Gleiches anders machen. Praxis und Kritik der literarischen Nachübersetzung 

Das Nachübersetzen literarischer Texte hat seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Nicht nur zahlreiche Werke aus dem kanonischen Fundus der Weltliteratur (darunter die Versdichtungen Puschkins, Baudelaires, Whitmans, Romanwerke von Manzoni, Stendhal und Tolstoj usf.), sondern auch manche Klassiker der europäischen Moderne und des späteren 20. Jahrhunderts sind in jüngerer Zeit in neuer deutschsprachiger Fassung erschienen. – Allein von Henry Fieldings Monumentalroman Tom Jones gibt es aus den vergangenen Jahren drei vollständige Neuübersetzungen, gleich zwei unterschiedliche Neuübersetzungen von George Eliots „Middlemarch“ wurden 2019 vorgelegt, und bereits werden vermehrt auch zeitgenössische Autoren verhältnismäßig kurzfristig nachübersetzt, was wohl darauf schließen lässt, dass die Halbwertzeit literarischer Übersetzungen generell drastisch im Sinken ist.

Diese zum Trend gewordene Tendenz kann zweierlei Gründe haben. Entweder geht es darum, bereits vorliegende Übersetzungen philologisch auf Fehler oder Auslassungen im Text zu überprüfen, sie also zu revidieren, oder es besteht das Bedürfnis nach weitergehender stilistischer Bereinigung beziehungsweise nach der Anpassung eingedeutschter Vorlagen an zeitgenössische Lektüreerwartungen. Beide Zugänge sind berechtigt, die jeweils angewandten Verfahren unterscheiden sich allerdings fundamental.
Während der philologische, vorab auf Korrektheit angelegte Zugang den Weg zurück zum fremdsprachigen Originaltext neu eröffnet und dessen inhaltliches Verständnis optimiert, führt der stilkritische Zugang in aller Regel über die Originalvorlage hinaus, nicht selten mit dem Anspruch, die Übersetzung als eigenständige Nachdichtung in der Zielsprache zu etablieren und dadurch, im Unterschied zum philologischen Übersetzer, auch einen literarischen Mehrwert zu schaffen. Im einen wie im andern Fall kommt den bereits vorhandenen Übersetzungen, unabhängig von ihrer Qualität, fast ebenso große Bedeutung zu wie den fremdsprachigen Originaltexten.

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Jede Neuübersetzung ist eine Nachübersetzung, deren Berechtigung der Übersetzer durch seine Arbeit belegen muss. Nicht selten wird dieser Nachweis gleich schon auf der Ebene der Titelei geführt. Manche Nachübersetzer fühlen sich bemüßigt, durch die Neufassung der Werktitel, sei sie auch noch so minimal, ihre Eigenständigkeit zu unterstreichen. So sind – ein Beispiel dafür mag genügen – drei der bekanntesten Erzählwerke von Michail Bulgakow, Hundeherz, Die verhängnisvollen Eier und Der Meister und Margarita, neuerdings unter den Titeln Das hündische Herz beziehungsweise Die verfluchten Eier sowie Meister und Margarita zu lesen. Damit markiert der Übersetzer vorab seine Distanzierung von den früheren, durchaus textgerechten Verdeutschungen, doch einen nachhaltigen literarischen Gewinn kann er dabei nicht verbuchen.
Eher ist das Gegenteil der Fall. Der eigenwillige, dabei unnötige, ja deplatzierte Verzicht auf den bestimmten Artikel zu Der Meister und Margarita bewirkt, dass „Meister“ zu einem Eigennamen oder einer Rangbezeichnung wird, obwohl der Titelheld als Individuum unter anderem Namen auftritt. Selbst ein kleines Detail vermag die Bedeutung des Titels zu verfälschen, markiert aber eben auch die Absicht des Nachübersetzers, sich vom Vorgänger abzuheben. – Bei den Verhängnisvollen Eiern ist die Abweichung stärker ausgeprägt. Denn einerseits stehen im Russischen für „verflucht“ (prokljatyj, von prokljast’, „verfluchen“) und „verhängnisvoll“ (rokovoj, von rok, „Geschick, Schicksal“) zwei selbständige, klar unterschiedene Vokabeln zur Verfügung. Die Nachübersetzung opfert mithin die Präzision – oder schlichtweg: die Korrektheit – der Vorgängerfassung, nur um solcherart ihren eigenen Innovationsanspruch zu behaupten. Noch deutlicher bringt dies die Formulierung des Titels Das hündische Herz (für das prägnante Hundeherz) zum Ausdruck; denn ein „hündisches“ Herz gibt es im Deutschen ebenso wenig wie einen „hündischen“ Schwanz (also „Hundeschwanz“) oder ein „hündisches“ Bellen (für „Hundegebell“). Nur dort, wo der Hund nicht als solcher gemeint ist, sondern lediglich im Vergleich zum Menschen (Charakter, Aussehen usf.) gesehen wird, kann eine Eigenschaft oder ein Verhalten als „hündisch“ bezeichnet werden: „hündische Gemeinheit“, „hündische Unterwürfigkeit“, „hündische Gier“ usf. Dagegen bleibt’s wie eh und je bei der „Hundeschnauze“, bei der „Hundepfote“, bei der „Hundejagd“ und eben auch beim „Hundeherzen“. Aber selbst so geringe Unterschiede sind bei der Würdigung und ebenso bei der Kritik von Nachübersetzungen in Betracht zu ziehen, handelt es sich dabei doch in jedem Fall um bewusst und gezielt bewerkstelligte Abweichungen von früheren Versionen.

