Attilio Bertolucci: In unsicherer Zeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Attilio Bertolucci: In unsicherer Zeit

Bertolucci-In unsicherer Zeit

SCHMETTERLINGE

Warum sind Schmetterlinge immer zu zweit
Und wenn einer verschwindet in einem Büschel
Von Septemberveilchen lässt der andere ihn nicht allein
Sondern bleibt flatternd darüber verwirrt dass es scheint
Er schlägt gegen die Wände eines Kerkers der aber nur
Das Gold des Tages ist der sich gerade verfinstert
Um fünf Uhr Nachmittag vor Anfang Oktober?

Vielleicht glaubtest du ihn verloren zu haben aber da ist er
Wieder schwebend in der Luft die unsinnige Bewegung
Wieder beginnend hin zu Orten die das Dunkel sich rascher aneignet
Von den abgeernteten und gepflügten Sonntags Feldern
Du musst ihm nur folgen der Nacht entgegen
Wie du auf ihn wartetest im unruhigen Licht der Sonne
Bis er satt vom Nektar jener Herbstblumen war

 

 

 

Attilio Bertolucci (1911–2000)

„Il traduttore è con evidenza l’unico autentico lettore di un testo. Certo più d’ogni critico, forse più dello stesso autore. Poiché d’un testo il critico è solamente il corteggiatore volante, l’autore il padre e marito, mentre il traduttore è l’amante.“ – „Der Übersetzer ist mit Sicherheit der einzige authentische Leser eines Texts. Gewiss authentischer als jeder Kritiker, vielleicht authentischer als der Autor selbst. Denn der Kritiker ist nur der flüchtige Verehrer eines Texts, der Autor der Vater und Ehemann, während der Übersetzer der Liebhaber ist“:
Eine liebenswürdige Definition des Übersetzers und derart auch eine amüsante Legitimation der seit jeher umstrittenen, aber unbestritten notwendigen Tätigkeit des Übersetzens, die der sizilianische Autor Gesualdo Bufalino in dem Aphorismenband Il malpensante (1987) gibt.
Besonders der Übersetzer von Lyrik ist mit einem speziellen Dilemma konfrontiert. Viel mehr als der Übersetzer von literarischer Prosa ist der Übersetzer von Lyrik gezwungen, Kompromisse einzugehen: entweder er wird durch eine wortwörtliche Übersetzung der Forderung nach einer getreulichen Wiedergabe des Inhalts gerecht, unter Hintansetzung der Berücksichtigung formaler Aspekte und sprachlicher Eigenheiten des originalen Texts, oder er versucht, durch parallele rhythmische Muster, Reimschemata und andere „Kunstgriffe“ der Forderung gerecht zu werden, eine dem Original ungefähr entsprechende oder auch neue Form zu finden, auch auf die Gefahr hin, die Wörter durch ähnliche oder andere ersetzen und so den Inhalt modifizieren zu müssen. Inhalt und Form des Originals gleichermaßen gerecht zu werden, das wird nie gelingen…
Ich bin kein professioneller Übersetzer. Ich übersetze, zumeist ohne Absicht und Aussicht auf Veröffentlichung, das, was mir beim Lesen gefällt, was mich zum Übersetzen, mit der Absicht es zu vermitteln, reizt, vor allem Texte, deren Eigenart und Machart, auf den ersten Blick, für mich fremd sind. Zumeist komme ich aber nach der intensiven Beschäftigung mit den Texten darauf, dass meine Vorstellung von Literatur der der von mir zum Übersetzen ausgewählten Autoren doch nahe oder zumindest ähnlich ist. Das war bisher der Fall mit den Texten von Hamburger, Giotti, Solmi. J.R. Wilcock, L. Piccolo, Fortini, Henri Cole, Enzo Lamartora – und das gilt auch für die Gedichte Attilio Bertoluccis.

Was mich als Autor mit dem großen italienischen Dichter, in aller gebotenen Bescheidenheit, verbindet, ist das, was ein Rezensent eines meiner frühen Gedichtbände das Konzept der „radikalen Poesie der Privatheit“ nannte.
Bertolucci ist das rare Beispiel eines zeitgenössischen Autors, der seine ganze lange literarische Karriere hindurch – allen gerade gängigen literarischen Moden zuwider – die Familie, die eigene Person, seine Frau, seine Kinder, die Landschaft seiner Herkunft, seinen Alltag, seine jeweilige körperliche und geistige Verfassung konsequent und mit bewundernswert kunstfertiger Naivität zum Gegenstand seines Werks gemacht hat.
Attilio Bertolucci wurde am 18. November 1911 in der Nähe von San Lazzaro bei Parma geboren. Er entstammte einer Familie bäuerlicher Grundbesitzer. Er studierte Kunstgeschichte in Parma und Bologna, unter anderem bei Roberto Longhi. Von 1930 bis 1950 unterrichtete er in Parma. 1951 übersiedelte er nach Rom, hatte aber weiterhin Wohnsitze in der Nähe von Parma und in Casarola in den Bergen in einem von seinen aus der Toskana in die Emilia Romagna eingewanderten Vorfahren ererbten Steinhaus. Er veröffentlichte mehr als ein halbes Dutzend Gedichtbände, die mit den wichtigsten italienischen Preisen ausgezeichnet wurden, wie dem Premio Viareggio di Poesia 1989, dem Premio Librex-Montale (1991), dem Premio Antonio Feltrinelli (1992). Seine gesammelten Gedichte samt einer Auswahl seiner Übersetzungen aus dem Englischen erschienen in dem Band der Elefanti – Reihe des Verlags Garzanti 1990. Ein Band mit Essays, Aritmie, erschien 1991. 1988 erschien sein in 46 Kapitel gegliederter „Romanzo Famigliare (al modo antico)“ mit dem Titel La camera da letto. (Das Schlafzimmer), die Geschichte seiner Familie, seiner Kindheit, seiner Liebe zu Ninetta Giovanardi, der Mutter seiner Söhne Bernardo und Giuseppe, der Filmregisseure, deren Bekanntheit die ihres Vaters seit jeher weit übertrifft Bertolucci starb im Jahr 2000 in Rom.

