Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Fischer-Peter Rühmkorf in Altona

DIE BLÄTTER FALLEN

Neues veröffentlicht hatte er lange nicht, obwohl er doch täglich am Schreibtisch saß. Immer wieder wühlte er seine Papiere durch, die Unmengen vollgekrakelter Zettel. Fast wie im Etruskerland war das: Archäologie des eigenen Ich? Auch die ausgebaute Tenne und das Obergeschoss in Roseburg waren längst verstopft von Zeitungen, Büchern, Erinnerungen. Ein Weltmitschreiber hatte er sein wollen, statt dessen geriet ihm fast alles zur Selbstironie. 2004 brachte Rowohlt ein weiteres Tagebuch heraus. Tabu II behandelte die Zeit von 1971 bis 1972. Es hatte auch einen letzten Auftritt mit Lyrik und Jazz gegeben, und zum 75. Geburtstag war bei Steidl ein großer Bild-Textband herausgekommen: Wenn ich mal richtig ICH sag… Aber im Grunde war er nicht zufrieden. Ein gelumbecktes Lebenswerk hatte er im Tabu I gespottet. Oft zeigte er nun heftige Gefühlsschwankungen, war heute liebenswürdig und morgen einfach nicht auszuhalten – ein Energie-und Gefühlsvampir?
Helmut Schenkel musste immer neue Dokumente heraussuchen, die er dann doch nur verbummelte. Und seine Frau Eva und die Schwägerin Rosemarie Titze hörten ihn laufend von einem Buch sprechen, einer Novelle, die er aus all dem vom Lektor gestrichenen Material aus Tabu II komponieren wollte. Immerhin hielten die Freunde noch zu ihm: Günter Grass hatte ihn zu einer gemeinsamen Lesung mit Enzensberger eingeladen. Pech, dass er ausgerechnet wenige Tage davor, nach einer Geburtstagsfeier für Harry Rowohlt, sturzbetrunken den Schulberg nach Övelgönne hinunterstolperte und sich an einem Eisenpoller sein Gebiß und eine Gesichtshälfte demolierte. Unerbittlich bedrängte er den Arzt, ihn bis zu dem Auftritt wieder herzustellen – und es gelang! Auf der Bühne agierte er routiniert und mit altem Charisma, als wäre nichts gewesen. Seit einiger Zeit allerdings beunruhigten ihn Beschwerden, die sich nicht so leicht beheben ließen. Und nach neuen Untersuchungen verdichtete sich der Verdacht: Er hatte Blasenkrebs! Eine Operation stand bevor. Und danach? Er würde wohl nur noch reduziert am Leben teilnehmen können. Er hatte doch noch so viel vor! Selbst nach dem ersten Eingriff im Herbst 2006 besserte sich sein Leiden kaum. Die letzte Zeit seines Lebens blieb er in Roseburg. Angesichts des nahen Todes war er ohne Larmoyanz, sondern nahm alle seine Kräfte zusammen. Intensiv arbeitete er an neuen Texten und war milder, ruhiger als je zuvor. Wenn ihn Freunde besuchten, lag er – abgemagert, aber korrekt gekleidet – auf seinem Bett und scherzte mit ihnen wie in alten Zeiten. Lange saßen sie an seinem Lager. Er wollte alle noch mal sehen: Michael Naura, Jürgen Manthey, Günter Grass – die treuen Weggefährten. Mit Manthey führte er lange Gespräche über Lyrik, über Literatur.
Besonders mit Eva gab es harmonische Stunden. Man las sich Gedichte vor (früher hatte er ihr selten etwas vorgelesen), hörte alte Lieblingsplatten, scherzte und lachte – es war die alte Nähe, die nie aufgehört hatte zu bestehen. Nach einer 2. Operation im Mai 2007 erlebte Lyngi in Roseburg noch beglückt das Erscheinen seines neuen Gedichtbandes, den er auf Anraten von Eva Paradiesvogelschiß genannt hatte. Tatsächlich enthielt er ja vorwiegend kurze Verskeime, hervorgesprossen aus dem Humus seines Blätterwaldes und gedüngt vom bunten Vogel der Phantasie. Er erlebte sogar noch den Riesenerfolg: Binnen kurzem waren 18.000 Bücher verkauft! Wenige Wochen vor seinem Tod sprach er mit schwächelnder Stimme die Verse für eine CD ein und registrierte erfreut die Verleihung des Literaturpreises für grotesken Humor der Stadt Kassel an den roten Romantiker.
Am 8. Juni 2008 starb Peter Rühmkorf. Bemühungen seiner Frau, ihn nahe dem Klopstockgrab in Ottensen zu begraben, scheiterten. So liegt er nun auf dem großen Friedhof von Altona. Den Platz dort hatte er sich noch selbst ausgesucht. Seine Grabstele schmückt eine Terrakottafigur der Bildhauerin Doris Waschk-Balz, eine Reminiszenz an seine etruskische Sammelwut. Aber den größten Wunsch hat er schriftlich überliefert:

Wünsch mir im Himmel einen Platz
(auch wenn die Balken brächen)
bei Bellman, Benn und Ringelnatz
und wünschte, daß sie einen Satz
in einem Atem sprächen:
nimm Platz!

 

 

 

Seit 1967

wohnte der Dichter Peter Rühmkorf (1929–2008) mit seiner Frau Eva in Altona. In seiner mit Büchern, Manuskripten und Fundstücken vollgestopften Dachstube destillierte er aus Zettelkonvoluten seine Verse, in denen er Liebe und Schmerz, die Widersprüche des Lebens und die Kämpfe des Individuums zu schillernden Wortkristallen verdichtete. Gemeinsam mit den Jazzmusikern Michael Naura und Wolfgang Schlüter tourte er lange durch Deutschland, um mit seiner faszinierenden Vortragskunst die alte Frage nach dem Menschen zu stellen. Der Dichter starb 2008. Seine Dachstube in Övelgönne ist nun verwaist; doch nicht nur in Altona bleibt die Erinnerung an den großen Poeten.

Edition A · B · Fischer, Klappentext, 2012

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag von Peter Rühmkorf:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag von Peter Rühmkorf:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag von Peter Rühmkorf:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag von Peter Rühmkorf:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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