Wer nachübersetzt, provoziert naturgemäß den Vergleich mit jenen früheren Übersetzungen, die er für korrekturbedürftig hält. Von neu übersetzten Texten erwartet man gemeinhin, dass sie ältere Fassungen ersetzen, weil sie „besser“           sind als diese – „genauer“, „leichter lesbar“, „poetischer“, „moderner“, „eleganter“ u.ä.m. Für den Nachübersetzer wiederum können derartige Erwartungen zur Belastung werden, in vielen Fällen hindern sie ihn daran, exzellente Lösungen seiner Vorgänger zu übernehmen, denn wer neu übersetzt, lässt sich ungern als Nachübersetzer bezeichnen und wird alles dafür tun, seine Kompetenz und Überlegenheit unter Beweis zu stellen.
Namentlich anhand von Paul Celans einflussreichen dichterischen Übertragungen oder, generell, von Shakespeares eingedeutschten Versdramen und Sonetten ließe sich zeigen, wie spätere Übersetzer um bereits vorliegende Fassungen gleichsam herumgedichtet haben – bloß um Übereinstimmungen zu vermeiden und selbst um den Preis, hinter ihren Wegbereitern zurückzubleiben. Die jüngsten Neuübersetzungen von Mallarmé, Mandelstam, Beckett oder Wenjamin Jerofejew bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial, und man könnte, man sollte sich vielleicht doch einmal die Frage stellen, ob das umgekehrte Verfahren nicht um vieles produktiver wäre, nämlich die systematische Abfrage bereits vorliegender Übersetzungen nach brauchbaren, wenn nicht sogar optimalen Lösungen und deren Wiederverwertung für immer wieder neue, das heißt erneuerte Nachübersetzungen.

Die Daueraufgabe des literarischen Übersetzens wäre demnach als permanentes Recycling zu praktizieren. Jeder Nachübersetzer müsste sich für seine Arbeit dadurch rechtfertigen, dass er aus früheren Übersetzungen jeweils die besten Stücke unverändert beibehält und nur dort eingreift oder Eigenes beiträgt, wo Verbesserungen tatsächlich möglich, mithin auch nötig sind. − Der Nachübersetzer ist in jedem Fall Mitübersetzer, doch statt sich positiv auf seine Vorgänger und Vorlagen zu beziehen, setzt er sich gemeinhin polemisch davon ab, um die eigene Arbeit aufzuwerten. Dennoch ist festzustellen, dass manch eine ambitionierte Nachübersetzung (die ja stets als Neuübersetzung zu gelten beansprucht) hinter den Texten, die sie zu ersetzen vorgibt, zurückbleibt.
Das Recycling und Covering vorhandener Übersetzungen für Nachübersetzungen bietet sich vorab bei diskursiven und narrativen Texten an; die nachfolgend angeführten Beispieltexte von Emily Dickinson machen aber deutlich, dass auch die Lyrikübersetzung davon profitieren könnte. Doch eine ideale, eine definitive literarische Übersetzung wird auch so nicht gelingen, wohl aber – man denke an den Wettlauf Achills mit der Schildkröte – die stetige Annäherung an eine letzte, nicht mehr überbietbare Textfassung in der Zielsprache.

