Alexander von Bormann (Hrsg.): Die Erde will ein freies Geleit

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Alexander von Bormann (Hrsg.): Die Erde will ein freies Geleit

Bormann (Hrsg.)-Die Erde will ein freies Geleit

ABER HEUTE
auf Jean Sibelius

und hinter der weite wohnen die bäume und
hinter den bäumen der herbst und hinter diesem
die weite und wieder und wieder der herbst &
hinter dem herbst die träume & hinter den
träumen das schweigen – doch wer läuft durch das
schweigen. die hoffnung fällt von den blättern
in den blick mir: hoffnungslos stürzen die blätter
zu boden die grünen schatten segeln einsam
ziellos über die weite und wieder und wieder
der herbst und das blattlose schweigen und
die blattlose hoffnung hinter dem herbst

Frank-Wolf Matthies

 

 

 

Vom Realismus der Naturlyrik

Diese Anthologie deutscher Naturlyrik hat eine altertümliche Anordnung: Die Gedichte erscheinen in thematischen Gruppen statt – wie üblich geworden – chronologisch den Autoren zugeordnet. Es ist gewiß ein nicht unproblematischer Schritt, von der herkömmlichen zeitlichen Gliederung abzugehen. Wie die Naturauffassung, so wandelt sich auch die Naturlyrik sehr weitgehend mit den Epochen. Dieser Wandel, der in alle Schichten des Gedichts eingreift, wird erkennbar gehalten, indem alle Themengruppen jeweils ihre Texte in zeitlicher Folge enthalten (Ausnahmen ergeben sich, wo etwa auf direkte Bezüge aufmerksam gemacht werden soll). Nun ist aber ohne Zweifel im Begriff Natur ein Widerstand gegen die Verzeitlichungstendenz gelegen, die als ein konstitutives Merkmal der Moderne gilt (Blumenberg, Koselleck, Foucault u.a.). Die Frage der Wissenschaften ist, wie man mit dem wachsenden Erfahrungsdruck umgehen soll, wie die ständige quantitative Erweiterung unseres Wissens verarbeitet werden kann, und sie trifft analog auch für Anthologien zu: Das Auffädeln der Texte auf die chronologische Kette, die Technik der Verzeitlichung also, ist ebenso unbefriedigend, wie es eine konsequente Enthistorisierung wäre, eine „Ordnung nach dem Gehalt der Dichtungen“ (Echtermeyer-Wittsack 1936).
Nun wird heute die Durchsetzung antinaturaler ,moderner‘ Zeitvorstellungen sehr grundsätzlich problematisiert, und Enthistorisierung / Entmodernisierung / Renaturalisierung sind weitreichende Schlagworte in dieser programmatischen Diskussion. Sie nimmt Impulse aus den Alternativbewegungen, vor allem der Ökologiebewegung auf, die im wesentlichen in eine Kritik des ,gegenwärtig herrschenden Rationalitätstyps‘ münden und einen Protest gegen die – ,Kolonialisierung‘ und ,Verödung der Lebenswelt‘ (Habermas) zur Folgehaben.
Die Naturlyrik ist wieder aktuell. Und das ist keineswegs ein Grund zum Jubeln. Im wissenschaftlichen Jargon wird „die als soziokulturelle und soziopolitische Krise erfahrene ökologische Krise“ dafür verantwortlich gemacht (Mayer-Tasch). Im monatlichen Umweltmagazin natur von Horst Stern und in den Zeitungen reißen die Katastrophenmeldungen nicht ab: stündlich gehen (1982) in der Bundesrepublik mehr als 160 Tonnen Schwefeldioxyd ungefiltert in die Luft, was zum berüchtigten ,sauren Regen‘ beiträgt. Das Waldsterben ist allgemein, in Mitteleuropa sind 100% der Tannen erkrankt, 65% der Kiefern entnadelt, jede zweite Buche ist bedroht. In Kanada sind schon 48.000, in Skandinavien 20.000 Seen ,umgekippt‘, d.h. biologisch tot. Jede zweiteTierart ist vom Aussterben bedroht (Mai 1982). Jährlich werden 10 bis 20 Millionen Hektar Tropenwald in der Dritten Welt abgeholzt, ein Raubbau, der die Verwüstung der Erde bedeuten wird, wenn nichts geschieht. Gewiß beginnen nun Konferenzen und Aktionen, um diesen Bedrohungen aller menschlichen Zukunft Einhalt zu gebieten. Aber zunächst ist der Eindruck nicht abzuwehren, daß ein neuerwachtes Interesse für Naturlyrik auf eine Art Archäologie führt: Expedition, Spurensicherung, Zeichenentzifferung in einem fast verschollenen Land.
Fragwürdig und „unwiederholbar für die Gegenwart“ nennt Hiltrud Gnüg (1981) jenes schöne Naturgefühl, das sich in Goethes Mailied („Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“) so exemplarisch ausspricht. Dieses Leuchten ist nur noch gelegentlich und rudimentär erfahrbar, und es scheint mir wichtig, daß die Texte auch davon sprechen, selbst heute noch. Aber die Bedrohtheit von Natur und Mensch ist nun doch so allgemein hervorgetreten, daß vom „lebend Weben der Natur “ (Herder) kein Trost mehr ausgeht. Eher führt der Hinblick auf die Natur zum Rückblick auf den Menschen und seine Geschichte. Georg Lukács beschreibt das moderne sentimentalische Naturgefühl als „die Projektion des Erlebnisses, daß die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker“ – die Sehnsucht nach Geborgenheit in Natur verweist auf ein Leben in der -Entfremdung-. Schon in der Goethezeit wird das regressive Moment in der Natursehnsucht begriffen und benannt. Das Glücksversprechen der Natur (Goethe: „umfangend umfangen“) zeigt sich zunehmend als Projektion, die – etwa im Werther – gerade zum Zerfall jenes Ichs führt, das in der Erfüllung dieser Sehnsucht seine Selbstverwirklichung suchte (A. Huyssen).
Geradezu hymnisch heißt es im Hyperion Hölderlins:

Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Wooge des Kornfelds gleicht.

Doch nach kurzem Außersichsein erkennt Hyperion bereits:

die Natur verschließt die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr, und verstehe sie nicht.

Nun wäre es gewiß zu einfach, das Naturgedicht als „die Projektion je historischer Bedürfnisse, Eigenschaften, Haltungen, Sehnsüchte auf die Natur“ (Emmerich) zu erläutern. So etwas kam vor – Peter von Matt hat darauf anhand der Naturlyrik um 1830 aufmerksam gemacht –, aber daß die Lyrik, „mit dem Rücken zur tatsächlichen Natur, eine rein imaginäre (Natur) erfindet und beschreibt“ (v. Matt), bleibt doch ein Sonderfall. Natur und Weiblichkeit haben dabei das gleiche Schicksal, sie werden „zur Projektionsfläche eines Traums: desTraums von der großen Versöhnung“ (Bovenschen). Dieser Ansatz bestimmt vor allem die naturmagische Tradition (Lehmann, Loerke, Kasack, Langgässer usw.), die in diesem Bande recht zurückhaltend vergegenwärtigt ist.
Daß die Naturlyrik sich einen so schlechten/schlichten Ruf eingeheimst hat, liegt an dieser naturmagischen Richtung, die im Versuch, eine heile Welt zu beschwören, geschichtsblind geworden ist. Wolfgang Buhl kritisiert (1953 bereits) die Naturlyrik (Krolows) in einer Parodie ,Rücklings im Gras‘:

Bündelt krummer Sauerdorn
die gestanzte Traube,
silbern klirrt der Rittersporn,
bohrt der Wurm im Staube.

Der parodistisch beschworene „ Wald- und Wiesenhorizont“ trifft weitgehend wörtlich zu, wie noch ein Blick auf die frühen Gedichte Günter Eichs zu bezeugen vermag; „gegen vier Uhr nachmittags“ fällt dem Dichter ins Auge:

Ein Schwarm von fliehenden Tauben
oder ein schwach geädertes Blatt,
in späteren Monaten auch die Trauben,
die man ausgekeltert hat.

Die Kritik an dieser Art Naturlyrik ist oft und gründlich genug vorgetragen worden (Benn, Rühmkorf; Knörrich, Riha, Mecklenburg u.a.) – zu Unrecht wird damit Naturlyrik als Gattung identifiziert. Ja, die Kritik selbst wird unscharf, wenn sie diesen Gedichttyp „als Strahl- und Glanzerscheinung, vor der die verheerte Welt ins Nichts zerrinnt“ (Riha), beschreibt: so illusionistisch es sein mag, die Heilkraft der Wälder zu beschwören (I. Bachmann), so ist diese poetische Zeichensetzung doch nie nur wörtlich gemeint. Und der „Traum vom Sinn der Erde“ (E. Langgässer) ist ein so ernstes Thema, daß die Kritik an spezifischen Sinngebungen doch deren sehnsuchtsvollen Ausgangspunkt noch mitbegreifen sollte. „Aber wir sind doch / Kinder der Erde“, heißt es bei Ernst Meister. Die Beschwörung des Ursprungs aber verbürgt gar nichts, schon gar nicht eine heile Welt:

entsetzlich
aufgespalten scheint
der Anfang der Anfänge selbst

Diese Erinnerung an die Schwierigkeiten in den mythischen Weltbildern selber zeigt, daß mit einer Mythisierung der Naturlyrik) nichts gewonnen ist. Doch vermögen die mythischen Bilder von der Göttin Natur die nun wiederkehrende Einsicht zu stützen, daß der Tendenz zur uneingeschränkten Naturbeherrschung ein katastrophales Ende beschieden sein wird; daß die Natur als Subjekt zu nehmen nicht kruder Nationalismus ist, sondern auf jenen qualitativen Naturbegriff zielt, der heute wiederum im Zentrum der Ökologie-Diskussion steht.
Die Frage ist, ob sich der Weg noch zurückgehen läßt: Friedrich Schiller preist die Herrlichkeit der Schöpfung und nimmt zugleich eine Wahrnehmungsform auf (die Entrückung), welche die Natur unangetastet läßt. Unser Zeitgenosse Christoph Meckel erfaßt die Natur als Beute, die aus allen Wäldern heimgebracht wird: doch die tote Natur spricht nicht mehr, gibt kein Zeichen, ist wirklich tot. („Einsteigender Morgen, vereinzelt“, bleibt in einem anderen Gedicht Meckels als „Gegenlicht“ übrig.) „Natur ist wirklich ein Stück Natur“, konstatiert Bernd Jentzsch (1978), und der Anthropomorphisierung, der besinnungslosen, poetischen Naturbeherrschung (Natur wird Metapher), scheint damit ein Ende gesetzt. Die Vermenschlichung der Natur gehörte zur klassischen Kunstübung: „Jeder spricht sich nur selbst aus, indem er von Natur spricht“, schreibt Goethe 1819. Doch ließ sich zeigen, daß gerade Goethe „diese totale Einverleibung der Natur von seiten der genialen Subjektivität als die schwerste Krise der humanistischen Tradition“ erfuhr (Baioni). Und die Romantik wird vollends mit diesem Ansatz brechen.
Die Rache der Natur ist eine Vorstellung, die schon zu Zeiten der Klassik und Romantik voll ausgebildet war. Wer sich gegen die (Göttin) Natur vergeht, verliert Heimat wie Zukunft (Eichendorff: „Kommst nimmermehr aus diesem Wald“). Noch Karl Krolows Gedicht „Der Blätter-Schütze“ handelt von der Verletzung des Himmels:

Es werden Wolken kommen
Und nach dem Schützen suchen.
(…)
Er wird nicht davonlaufen können.

Das ist ein etwas künstliches manieriertes Bild, mit Anleihen beim mythischen Denken. Es bleibt ganz nüchtern festzuhalten, daß die Natur sich selbst nicht helfen kann – ihre Widerstände wollen als Zeichen wahrgenommen werden, sind nicht als ausreichende Gegenkraft (miß)zuverstehen. Wenn Edgar Marsch im Anschluß an Wilhelm Lehmann vom „Eifer des Seins“ spricht, reproduziert er naturmagische Illusionen, weiter nichts:

Der Naturlyriker wird also im Akt der Herstellung von der „geschöpflichen Macht des Daseienden“ überfallen. Er gibt sein eigenes Bewußtsein auf und geht mit seiner Identität in die Natur über. So vermag er die „Schriften des bloßen Daseins“ zu lesen und ins Gedicht zu übertragen, da er selbst Teil dieser Natur wird. (S. 301)

Das ist poetisches Geraune, nicht aber eine Beschreibung von Naturlyrik. Und die Naturlyrik der 50er Jahre kam dieser Programmatik wegen in Verruf, nicht, weil man nichts mehr von der realen Natur wissen wollte, wie Hans-Jürgen Heise böse unterstellt:

Die deutschen Lyriker entschlossen sich genau in dem Augenblick, die Natur aus ihren Gedichten zu verbannen, als die reale Natur knapp wurde – Ergebnis rigoroser Flächennutzungspläne und menschenfeindlicher Raumordnungsideen. (S. 77)

