Michael Zeller: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Der Kamm“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Der Kamm“ aus Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Der Kamm

Sie blenden mich. Sie sind schön im Vorübergehn.
Ich bewundere Sie, im Schnee, an der Haltestelle,
wie Sie sich morgens geschmückt haben, militant
und mit letzter Kraft. Eine, die nicht hinkt,
die sich nicht bücken will nach dem Groschen
im Schnee, die ihre Gebrechen verbirgt, unheilbar,
wie ich. Und diesen Kamm, der in Ihrem Haar glänzt.
Flammendes Schildpatt. Allerdings, dem
fehlen auch ein paar Zähne. – Ach bewundern,
das kann ein jeder sagen. – Verzeihen Sie,
ich meine nur das, was niemand braucht,
was keinerlei Eindruck an Ihnen macht:
den Zehennagel, der langsam gedeiht, das Haar,
die feuchte, hinfällige Haut; kleine Ströme,
nervöse Absonderungen, vorübergehend
wie Ihre Seele, die nicht geschickt ist,
mürbe, von Tabletten zerfressen, erbsenklein,
verloren in Ihrem Brustkorb. Ja, natürlich,
wir müssen fort, haben keine Zeit. Ich weiß.
Was wollte ich sagen? Ja. Weinen Sie weiter.
Ihr Kamm! – Wie bitte? – Sie haben ihn
fallenlassen. Dort auf dem Pflaster liegt er,
wo vorhin der Schnee war, geheimnisvoll
und gewöhnlich. Bald wird er zertreten sein.
Das ist unvermeidlich. Das kann ein jeder sagen.
Ich mache keinerlei Eindruck. Ich sehe ihn
in der Sonne glänzen. Hören Sie nicht auf mich.
Meine Wörter bücken sich nicht. Sie sind
nicht dazu da, etwas aufzuheben. Sie sind da,
eine Weile lang. Es kann sie ein jeder sagen.

 

Unser alltäglicher Totentanz

Ein überkonzentriertes Schauen und ein zerstreutes Beiseite-Sprechen, das die Worte probt, und Notizen auf einen Zettel im Geh’n: der flanierende Poet, auf der Grenze zwischen Müßiggang und Arbeit.
An diesem Tag ist dem Blicke-Sammler der Zufall schon früh beigesprungen. Etwas leuchtet auf, morgens, an der Haltestelle, in einer Situation, die an sich mit stumpfer, unausgeschlafener Hektik geschlagen ist: „flammendes Schildpatt“ im Haar einer Wartenden. Das Schildpatt des Kamms sammelt die Sonne und überstrahlt das Schneeweiß des hellen Wintermorgens. Eine Erscheinung des Lichts, das Licht selbst: es „blendet“. Ein vollkommener Augenblick der Schönheit also?
Nein, der Schauende läßt sich nicht blenden. Er hebt nicht ab in schönheitsseliges Raunen und Reimen. Sein Blick bleibt nüchtern. Das Schöne, das er sieht, ist schön nur „im Vorübergehn“. Denn an dem „flammenden Schildpatt“ hängt eine Frau, die diesem kostbaren Material nicht gerecht wird. Ihre Haltung ist überanstrengt, der Kraftaufwand beim Schmücken erdrückt den Schmuck selbst. Die Schönheitsanfälligkeit des Betrachters wandelt sich in teilnehmende Reflexion über das unheilvolle Gebrechen, das die Frau zu verbergen hat wie der abseits stehende Voyeur, wie wir alle auch: das Gebrechen des Altwerdens, des Todes endlich:

wir müssen fort, haben keine Zeit.

Der zweite Blick ist hart, fast böse. Das Pathos der Distanz hält sich die Sentimentalität vom Leib. Die Frau mit ihrem Schmuck im Haar – sie weint und gibt sich damit die Blöße, ihre Seele „mürbe“, „erbsenklein“ und „verloren“ erscheinen zu lassen. Die Schönheit trog. Der zweite Blick entlarvt im Flammenglanz das Inbild menschlicher Hinfälligkeit und Schwäche. In diesem alltäglichen Totentanz, den die weinende Frau da vor fremden Augen stellvertretend für uns tanzt, verliert auch das Ding seinen Zauber. Dem Kamm fehlen ein paar Zähne, jetzt liegt er schon im Straßendreck, „geheimnisvoll und gewöhnlich. Bald wird er zertreten sein“.
Nichts Heilendes geht mehr von den Dingen aus wie noch bei Rilke. Ihre Pracht ist dahin. Das Schildpatt ist nur noch ein brüchiges Zitat. Schon in der Antike waren die Hornplatten der Schildkröte ein kostbarer Werkstoff für Luxusgegenstände; Möbel, vor allem Betten, wurden damit verziert. Im Barock legte man es in Kruzifixe, in Pokale, in Service ein. Heute ist es verdrängt durch synthetisch hergestelltes Plastik, das haltbarer ist, preiswerter und funktionaler. Die Restposten dieser ausgedienten Kostbarkeit werden auf Trödelmärkten vertrieben, in Second-hand-Shops, wo wir es einkaufen als Gag, fasziniert davon, daß es eine historische Aura umgibt, die Patina, die es im Gebrauch seiner ehemaligen Benutzer angesetzt hat, unserer anonymen Ahnen.
Mit diesem Schildpatt-Kamm im Haar inszenieren wir uns dann als aufgelesenen Stil-Bruch, der Punk-Ästhetik gar nicht so weit entfernt: Zum Batman-T-Shirt die Nadelstreifenhose, zum weißen Turnschuh die Wehrmachtsjacke aus dem Zweiten Weltkrieg oder – neuester Schrei des Pariser Opernpublikums – der Parka überm Seiden-Smoking. Das Authentische des Gegenstands ist heute endgültig aufgerieben als Witz. Es ist das Allerbeliebigste geworden. Kein Halt mehr für unsere „mürben“, „erbsenkleinen “ Seelen.
Und so der Dichter. Auch er stiftet keine Werte mehr. Seine Worte sind von „unvermeidlicher“ Wirkungslosigkeit. Sie versprechen nichts, von Hilfe schweigen sie. „Sie sind da, eine Weile lang.“ Warum dann die Mühen des Schreibens und des Lesens?
Enzensbergers Verse werfen ein Licht auf unsere Seelenlage, in der wir uns zu Beginn dieser achtziger Jahre befinden:

geheimnisvoll und gewöhnlich.

Sie sind jenseits der Scheingefechte zwischen „Engagement“ und „l’art pour l’art“ – ehrlich. Und weil sie auch noch schon sind, ohne zu beschönigen, sind sie haltbar: über unsere Zeit hinaus.

Michael Zelleraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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