Doch zurück zu den Realien, zur Praxis des Nachübersetzens. Anhand eines aktuellen Beispiels will ich meine Überlegungen präzisieren. Von Emily Dickinson liegt seit kurzem eine umfassende, an Vollständigkeit grenzende Auswahl aus dem lyrischen Werk in zweisprachiger, chronologisch konzipierter Edition vor (Gedichte, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler, Carl Hanser Verlag, München 2006; erweiterte Fassung 2015). − Der Verlag bewirbt den Band mit dem Hinweis, die amerikanische Dichterin habe „in Deutschland bisher als Geheimtip“ gegolten, was durch die Tatsache widerlegt ist, dass es von Emily Dickinson rund ein Dutzend Buchpublikationen in diversen deutschen Übersetzungen gibt, die zu einem guten Teil noch immer greifbar sind. − Auch bei dieser Nachübersetzung soll also offenkundig ausgeblendet werden, was andere, frühere Übersetzer zur Vermittlung und Erschließung der Dickinsonschen Dichtung beigetragen haben.
Die Übersetzerin selbst charakterisiert ihr Eindeutschungsverfahren hochgemut als „eine zutiefst persönliche Lektüre“ und setzt sich damit implizit von „bisherigen deutschen Dickinson-Übersetzern“ ab. Wenn sie als ihre hauptsächliche Übersetzungshilfe die amerikanische Sekundärliteratur nennt, ist daraus wohl abzuleiten, dass es ihr vorab um das Verständnis und die Vermittlung der dichterischen Aussage geht, und nicht um die adäquate Nachbildung der dichterischen Form. Vordergründig erweist sich dies schon an der Textoberfläche, darin nämlich, dass die eigenwillige Großschreibung, mit der Emily Dickinson die im Englischen übliche Kleinschreibung konterkariert, in der Übersetzung ohne Not aufgegeben wird. Da die deutsche Orthographie Groß- und Kleinschreibung nach bestimmten Regeln unterscheidet, stellt sich diesbezüglich für die Übersetzung naturgemäß ein Problem.
Dem wäre aber leicht abzuhelfen gewesen, sei’s durch exakte Nachbildung der originalen Typographie (was im Deutschen dann eben die Kleinschreibung mancher Substantive erfordert hätte), sei’s durch Hervorhebung entsprechender Wortformen – beispielsweise „Two“, „Of“, „Than“ − in Versalien, also ZWEI, VON, ALS u.ä.m. Die zweite, gewiss aufwendigere Lösung würde (ebenso wie die ungewöhnliche Interpunktion) den verdeutschten Gedichten auch äußerlich eine gewisse Sperrigkeit und Extravaganz verleihen, was zu deren konzeptueller wie metaphorischer Kühnheit durchaus passen würde.
Leider lässt aber die „zutiefst subjektive Lektüre“ der Nachübersetzerin so bedeutsame formale Qualitäten wie weibliche beziehungsweise männliche Versschlüsse oder poetische Besonderheiten wie den gewollt ungenauen Endreim, die Privilegierung von konsonantischen vor vokalischen Lautfolgen und die bevorzugte Verwendung kurzer, oft einsilbiger Wörter weitgehend außer acht. Dies war, muss man ergänzen, auch gar nicht ihre Ambition. Mehr und explizit geht es ihr, recht allgemein, darum, „möglichst vielen Lesern den Weg zu diesen singulären Originalen zu ebnen“. Dabei tendiert sie allerdings dazu, gerade die Singularität – die provozierende Unbedarftheit, die poetische Dreistigkeit, den genialischen Eigensinn – Emily Dickinsons in der Übersetzung tatsächlich einzuebnen und über Gebühr bekömmlich zu machen, indem sie dunkle Laut- und Sinnballungen in plausibel wirkende Aussagen aufdröselt. Ein Exempel für Hunderte (Gedicht 581):

Of Course – I prayed −
And did God Care?
He cared as much as on the Air
A Bird – had stamped her foot −
And cried ‘Give Me’ −
My Reason – Life −
I had not had – but for Yourself −
’Twere better Charity
To leave me in the Atom’s Tomb –
Merry, and nought, and gay, an numb –
Than this smart Misery.

Zu deutsch:

Gebetet hab ich −
Natürlich – und Gott?
Der hörte darauf als hätt auf Luft
Ein Vogel gestampft −
Und Geschrien – ‚Gib‘
Mein Grund – ein Leben −
Das ich nicht hatte – außer für Dich −
Barmherziger wäre es gewesen –
Mich im Grab zerfallen zu lassen –
Heiter und leer, froh und matt −
Als diese raffinierte Not.