Das ist zynischer als nötig formuliert: die Naturlyrik der westdeutschen Stabilisierungsphase, der sogenannten Restaurationszeit, hat alle jene (gesellschaftlichen) Momente der Gattung amputiert, die sie in der Romantik (und danach) zu einer fast-politischen Lyrik gemacht hatten. Das im Grunde läppische Bild vom Blätter-Schützen mag dafür stehen.
Der Gedanke einer ,Resurrektion der gefallenen Natur‘, welcher seit der Romantik die Kritik an einem losgelassenen Fortschrittsdenken und am zweckrationalen, technischen Handlungstypus begleitet, war stets auch gesellschaftlich gemeint. Im Anschluß an Herbert Marcuse (und einen Hinweis in den „Pariser Manuskripten“ von Karl Marx) hebt Jürgen Habermas diesen Gedanken hervor:

Statt Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung zu behandeln, können wir ihr als Gegenspieler einer möglichen Interaktion begegnen. Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen. Auf der Ebene einer noch unvollständigen Intersubjektivität können wir Tieren und Pflanzen, selbst den Steinen, Subjektivität zumuten und mit Natur kommunizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten. Und eine eigentümliche Anziehungskraft, um das mindeste zu sagen, hat jene Idee behalten, daß eine noch gefesselte Subjektivität der Natur nicht wird entbunden werden können, bevor nicht die Kommunikation der Menschen untereinander von Herrschaft frei ist. Erst wenn die Menschen zwanglos kommunizierten und jeder sich im anderen erkennen könnte, könnte womöglich die Menschengattung Natur als ein anderes Subjekt – nicht, wie der Idealismus wollte, sie als ihr Anderes, sondern sich als das Andere dieses Subjektes – erkennen.

In entsprechender Deutlichkeit faßt die Romantik die Aufgabe der Naturpoesie auf: Philister und feilschende Krämer „verstauben das Grün“ – in Eichendorffs Gedicht „Der Wegelagerer“; dagegen wird die Waldeskühle gesetzt und das Zauberlied der freien Poesie, die nicht „als niedre Magd zu Markte“ geführt werden darf. Die Auffassung der Natur und poetologisches Programm sind ineinander verschränkt, doch ist damit der Rede vom „eins werden“ (E. Marsch) zugleich widersprochen: wo der Unterschied von Natur und Mensch eingeebnet wird, verliert sich auch der Anspruch auf Humanität.
In dem Gedicht „Freies Geleit“ von Ingeborg Bachmann, das auf Franz von Assisi ebenso anspielt wie auf Eichendorff, werden „der alten Schönheit junge Gnaden“ berufen:

Die Erde will ein freies Geleit ins All
jeden Tag aus der Nacht haben.

Die Formel vom freien Geleit ist erschreckend genau eingesetzt: sie gilt für Gefangene, die etwas bedingen können. So hat die Gefangene ,Erde‘ wirklich das größte Faustpfand in der Hand, es heißt (etwas pathetisch gesprochen): Leben, Zukunft, Menschlichkeit.
Der Gedanke eines Natur-Widerstands, eines Einspruchs gegen die blinde Aneignung und Verfügung, nimmt in der Romantik die Form einer Rede vom Natursubjekt an. Hiltrud Gnüg weist es (im Anschluß an Bloch und Marcuse) der „geschichtlichen Auffassung der Natur“ zu, die Natur als Subjekt-Objekt zu begreifen: „als einen Kosmos von eigenen Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Zufällen“ (S. 281). Doch sie täuscht sich, wenn sie behauptet, „dieses neue Naturverständnis (…) ist in die gegenwärtige Naturlyrik kaum eingedrungen“. Vielmehr vermag diese Anthologie zu zeigen, daß diese Auffassung von Natur nicht neu, ja eine gattungsbestimmende Grundlage der Naturlyrik ist, auch der gegenwärtigen. Die Formel vom Geleit setzt ja voraus, daß ein Subjekt in den Zeugenstand tritt (und diesen auch wieder verlassen kann). Schelling benannte 1797 als eigentliche Leistung der neuen Naturphilosophie (an der auch Goethe bedeutsamen Anteil hatte), daß sich nun „nach der blinden und ideenlosen Art der Naturforschung- eine „höhere“ Erkenntnis der Natur durchsetze:

es bildet sich ein neues Organ der Anschauung und des Begreifens der Natur.

