Wilhelm Lehmann: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wilhelm Lehmann: Gedichte

Lehmann-Gedichte

DER DANK

Zurückgeballt ins Kurze, Baumäonen,
In Eichel, Ecker breite Kronen.

Oktoberlicht steht jäh im Windeszug
Wie Katapult schießt Busch zu Busche Hänflingsflug.

Kastanie öffnet Kugelschrein,
Ins Mahagoni ihre Innern lädt sie ein.

Ihr habt mich oft euch eingestimmt.
Was gebe ich, der von euch nimmt?

Die Achsel zuckt: nichts als Gedichte?
Gemach! Auch sie sind Weltgeschichte.

 

 

 

Nachwort

Wenn es eine literarische Folgerichtigkeit gibt, so kann man sie in den Gedichtbüchern Wilhelm Lehmanns entdecken und studieren. Man lernt in ihnen, die zwischen den Jahren 1935 und 1967, ein Jahr vor dem Tode des Sechsundachtzigjährigen, erschienen, solche Konsequenz in ihrer Entfaltungsmäglichkeit, ihrer Logik und ihrer Grenze kennen. Das Erstaunliche ist das Durchhalten und das Variieren dessen, was bereits im ersten Gedichtbuch Antwort des Schweigens offenkundig war: Natur als Gegenstand des Gedichts, Landschaft und die Jahreszeiten der Landschaft, die mit unvergleichlicher Genauigkeit festgehalten, aufgehalten waren.
Als Lehmann seine Antwort des Schweigens herausgab, war er ein Autor, der im sechsten Lebensjahrzehnt stand und durch Prosa, Romane wie Erzählungen, Aufsätze, Aufzeichnungen bekannt geworden war. Manche der Gedichte reichen weit zurück. Aber das Jahr 1935 markiert in der Öffentlichkeit zum erstenmal die Erscheinung dieses Lyrikers. Gleichzeitig brachte übrigens Elisabeth Langgässer ihre ersten, entscheidenden Arbeiten, den Band der Tierkreisgedichte, einer überraschten Leserschaft zur Kenntnis, die – so wollte man es ihr beibringen – unter Natur die Blut- und Boden-Mentalität des Nationalsozialismus verstehen sollte.
Wilhelm Lehmanns Gedichte sind Äußerungen des Mannesalters, der späten Jahre, der verarbeiteten, der er-schauten Erfahrungen und der Wiederholung dieser Erfahrungen. Man muß dies wissen, wenn man die Verse liest, die kompliziert sind in ihrer scheinbaren Einfachheit, ihrer liedhaften Strophik, verschlossen in ihrer Offenheit, in ihrem Jubel gegenüber dem Konkreten, der Einzelheit von Fauna und Flora, listig in ihrem Enthusiasmus und ökonomisch bei aller Fülle, die sie anbieten. Der Vorüberzug der Einzelheit vergegenwärtigt nicht nur den Augenblick, sondern er holt weit aus, bezieht Entferntes ein: antiken Mythos, keltische und germanische Sagen- und Märchenwelt, Bildungswelt überhaupt.
Beides weist aufeinander hin, so heterogen es anmutet. Beides ist aufeinander geradezu angewiesen: die Detailfreudigkeit des Naturkundigen und ein kühles Feuer sinnenhafter Freude, optischer Leidenschaft, akustischer Reizbarkeit. So hatte einst der Heranwachsende eine Gartenwelt kennengelernt: „Das bloße Dasein war ein Rausch. Es verzauberte mich, ich kauerte als sein Geschöpf, als sein ergriffener Schüler.“ In seiner autobiographischen Prosa „Mühe des Anfangs“ aus dem Jahre 1952 heißt es an anderer Stelle:

Der größte Teil des Gartens diente dem Anbau von Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, dann folgte ein Stück Grasland, das mit Ulmen, Faulbäumen, Kirschen bestanden war. Gegen die riesige Holzwand stieß wieder ein Stück Acker… Im Schatten der Planke hausten Erdkröten. Ich sammelte sie. Ich schlug sie beileibe nicht wie jenes Kind im Märchen mit einem Löffel auf den Kopf. Ich sah ihnen in die glänzenden, braunen Augen. Schnecken waren unser liebstes Spielzeug. Wir sortierten sie nach ihrer Farbe, pflanzten Stäbe in die Ritzen des alten Gartentisches und sahen zu, welche unter ihnen ihr Haus zuerst hinaufschöbe. Ich lag unter der Ulme des Grasstücks. Unerwartet, aus heiterer Luft, ohne erkennbare Ursache ließ sie einen Ast fallen. Merlin saß oben. Meine Nähe scheuchte ihn nicht, er lachte leise. Ich hörte ihn.