Mit Bezug auf das Gemeinte ist das Gedicht sicherlich korrekt übersetzt. Doch die Originalverse sind syntaktisch und lautlich völlig anders strukturiert als in der eingedeutschten Fassung. Die Ausdrucksweise ist fast durchweg, vor allem gegen des Ende hin, elliptisch − teilweise werden Substantive anstelle von Verben verwendet; Reime gibt es nur zwischen dem zweiten und dritten Vers (Care::Air) sowie im Schlussquartett, wo ein umfassender dreisilbiger Reim mit vager Assonanz (Charity::Misery) durch einen männlichen Paarreim (Tomb::numb) getrennt ist; der Rhythmus ist kurzatmig und einförmig, sein Staccato wird durch die auffallende Reihung einsilbig zu sprechender Wörter geprägt, bevor er – wie in einem langgezogenen Seufzer – mit dem mehrsilbigen „Misery“ ausklingt.
Im deutschen Text gibt es weder klanglich noch metrisch übereinstimmende Reimentsprechungen. Kübler übersetzt hier, wie anderswo auch, formal gänzlich unbekümmert, sie verfährt explikativ, will heißen, sie kommt dem Leser entgegen (gleichzeitigt entmündigt sie ihn), indem sie erklärt, was Emily Dickinson mit subtiler Sprachgewalt nur einfach konstatiert.
„Gebetet hab ich − / Natürlich −“ steht deutsch für „Of Course – I prayed −“, wobei mit „Natürlich“ eine unerwünschte Ambivalenz riskiert wird im Sinn von: „ich hab gebetet, ist doch ganz natürlich“ gegenüber dem klaren Statement: „Gewiss – Ich betete −“. Und weiter unten: „Barmherziger wäre es gewesen – / Mich im Grab zerfallen zu lassen −“ − das ist eine schwerfällige, rhythmisch ungelenke Umsetzung, die dem deutschen Leser voreilig vermittelt, was die Autorin hat sagen wollen, statt wiederzugeben, was sie, Wort für Wort, sagt.

Emily Dickinson imaginiert (bereits um 1863!) das lyrische Ich als Kern eines Atoms, von dem es sich wie von einer Grabkammer umschlossen fühlt. Von Zerfall keine Rede. Bei Werner von Koppenfels, der noch 2005 eine umfangreiche, thematisch gegliederte Dickinson-Auswahl vorgelegt hat, lautet dieselbe Stelle wie folgt: „Barmherziger wärs gewesen / Man ließ mich in der Atome Gruft – / Heiter, und Nichts, und froh, und stumpf – / Als dieses stolze Elend.“ Der erste Vers dieses Fragments kehrt in der Neuübersetzung fast unverändert wieder, auch sonst gibt es manche Übereinstimmungen, doch hat Koppenfels zumindest, wiewohl im unpassenden Plural, das Atom (aus „Atom’s Tomb“) erhalten, während die Nachübersetzung lediglich das Bezugswort „Grab“ beibehält. − Der letzte Vers ist hier unnötig belastet durch das anachronistische (weil zur Entstehungszeit des Gedichts noch nicht in der heutigen Bedeutung gebräuchliche) Adjektiv „raffinierte“, das mit seinen vier Silben im Vergleich zum englischen „smart“ einerseits zu gewichtig, anderseits zu unverbindlich auftritt. − Demgegenüber fehlt es demselben Vers bei Werner von Koppenfels an rhythmischer Stringenz, wiewohl er, in Übereinstimmung mit dem Original, weiblich auslautet. Vor allem jedoch bildet seine Übersetzung die spezifischen Reimqualitäten überzeugend nach (gewesen::Elend; Gruft::stumpf), ohne dafür merkliche semantische Verluste in Kauf zu nehmen.

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Um nicht bloß, wie in der Übersetzungskritik üblich, auf Mängel hinzuweisen, sondern auch eine Lösung anzubieten, schlage ich an dieser Stelle zusätzlich eine eigene Lesart für die vier Schlussverse vor: „’S wär besseres Erbarmen / Mich zu lassen in des Atoms Gruft − / Festlich, und nichts, und froh, und null − / Denn dieser schicke Jammer.“ – Allerdings erhebe ich keinerlei Anspruch, dem deutschen Leser auf solche Weise den Weg zu Emily Dickinson zu ebnen. Mir ginge es eher darum, die Fremdheit und Befremdlichkeit ihrer Gedichte nach Möglichkeit zu wahren.