Daß die Romantik auf die Tradition des Volkslieds zurückgreift, um – wie es im Soziologendeutsch heißt – einen qualitativen Naturbegriff zur Geltung zu bringen, ist nicht ohne Risiko. In der Volksliedform werden Naturerfahrungen aufgehoben, die aus älteren Zeiten stammen – sie werden berufen, nicht übernommen, „als wollten sie was sagen“… In den geistlichen Liedern, in den Tages- und Jahreszeiten-Gedichten, in den Gesängen von Liebe, Tod und Vergänglichkeit erscheint die Natur fast durchgängig als eine Seinsordnung, in die der Mensch einbezogen ist. Es wird nun zu einem Qualitätsmerkmal der Texte, daß sie nicht den Mythos und Traum vom menschlichen Aufgenommensein in die Natur besinnungslos weiterträumen. Die Volkslieder können diese besonnene Haltung sozusagen vormachen: die Natur wird darin als Gegenüber wahrgenommen und gewußt. Und die Dichter, welche diesen Ansatz ernst nehmen, haben auch die schönsten Beiträge zur Naturlyrik hervorgebracht. Der „Herbsthauch“, die „Welle“, die „Substanzen“, die „Kirschen“ und „Rosen“, „Wald“ und „Bäume“, „Schatten“ und „Wüsten“, alle diese und die vielen weiteren Motive sprechen die Natur sowohl als maßgebliche Ordnung wie als Zeichen für menschliche (Selbst-)Verständigung an – Gebundenheit (an eine Naturordnung) und Freiheit (das menschliche Heraustreten aus dieser Ordnung) sind aufeinander bezogen, was sich auch als Grundform der naturlyrischen Bildsetzung zeigen läßt, die (metonymisch) Wirkliches und Zeichenhaftes meint.
Da es heute so ungeheuer auf ein reflektiertes und engagiertes Naturverständnis ankommt und da die entsprechenden Diskussionen nicht mehr abreißen, gerät auch die Naturlyrik (und eine Sammlung wie diese) in Zusammenhänge, die durchdrungen sein wollen. Die Zwischentitel, die ausnahmslos den jeweils folgenden Texten entstammen, bedeuten eine gewisse Lektüreanleitung, ohne daß sie das Verständnis gängeln wollen. Wenn sie mit Glanz (Hölderlin) und Leuchten (Goethe) anheben und mit Sand in den Rissen des Herzens (Böhmer) und dem Bild vom freien Geleit (Bachmann) enden, so zeichnet diese Anordnung einen Weg nach, auf dem sich Natur, menschliche Geschichte und die Selbstreflexion im Medium der Poesie stets mehr ineinander verschränkt haben. Daß es angeht, diesen Weg zurückzugehen, ist kaum anzunehmen, auch wenn eine geheime Sehnsucht daran festhält; die gegenwärtige Neuromantik spricht von nichts anderem:

Die Natur ist das einzige, was ich euch versprechen kann – das einzig stichhaltige Versprechen. (…) Sie ist das Vorbild und gibt das Maß. (…) Seht den Pulstanz der Sonne und traut euerm kochenden Herz. (Handke, Über die Dörfer)

Solche frohgemute Aufkündigung der geschichtlichen Verschränkungen wird keinem der Beteiligten gerecht: die Natur wird unhistorisch, nur als archaisches (Wunsch)Bild und Projektionsfläche genommen; und der Sprung aus der menschlichen Geschichte hinaus in den „Pulstanz der Sonne“ kann auch nur in eine höchst illusionäre Freiheit führen – so einfach läßt sich der Verantwortung für die Zerstörungen in uns, an uns, um uns nicht entkommen. Da dieser Sprung in einen unreflektierten Naturbegriff zur Zeit fast die gesamte tonangebende Literaturproduktion kennzeichnet, sei hier nachdrücklich betont, wie sehr das Naturkonzept jeweils mit den historisch-gesellschaftlichen Lebens-Bedingungen verschränkt ist; vielleicht vermag die Auffächerung des Naturbegriffs, wie sie hier thematisch und historisch versucht wird, solcher fahrlässigen Bequemlichkeit und fadenscheinigen Tröstlichkeit ein wenig zu steuern.
Seit Aristoteles wird der Gegensatz Natur – Mensch als ein Ergänzungsverhältnis, als Komplementarität verstanden; Natur und menschliche Praxis sind sowohl einander entgegengesetzt wie einander zugeordnet. Die Verläßlichkeit der Natur, ihre Selbständigkeit/Widerständigkeit, ist die Voraussetzung für menschliche Praxis und Selbsterfahrung. Natur (folgert Spaemann) kommt überhaupt erst zum Begriff im Hinausgehen über sie. Volker Braun kehrt diesen Gedanken um: im Umgang mit der Natur findet auch erst die Humanisierung des Menschen statt. Der ironische Ton – „als höhern Wesen naht sich uns die Natur so“ – hat schon recht: weder der Blick auf die Natur noch der Blick auf den Menschen gibt heute zu Erfolgsgefühlen Anlaß. Freiheit, erinnert uns Robert Spaemann, ist nicht ein ,Kern‘, „der zurückbleibt, wenn alle Natur unterjocht ist. Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichts auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des ,Seinlassens‘. In ihrer gegenseitigen Anerkennung und Freilassung allein überschreiten natürliche Wesen die Natur“.
Novalis etwa hat das gewußt, wenn er sich gegen Fichte wandte, dem auch Eichendorff die Überschätzung der subjektiven Eigenmacht vorhielt:

