber nicht verbrannt
Er trug eine Aktentasche aus Schlaf
unter dem Arm
darinnen war es schwer von Buchstaben und Zahlen
eine ganze Mathematik −
In seinen Arm eingebrannt:
7337 die Leitzahl

Diese Zahlen hatten sich miteinander verschworen
Der Mann war Raumvermesser
Schon hoben sich seine Füße von der Erde
Einer wartete oben auf ihn
um ein neues Paradies zu bauen
„Aber warte nur – balde ruhest du auch –“

Während sich dort das Ich entzog, tritt es hier auf; dort Plural „eure“, hier „ihn“; dort Zahlen, die in ihrem Zahlenwert anonym bleiben, hier eine einzige „genaue“ Zahl; dort Zahlen, die sich im Versinken der Asche – gleichsam passivisch – erheben, hier Zahlen, die sich miteinander verschworen haben. Insgesamt wird jetzt keineswegs mehr nachträglich ein unbegreifliches Geschehen hymnisiert, sondern ein einzelner Vorgang genau wahrgenommen. Aber – und das scheint die entscheidende Veränderung und zugleich die entscheidende Voraussetzung – wahrgenommen von „innen“, von „jenseits“. Denn nur von innen kann „ich“ sehen, wie er aus dem Haus (des Lebens) heraustritt; läßt sich wissen, was in der Aktentasche aus Schlaf ist: Sephirot und Uralphabet; läßt sich die Leitzahl als Leitzahl erkennen und ihr genauer Ziffernwert ablesen. Die zehn Sephirot, Urzahlen, die zugleich für die Substanzen einstehen, teilen sich nach kabbalistischer Lehre in zwei Gruppen, die 7 „unteren“ und die 3 „höchsten“. Die Zahl 7337 kann man von vorn und von hinten lesen; sie ist nicht nur Heraklits Weg „hinauf und hinab“, sondern auch ein Gleichnis für Leben und Tod; an die zahlenmystischen Spekulationen über die Sieben- und die Dreizahl sei nur erinnert. Buchstabenfolgen, die man rückwärts liest, heben das Geschaffene – im Umkreis der „Golem-Mythe“ das vom Menschen in der Meditation zum Leben Gebrachte – wieder auf. Nelly Sachs kennt diese Deutung: „Immer noch buchstabieren die Kinder rücklings in den Tod“. Die Zahlen dieses „Rücklings“, dieses Palindroms, hatten sich miteinander verschworen: Leben und Tod sind in der Gleiche. Der Raumvermesser „hatte ausgemessen alle Landstraßen mit seinem Leib“. Deshalb wird er oben auf der Spitze der Sephirot, dem Ort der Urtora als der Heimstatt der Zahlen und Buchstaben, dem Ort Gottes erwartet. Dort soll er messianisches Gleichnis – ein neues Paradies bauen. Darauf gilt es zu warten, dann ist Ruhe.
Aber – und dies ist zugleich das ungoethische „aber“ im Zitat, das sich paralysierend auf die im „schon“ einsetzende Bewegung bezieht – das ganze Gedicht, nicht nur die Leitzahl, entpuppt sich als Rückling. Der Raumvermesser ist vielleicht auch der Landvermesser, der sagt: „Alle hinlegen. Tetragramme bilden. Der Mensch ist das Maß. Wir messen die Grenzen von hier und dort“. Dann hätten sich die Zahlen im anderen Sinne verschworen und seiner ganzen Mathematik, die er säuberlich in der Aktentasche mitgebracht hatte als verfügbare Unterlage, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dann meint er nur, er werde „erwartet, um…“. Das Zitat entlarvte das kalkulierte Risiko dessen, der nur „angebrannt, aber nicht verbrannt“ war. Das Mysterium läßt sich nicht errechnen. Der eine, der wartet, wird auch von der mystischen Schau nicht gezwungen.
Man muß das Weiße zwischen den Zahlen und Buchstaben mitverstehen oder – wie Isaak der Blinde von der präexistenten Tora sagte – das schwarze Feuer auf dem weißen. Dann werden die „Glühenden Rätsel“ Rätsel des Lichts:

Als der große Schrecken kam
wurde ich stumm −
Fisch mit der Totenseite
nach oben gekehrt
Luftblasen bezahlten den kämpfenden Atem

Alle Worte Flüchtlinge
in ihre unsterblichen Verstecke
wo die Zeugungskraft ihre Sterngeburten
buchstabieren muß
und die Zeit ihr Wissen verliert
in die Rätsel des Lichts −

Hellmut Geißner, aus: Nelly Sachs zu Ehren, Suhrkamp Verlag, 1966

 

XLIV

mitunter im traum dieser nacht
sprachen selbst jene schlafenden fahrenden laut,
mit der kraft der betrunkenheit
nahmen die einen
dies an
und die übrigen mit jener kraft
die als rätselhaft gilt,

die delphine die ebenen,
das unter mühen sich artikulierende delta,

(in memoriam Nelly Sachs)

Ulrich Zieger

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Friedenspreis +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + UeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00