Und um also fortzufahren – hier eins der Bienengedichte von Emily Dickinson in deutscher Nachübersetzung; es lautet (zunächst in Küblers Version): 

Ruhm ist wie Bienen
Kann singen −
Kann stechen −
Ah ja, auch fliegen.

Dazu das Original:

Fame is a bee.
It has a song −
It has a sting −
Ah, too, it has a wing.

Auch in diesem Fall besteht die Schwierigkeit der Übersetzung in der komplexen Einfachheit des Urtexts. Formbildend sind die starken Reimbindungen im Verein mit einem exakt symmetrisch platzierten Parallelismus („It has … / It has …“), der auf metaphorischer Ebene – Ruhm / Biene – seine Entsprechung hat.
Leicht ist es nicht, dieses strenge Konzept ins Deutsche zu transferieren. Zwar wird auch hier eine auf den ersten Blick korrekte Entsprechung geliefert, doch wieder geht dabei zuviel poetische Substanz verloren. Schon mit dem ersten Vers wird die kompositorische Symmetrizität aufgebrochen dadurch, dass sie den Ruhm (Einzahl) einer Mehrzahl von Bienen gegenüberstellt, wobei sie durch das eingeschobene „wie“ die starke Metaphernbildung zu einem bloßen Vergleich abschwächt. Bedingt durch die fragwürdige Pluralbildung ergeben sich in der Folge drei zweisilbige Verbformen (singen / stechen / fliegen) und damit drei weibliche Vers-Enden, die zu den im Original akzentuierten einsilbigen Reimwörtern (song / sting / wing) keine adäquate Lautentsprechung bilden.
Die Nachübersetzung gerät zu einem lyrischen Resümee, das Emily Dickinsons lapidare Fügungen aufweicht und gefällig macht. Die Umformung des Hauptworts „song“ zum Tätigkeitswort „singen“ impliziert eine falsche Vorstellung, denn „singen“ können weder Ruhm noch Bienen. − Doch auch bei Werner von Koppenfels, dessen Übersetzung in der Küblerschen Fassung fast wörtlich wiederkehrt, wird gesungen wie gestochen:

Ruhm ist eine Biene.
Kann singen −
Kann stechen –
Ach ja, kann auch fliegen.

Das englische Wort „song“ bezeichnet hier jedoch keineswegs ein Lied, also etwas (in Worten!) zu Singendes oder Gesungenes, sondern – mit speziellem Bezug auf Vögel und Insekten – eine nicht näher bestimmte melodiöse Kundgabe, ein melodisches Geräusch („some musical call“), das man sich in Bezug auf den Ruhm vielleicht als Fama, als respektvolle Rede oder einfach als Gerücht vorstellen darf. Dafür müsste auch im Deutschen ein Begriff gefunden werden, der sich mit „Ruhm“ und „Biene“ gleichermaßen verbinden ließe.

Als weiteres Beispiel führe ich eines der letzten, auch der bekanntesten, schon oftmals ins Deutsche gebrachten und in zahlreichen Anthologien abgedruckten Dichtwerke von Emily Dickinson an; ebenfalls ein Bienengedicht:

To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.

Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.

Der gedrängte, in sich aber uneinheitliche Textkörper wird vorab zusammengehalten durch die Wiederholung und wechselnde Anordnung einzelner Wörter sowie durch ein strenges Reimschema (a::a::a::b::b), zu dem auch ein identischer Paarreim gehört (bee::bee). In der neuen Übersetzung wird dieses Schema zwar durchbrochen (a::a::b::b::a), aber doch überzeugend variiert. Anderseits geht der Binnenreim (make::takes) ebenso verloren wie der gekreuzte Parallelismus (sic!) in den ersten beiden Versen, wo „clover“ und „bee“ linear wiederholt, aber mit umgekehrtem Zahlwort versehen werden („a“ und „one“ > „one“ und „a“).
Die Nachübersetzerin beschränkt sich demgegenüber auf „Klee und Bienen“ im ersten Vers, lässt also die Zählung weg und setzt sogar dort, wo klar von einer Biene die Rede ist, eine Mehrzahlform ein. Auf die Wiederholung im zweiten Vers verzichtet sie ganz, statt dessen steht bei ihr umschreibend „Je eins von ihnen“, wodurch der exakte Reim zu „Bienen“ gegeben ist. Der vorletzte Vers kommt, abgesehen vom hinzugefügten „auch“, in wörtlicher Übersetzung, während der schwierige Schluss (wörtlich: „wenn Bienen wenige sind“) im Deutschen so schlicht wie elegant umformuliert wird zu: „Bei wenig Bienen.“ Verlust und Gewinn halten sich in dieser Nachdichtung ungefähr die Waage. − Hier, zum Vergleich, die ältere Übersetzung von Lola Gruenthal:

Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene,
Ein Klee und eine Biene
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Sollten Bienen selten sein.