Es muß ein Nicht-Ich seyn, damit Ich sich, als Ich, setzen kann.

Dabei ist es nicht so wichtig, ob diese Kritik Fichtes Position wirklich trifft oder nicht; interessant ist der Grundgedanke, der in der romantischen Naturphilosophie weiterwirkt, daß die Natur mehr als eine Schmeichelei unserer Sinne oder eine Befriedigung zufälliger Interessen ist und als unabhängig von uns zu denken ist: „Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts anders als das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen“, sagt Schiller in seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Und am Anfang dieses Aufsatzes beschwört er jene „ Augenblicke in unserm Leben“, da wir die Natur lieben und achten, „bloß weil sie Natur ist“. Daß dieses Gefühl die Ausnahme ist, wußten schon die Romantiker. Wenn sie die Natur zunehmend mit dämonischen Zügen ausstatten, meint das, daß diese von der Natur-Geschichte des Menschen, die auf ihre rückhaltlose Aneignung und Unterwerfung zielt, berührt wird. Zugleich beginnt in dieser Zeit der Realismus der Naturlyrik, indem „die reale Beziehung von Mensch und Natur unmittelbar, nicht nur in metaphorischer Vermittlung, thematisch wird“ (N. Mecklenburg). Herders Erinnerung an das Volkslied, von Arnim, Brentano, Eichendorff, Uhland ebenso aufgenommen wie von Goethe, meint solchen ,sensualistischen‘ Ansatz. Das Röslein ist nicht nur Bild (Metapher), es ist auch die Erfahrung mit der stachelbewehrten Blume aufgerufen (Metonymie); das richtungslose Rauschen der Bäche bildet den Orientierungsverlust des Menschen nicht nur ab, er hat damit wirklich den Weg zur Quelle verloren; dasselbe gilt für die Tages- und Jahreszeiten: sie sind nie ,bloße‘ Bilder, sondern zeugen vom vielfältigen Zusammenhang des Menschen mit der Natur. Der Romantiker Ludwig Tieck stellt sich in einer Rezension die Frage:

Können wir denn die Natur wirklich so schildern, wie sie ist?

Seine Antwort:

Jedes Auge muß sie in einem gewissen Zusammenhange mit dem Herzen sehen, oder es sieht nichts. (…) Nicht die grünen Stauden und Gewächse entzücken uns, sondern die geheimen Ahndungen, die aus ihnen gleichsam heraufsteigen und uns begrüßen. Dann entdeckt der Mensch neue und wunderbare Beziehungen zwischen sich und der Natur…

So gilt als Voraussetzung der Naturerkenntnis, daß wir uns als Erkennende und an ihr Teilhabende mitdenken, was immer zugleich auch das Mitbedenken der Differenz meint: Vom Aufgeben des eigenen Bewußtseins, davon daß der Lyriker „mit seiner Identität in die Natur übergeht“, kann keine Rede sein. Das zeigt sich schon daran, wie selbstreflexiv diese Lyrik ist. Die Bäume vor allem stehen dafür als lyrische Sinnbilder; „so steht ihr da“, dichtet Brecht sie an, und Karl Krolow sieht sie mit Distanz:

Dann war da dieser Baum.