Die Sätze zeigen den Dichter Lehmann: sein Vorgehen, sein Verhalten, seine Kunst der Beobachtung, der Fixierung, Kunst des Sammelns, des Zusammentragens, Kunst des Bewahrens. Ein grünes Arsenal kam so als Gedichtwerk zustande, zuweilen einem Irrgarten nicht unähnlich: überraschend, betäubend, schweigend, menschenfern oder gar menschenlos, eine stumme vegetative Szenerie. Bis in die Titel der Gedichtbände, für die Dauer von mehr als drei Jahrzehnten, bleibt das Charakteristische ablesbar. Antwort des Schweigens, Der Grüne Gott (1942), Entzückter Staub (1946), Noch nicht genug (1950), Überlebender Tag (1954), später noch Abschiedslust (1962) und schließlich Sichtbare Zeit sprechen die Folgerichtigkeit aus: die „schmale Zeichenreihe“ Dichtung, das sinnliche Vergnügen, die stille Besessenheit, der Überlebenswille im Vegetativen wie im mythisch herbei „Gezauberten“, simultan Gemachten.
Lehmann suchte den „Weg zum Konkreten, meiner Notdurft“, wie er notierte. Er drückt das zurückhaltend aus. Schwärmerei in der Natur gibt es nirgends, wohl aber jene augenblickliche Überwältigung, die den einzelnen, den Naturgänger anonymisiert, die ihn geradezu auflöst. „Die grüne Einsamkeit blieb mir treu. Denn immer, immer suchte ich nach ihr.“ Wilhelm Lehmann suchte methodisch. Er ließ sich nicht treiben. Er überließ sich der Einzelheit gewiß. Aber es blieb stets ein Rest von Ökonomie dabei, von kaum merklicher Beherrschung. Diese Beherrschtheit konnte bis zur Nüchternheit gehen, bis zur Trockenheit, an der das einzelne lyrische Bild gesundete.
Die unzähligen Einzelheiten wuchern doch niemals aus. Sie sind eingebunden in die Kühle und Klarheit Wilhelm Lehmannscher Diktion, in den ruhigen Reim, der nie zu melodisch, nie dekorativ wird. Auch die expressivere Sprache der Antwort des Schweigens und des Bandes Der Grüne Gott hat keinen Hang, sich inmitten von Vegetation aufzugeben, wohl aber so weit wie möglich in sie einzugehen, ohne sich in ihr zu verlieren. Lehmann nannte – beinahe pedantisch – die botanischen Einzelheiten bei ihren Namen. Dies bewahrte ihn, unter anderm, vor jeglichem Schwarmgeistertum, vor der grünen Trunkenheit des Naturgedichts, vor dem „süßen Taumel“ da und dort, in einzelnen Zeilen der Droste. – „Wie sind meine Finger so grün“: so hätte auch Wilhelm Lehmann sagen können. Aber – um im Bilde zu bleiben – er ließ durch diese Finger nichts schlüpfen, kein naturhaftes Ungefähr. Und die Landschafts-Staffage war ihm, dem Nüchternen, dem Listigen, dem sehr bewußt Notierenden, ohnehin verhaßt.
Er verachtete die Stimmung. Er genoß die Genauigkeit, auch die Genauigkeit seiner Kenntnisse, seiner Bildung, seiner Herkunft, seiner Vorbilder, von der Antike über Goethe bis zur Droste-Hülshoff und Oskar Loerke. Er setzte fort und fügte hinzu. Er gab dem Bisherigen eine Wendung ins Genauere. Er mogelte sich nicht mit Impressionen durch. Er dekorierte nicht, er bezog ein, noch Entlegenes, in seine entlegene schleswig-holsteinische Landschaft, in der er lebte.
Wilhelm Lehmann war auch als Lyriker ein Lehrer. Er lehrte das exakte Hinsehen und Hinhören, das Unterscheiden. So bändigte er auch „Gefühl“, das lediglich schöne Wahrnehmen und Übernehmen. Er erzog schließlich methodisch zur Strenge der Anschauung. Nur so konnte er den Mut zur sogenannten „Zeitlosigkeit“ im Gedicht aufbringen:

Es herrscht keine Zeit,
Jede Zeit ist nah.

Schon in einem frühen Roman Weingott sind Gedichte untergebracht. Und im „Lied des alternden Weingott“ liest man:

Bestehen ist nur ein Sehen,
Und ein Hören ist darin.