Auf Attilio Bertolucci wurde ich schon sehr früh während meines langjährigen Aufenthalts in Italien aufmerksam. Er war ein Autor, der in den Tageszeitungen, Literaturzeitschriften und im Radio auffallend oft präsent war. Einflussreiche Kritiker und Rezensenten, aber auch namhafte Dichterkollegen schrieben über ihn. Seine Dichtung genoss – so hatte es für mich eine Zeitlang den Anschein – in Italien den Status einer „poesia di prima grandezza“. Derart publizistisch hochgeschätzt, war sie aber, wie ich bald herausfand, dennoch umstritten.
Bertolucci hatte, im Gegensatz zu vielen namhaften Dichtern seiner Generation, auf die thematischen und formalen Neuerungen in der Lyrik seiner Zeit eigensinnig nicht reagiert. In der Periode, in der die italienische Dichtung vom „ermetismo“ dominiert wurde, und später, auch nach dem 2. Weltkrieg, von großen Namen wie Montale, Ungaretti, Quasimodo, wurde der Verfasser von erfolgreichen und prämierten Gedichtsammlungen wie Sirio (1929), Fuochi di novembre (1934), La capanna indiana (1951), Viaggio d’inverno (1971) etc. von der Literaturkritik als ein „Montale minore“ betrachtet. Ausschlaggebend dafür waren anscheinend die Anspruchslosigkeit seiner Themen, sein Hang zu einer von Nostalgie bestimmten Innerlichkeit, in enger Verbindung mit der eigenen Biografie und den liebevoll heraufbeschworenen Landschaften seiner apenninischen Herkunft. Einer seiner Kritiker hatte dafür sogar die Formulierung „bäuerlicher Proustianismus“ gefunden.
Bertoluccis Verskunst ist – das gilt nicht nur für seine Anfänge, sondern auch für weite Teile seines späteren Werks – durchgehend von einem „lyrischen Impressionismus“ geprägt, der Fragmente seiner Umwelt, seiner Seelenzustände fixiert: eine Poesie des Unspektakulären, durchdrungen von Assoziationen, Augenblicksempfindungen, von Erleben, Leben und Erinnern… In einem Gedicht, das mit „Rom 1952“ datiert ist, bekennt er:

Forse a noi ultimi figli dell’età
impressionista non è dato altro
che copiare dal vero, mentre sgoccia
la neve su di passeri aggruppati.

Vielleicht ist uns letzten Kindern des Zeitalters
des Impressionismus nichts anderes gegeben
als das Wirkliche nachzuahmen, während Schnee
auf eine Schar Sperlinge heruntertropft.

Bertoluccis Vision vom lyrischen Text als impressionistisches „poema o romanzo autobiografico“ findet in seinem letzten Werk, seinem umfangreichsten und ambitioniertesten, dem von der Lektüre Prousts inspirierten, formal an den Versepen Puschkins orientierten, episch-lyrischen „romanzo famigliare“ La camera da letto seine gelungenste und interessanteste Verwirklichung.

Nach einer Lesung in Pavia im Rahmen einer meiner Lesereisen anfangs der 90er-Jahre regte mich der in Italien hochgeachtete Germanist Giorgio Cusatelli an, den Versuch einer Übersetzung der Gedichte seines „Freundes Bertolucci“ zu unternehmen. Seit damals beschäftige ich mich lesend und übersetzend mit dem Werk dieses Autors. Schon am 7.11.1992 war im LITERARICUM von DIE PRESSE meine Übersetzung des Gedichts „Allein“ abgedruckt, in einer allerdings fehlerhaften, ungelenken Version. Es handelte sich damals um eine der ersten veröffentlichten Übersetzungen eines Gedichts Bertoluccis ins Deutsche.

Als ich vor einiger Zeit versuchte, einen großen deutschen Verlag für das Projekt einer Publikation dieser Übersetzungen zu interessieren, ließ mich der Leiter des Verlags in einem Brief wissen:

… das ist ein sehr schönes Projekt, aber leider nichts für uns. Wir müssen uns mehr auf die Gegenwart konzentrieren, denn es ist leider eine Tatsache, das die großen toten Dichter bei uns kaum Interesse hervorrufen.

Hans Raimund, Hochstrass 2012/2022, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Archiv
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Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

„Gedichte überleben alles“: Attilio Bertolucci spricht mit Paola Severini Melograni und liest aus Le Poesie.

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