Die Reduktion, die z.B. das Gedicht von Margot Scharpenberg vornimmt („Baum, nur ein Stamm, eine Kunde“), setzt doch dieses Sich-gegenüber-Wissen voraus. Ebenso, wenn Paul Celan die duftlosen Schwarzerlen als lauter Einzelkinder wahrnimmt: Wirklichkeitserfahrungen werden verschränkt (nicht: identifiziert), wobei der Horizont der Deutung, der Hinsicht nicht naiv ,vergessen‘ wird.
Die literarische Moderne ist durch die nachhaltige Erfahrung geprägt, daß es nicht-poetisierbare Bereiche gibt. Die raffiniertesten Kunstanstrengungen helfen nicht an dieser Einsicht vorbei, mogeln höchstens gelegentlich über sie hinweg. Die Naturlyrik hat sehr vielfältig an diesen Selbsttäuschungs-Versuchen teilgenommen: etwa indem sie der Illusion nachgab, die Natur-Ordnung werde sich durch ihr ,Zauberwort‘ wiederherstellen lassen; oder indem sie sich auf kleine Ausschnitte beschränkte und das Glück im Grase besang; oder indem sie den Natur-Widerstand einfach leugnete und das Gefühl für maßgeblich erklärte. Wir sind heute an einer Naturlyrik interessiert, die sich (und uns) solche Ausweichmanöver erspart; und die uns an jener ernsten Einsicht teilzuhaben erlaubt, daß der Fortbestand der Natur und eine lebenswerte menschliche Zukunft unauflöslich miteinander verknüpft sind. Nach Adorno spricht das gelungene Gedicht „den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre“ (als in der unseren); es taste nach dem Laut, „in dem Leid und Traum sich vermählen“.
Diese qualitative Erfahrung, daß beide Dimensionen zusammentreten können, soll die leicht provokante These vom Realismus der Naturlyrik ansprechen. Hermlins schöne „Ballade von der Königin Bitterkeit“, mag als Beispiel dienen. Sie beschwört die „Stimmen der Bienen im Wald“ und die „Stimme der Heide im Sonnenglast“, die zugleich „der Poeten Brüderschaft“ verbürgen (das Gedicht nimmt Drostes „Im Grase“ auf). In acht großen Strophen wird die Bitterkeit (das Leid) beschworen, doch in einem sprachlichen und bildlichen Duktus, der das entschiedene Bekenntnis der Droste („Und für jedes Glück meinen Traum“) stets noch mitklingen läßt. Freilich bleibt die Versöhnung aus (die schon 140 Jahre früher nur „schüchtern“, „flüchtig“, „kärglich“ ins andeutende Bild treten konnte), der Wind und die Ebenen sind „fremd und kalt“ geworden. Viele der neueren Texte stützen diese Erfahrung, schon die Titel deuten das an: „das ende der eulen“, „Landwüst“, „Feldwege zementiert“. Entsprechend scheint das Naturgedicht zum „Wort in einer fremden Sprache“ (Borchers), zum „Lied jenseits der Menschen“ (Celan) de-naturiert zu sein. Doch das bleiben Reaktionen, Versuche und Versuchungen, sich der Kälte und Bitterkeit zu entziehen, die zurückgenommen werden: Leid und Traum bleiben verschwistert, wenn sich auch ein „Vielleicht“ stets unabweisbarer dazwischenschiebt. Hans Magnus Enzensberger:

manche wörter
lockern die erde
später vielleicht

Alexander v. Bormann, Nachwort

 