In der Natur suchte er die Sicherheit, die Bestätigung; nicht bei den Menschen, damals im Weingott und spät noch in den Gedichten der letzten Jahre:

Die Menschen sind fremd zueinander
Und deine haßt meine Glut,
Sie wanken unsicher zusammen,
Ich sehe wie es tut.

Dieses Hinsehen, Beobachten, Festhalten, Notieren ist charakteristisch. Lehmann blieb hier skeptisch, nicht vorsichtig. Er verstand es, die Zeile „Aus der Schwermut keimt die Welt“, in Gedichten mehr und mehr abzustreifen oder zurückzulassen, nicht lediglich zu verdrängen. Er wußte weiter Bescheid und sparte aus, wo er konnte: „die geschwätzigen Städte“, wie die Zeit überhaupt, die gleichwohl in seine Gedichte eingriff: Kriegszeit und erste Nachkriegszeit sind plötzlich anwesend in einzelnen Gedichten, in wenigen Wendungen, die genügend aussagen. Lehmann spiegelte weder eine heile Welt noch eine heile Natur vor. Er beobachtete die Veränderung von Landschaft, auch die Urbanisierung, die Zerstörung, ohne den Propheten zu spielen oder den Geheimniskrämer, den Besserwisser.
Gewiß versuchte er, sich vor der Zeit in verschiedene Zeiten zu retten, in ihren Mythen, in die zweite Zeit der Sagen und Märchen. Aber es blieb der Widerruf. Es blieb die kurze Dauer, die Dauer des einzelnen Gedichts, in dem er es unternahm, die Dauer des „Gesangs“, wie er es ausdrückte. Und von den Mythen wußte er: „Die lassen von Versen sich behüten“. Er suchte die „unberühmten Orte“ auf, um das „Geschwinde Jetzt, veränderliche Hier“ für kurze Weile anzuhalten. „Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte, / Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit.“ Das klingt wie Herausforderung. Hier versucht jemand, widersetzlich zu sein. Hier wird auch sicherlich die Grenze der Folgerichtigkeit erreicht. Aber Lehmann wagt es. Er weiß, daß auch dies zum „alten Wagnis des Gedichts“ (wie es Loerke nannte) gehören kann. – „Die Zeit steht still. Doch auch in Wilhelm Lehmanns Gedichten war sie in unablässiger stiller Veränderung, in Prüfung oder Bewährung, vorhanden. Sie versteinerte nicht, so verschwiegen sie war. Sie hatte diesen Mut zum Verschwiegenen, ohne sich zu mystifizieren. Sie eroberte im Einzelnen einen bestimmten natürlichen, naturhaften Zusammenhang, etwas das sich nicht unterbrechen ließ, das ihm jedenfalls oft ununterbrechbar schien wie die Kette seiner Gedichte, von Band zu Band, 1957 zusammengefaßt bereits als Meine Gedichtbücher. Der Band liest sich wie ein außerordentlich geräumiges, wie ein nicht endendes Gedicht.

Nahe Ferne, ferne Nähe. Im Entschweben
Rief ich euch in das Gedicht.

Das „Von nichts als vom Gedicht beschützt / Auf allen meinen Wegen“ hat diesen entschiedenen Mut des Aussprechens und Sich Begrenzens, der ihm eigen war. Was vor Jahrzehnten festgestellt wurde, entzieht sich heute nicht. Es fordert auf, es fordert heraus. Auch heute berufen sich die Lyriker auf Gedichte. Einiges ist geblieben, trotz aller Veränderung. In der Aufforderung und Herausforderung, in dieser Konsequenz bleiben die Gedichte Wilhelm Lehmanns unter uns anwesend, ja, aktuell. In ihrer Unbeirrbarkeit markieren sie immer noch die Möglichkeit des Gedichtemachens unmittelbar. Ich lese sie so und erinnere mich an die Zeit vor über dreißig Jahren:

Wir reichen einander Geisterhände
Und vollenden den Gang.

Karl Krolow, Nachwort

 

NATURDICHTER LEHMANN

Gründelnd immer im Grund der tiefsten Natur, daß wir wähnten
Alge geworden ihn schon, Ameise, Spinn’ oder Lurch, –
da erscheint er, und just zum Monatsersten, zu welchem
Zwecke denn? Freundlich quittiert, pünktlich er seine Pension.

Johannes Bobrowski

 

 

Zum 65. Geburtstag Herausgebers:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Herausgebers:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede.
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe.
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Gerd Mahr: Dichtung und Dasein
Die Tat, 29.4.1972

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Heinz Richter: Pansflöte und Abgesang
neue deutsche literatur, Heft 5, Mai 1982

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv +
Internet Archive + Kalliope

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