Werner von Koppenfels schlägt für dasselbe Gedicht die folgende, im Schlussteil eher umständliche Verdeutschung vor:

Für eine Prairie braucht man eine Biene, einen Klee,
Eine Biene, einen Klee,
Und Träumerei.
Wenn Bienen knapp sind, tut es auch
Träumerei allein.

Eine interessante, ebenfalls neuere deutsche Lesart dieses Gedichts bietet Wolfgang Schlenker:

Für eine Lichtung braucht’s Klee und eine Biene,
Ein Kleeblatt und Bienengesumm,
Und Träumerei.
Die Träumerei allein tut’s auch,
Falls Bienen rar.

Vielleicht sollte man in diesem Fall aus unterschiedlichen (auch unterschiedlich geglückten) Fassungen ein noch besseres Kompilat herstellen; etwa so (von mir als Fremdtext in Anführungsstriche gesetzt):

„Für eine Wiese braucht es Klee und eine Biene,
Einmal Klee und eine Biene,
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.“

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Zwei weitere, über den Anlass und das Beispiel hinausführende Fragen seien abschließend an dieser Stelle eingerückt: Wer hätte in einem solchen Fall als Autor der Übersetzung zu gelten? Wenn also die Leistung darauf beschränkt bliebe, mit Versatzstücken aus bereits vorliegenden Textfassungen zu operieren, ohne dass irgendein Element verändert, ausgelassen, hinzugefügt wird? Als „originell“ oder „auktorial“ könnte mithin, aus übersetzerischer Sicht, allein die kompilatorische Geste gelten – das Arrangement.
Und die andere Frage: Auch wenn das kompilatorische Verfahren im vorliegenden Fall anwendbar und unzweifelhaft produktiv ist, würde es sich in andern Fällen – je nach der poetologischen Veranlagung der Übersetzung – als obsolet erweisen. Dies gilt sicherlich für all jene Nachdichtungen, die sich von den fremdsprachigen Vorlagen bewusst abheben, die nicht philologisch eingehen auf deren Textgestalt, die vielmehr ausgehen davon, um sie in der Zielsprache als Variationen auszuarbeiten und fortzuentwickeln. Solches gilt beispielshalber für die Übertragungen von Wolf Biermann (Nachdichtungen und Adaptationen, von Shakespeare bis Bob Dylan), Oskar Pastior (Baudelaire, Chlebnikow, Gertrude Stein, Gelli u.a.m.) oder Franz Josef Czernin (Shakespeare), welche mit bereits vorliegenden Übersetzungen naturgemäß nichts zu schaffen haben.

Zudem gibt es Texte, die sich der philologisch adäquaten Übertragung prinzipiell verschließen und die deshalb gemeinhin als „unübersetzbar“ gelten. Derartige Vorlagen – man denke an die radikal sprachbezogene Dichtung des Dadaismus, Futurismus, Surrealismus, Konstruktivismus – können nur nachgebaut, nicht übertragen werden; nicht der Text, der dasteht, wird in die Zielsprache geholt, sondern das Verfahren, das zu seiner Herstellung in der Ursprungssprache angewandt wurde und das dort denn auch spezifische, bestenfalls analog, niemals direkt übertragbare Effekte klanglicher oder typographischer Art zur Folge hat. Mit dem in der Zielsprache verfügbaren lexikalischen Baumaterial wird nach dem originalen Konstruktionsplan solcher Texte eine eigenständige Entsprechung gefertigt, die mit der Vorlage lediglich durch ihre Entstehung und Machart, nicht jedoch in ihrer Aussage oder Bedeutung übereinstimmt. Ich selbst habe dieses Übertragungsprinzip für meine Nachdichtungen aus Werken von Stanley Chapman, Michel Leiris, aber auch, zumindest fallweise, von Edmond Jabès oder Marina Zwetajewa adaptiert.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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