Die Bedrohung

und teilweise unwiderrufliche Zerstörung der Natur macht auch eine Gattung der Dichtung wieder aktuell, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten eher als unpolitisch, ja weltflüchtig galt: die Naturlyrik. Sie ist mehr als ein Hort von kostbaren Bildern: in den hier gesammelten Texten spricht sich eine Haltung aus, die von den „Grenzen der Menschheit“ (Goethe) weiß und Natur (wieder) als Subjekt zu würdigen bereit ist.
Das ist keine Rückkehr zum Mythos, keine modische Flucht vor den Verstrickungen, in die uns eine losgelassene Vernunft geführt hat. Daß wir „doch Kinder der Erde“ sind (Ernst Meister), läßt sich durchaus als ,vernünftige‘ Erinnerung begreifen, und daß die Natur mehr ist denn bloßes Objekt willkürlicher Herrschaft, Gegenstand der technischen Aneignung und wissenschaftlichen Vergegenständlichung, tritt in der Naturlyrik als so rudimentäre wie prinzipielle Erfahrung hervor.
Die Naturgedichte nehmen, im 17. Jahrhundert, ihren Ausgang vom Geborgensein im ewigen Kreislauf: die Tages- und Jahreszeiten etwa geben einem ,natürlichen‘ Bewußtsein eine Sinnordnung des Werdens und Vergehens vor, die dann zunehmend problematisiert wird. Die Gedichte von den Blumen, Bäumen, Vögeln und Landschaften geraten immer mehr zu Denkmälern einer Sprache, die es wiederzuentdecken gilt:
Der Schwalbenflug, der Kiefernwind, spinnwebüberzogene Gräser – diese Zeichen sind uns weitgehend verstummt. Und gewiß muß sich ganz vieles ändern, damit sie wieder zu Botschaften werden. Günter Eich spricht von „unverwelkten Bildern“; doch die Naturlyrik – das zeigen in dieser Sammlung die für sich historisch geordneten Textgruppen – ist dem Werden und Vergehen nicht enthoben. Wenn das Naturerleben marginal geworden ist, gewöhnlich auf Ferien und Ausflüge, allenfalls den Garten beschränkt, so spiegelt das tiefgreifende Veränderungen unserer Lebenswelt. Diese werden als Verlust, ja Verödung erfahren, solange der Gegenentwurf – Gesellschaft als menschlich versöhnte Natur – nicht eingelöst ist.
Von der Natur geht ein Anspruch aus, und ansprechend sind die Texte, die ihn zu fassen suchen. Die Naturlyrik gehört zu den schönsten Gattungen unserer reichen Dichtung. Der vorliegende Band trägt dem in der Auswahl und thematischen Gliederung Rechnung; geboten werden deutschsprachige Gedichte aus sechs Jahrhunderten, davon mehr als ein Viertel aus der Zeit nach 1945. Es zeigt sich, daß die Natur in ihrer ganzen Vielfalt und – wir müssen hinzusetzen – Gefährdung die ursprünglichen Hinweise auf unsere Herkunft und vielleicht auch das Ziel unserer Wege angeben kann, auf denen uns deutlich werden muß, daß das Versprechen ,Humanität‘ an das Versprechen einer freien Natur gebunden bleibt.

Insel Verlag, Klappentext, 1984

 

Rückkehr zur Formtradition

Die Verseuchung der Erde, die Zerstörung der Wälder und Flüsse und die täglichen Katastrophenmeldungen haben die Naturlyrik wieder aktuell werden lassen. Die Erde will ein freies Geleit (Ingeborg Bachmann) umfaßt Naturlyrik aus sechs Jahrhunderten.
Alles, was an Rang und Namen in der glorreichen alten schönen Zeit die Herrlichkeit der Schöpfung angehimmelt hat, ist hier versammelt und brav in thematische Gruppen geordnet (ohne Unkraut zwischen den prächtigen Blümli). So fallen die wenigen zeitgenössischen Lyriker nicht wesentlich ins Blickfeld.
Da schon seit Beginn der achtziger Jahre eine Rückkehr zur Formtradition gepredigt wird und es wichtiger zu sein scheint, dass ein Vers als alkäischer Elfsilber geschrieben ist, als der Inhalt des Verses, ist es natürlich kein Zufall, dass jetzt so eine voluminöse Anthologie am „Wald – und Wiesenhorizont“ erscheint. Nichts gegen Gryphius, Hölty, Goethe, Droste-Hülshoff, von Eichendorff usw., die noch unbeschwert „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur“ singen konnten. Wenn demnächst (wie es schon oft genug geschieht), trotz der ökologischen Krise, im Gedicht sentimentales Naturgefühl in lyrischen Stimmungsbildern zum Ausdruck kommt oder das Naturgedicht wieder zum „Lied jenseits der Menschen“ (Celan) emporstilisiert wird, Gedichte der naturmagischen Richtung der fünfziger Jahre verstärkt in Anthologien auftauchen, wird das keine Überraschung sein. Gedichte, die reflektierend in die giftige Natur eindringen, also aufzeigen, dass der Lauf der Dinge gleichsam zur Zentrifuge geworden ist und der Mensch mittendrin in dieser mörderischen Rotation steckt, sind äußerst selten. Autoren wie Brecht, Enzensberger, Volker Braun, Ingeborg Bachmann, Ursula Krechel, Beat Brechbühl und R.D. Brinkmann sollte sich der Leser mit ganzer Aufmerksamkeit zuwenden. Und wenn er von der heilen Welt träumen mag, in diesem wohlfeilen Inselbuch findet er dafür genügen Stoff.

Malcer, amazon.de, 1.8.2006

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
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