Peter Rühmkorf: Wo ich gelernt habe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Wo ich gelernt habe

Rühmkorf-Wo ich gelernt habe

MEINE SEHR GEEHRTEN DAMEN UND HERREN LEHRENDE UND LERNENDE,

der Titel unserer heutigen Veranstaltung hat mich nicht nur von ungefähr angeflogen. Wie Sie meinem Geburtsjahr 1929 entnehmen können, steht mir in absehbarer Zeit mein 70. ins Haus, und da ich mir zu meinem 50. ein Gedichtbuch mit der Prognose Haltbar bis Ende 1999 spendiert hatte, legen sich solche Fragen fast schon von selber nahe. Hinzu kommt, daß der Rowohlt Verlag es für angemessen befunden hat, die sich drohend andeutende Null mit den ersten beiden Bänden einer kommentierten Werkausgabe zu verfüllen, und hier wurde die Fragestellung noch einmal auf besondere Weise kritisch.
„Bei Durchsicht meiner Bücher“ (um gleich paradigmatisch mit dem Zitat eines meiner Lehrmeister aufzumachen), wurde mir nämlich unversehens bewußt und setzte übergreifend dann auch den Herausgebern Wolfgang Rasch und Bernd Rauschenbach zu, daß eine beachtliche bis beängstigende Fülle von literarischen Zitaten oder halbheimlichen Konnotationen heute keineswegs mehr als geistiges Allgemeingut vorausgesetzt werden kann, ja daß manchmal schon die schlichtesten umgangssprachlichen Wendungen der Erläuterung bedürfen. Die Zeiten ändern sich und der Umgang nimmt neue Formen an, wobei die Halbwertzeit von eben noch gängig gewesenen Redeweisen sich zunehmend zu verkürzen beginnt.
Ich möchte nur einige mir signifikant erscheinende Beispiele herausgreifen. Da ich mein gesamtes literarisches Leben lang immer gern auch Bezug auf die Sphäre des Marktes und der Werbung Bezug genommen habe (also im Großen und Ganzen das, was unsere Konsumentenwelt im Inneren zusammenhält), schienen mir auch solche mittlerweile ein bißchen entrückten Markennamen/Firmensymbole wie der „Briskmann“, die „Libby-Kuh“, der „Dural-Patenttopf“ und die „Lupolen-Einwegflasche“ eines zeitanzeigenden Hinweises wert. Was uns freilich nicht der Verpflichtung entband, auch die zahlreichen literarischen oder mythologischen Anspielungen, egal, ob im Wortlaut zitiert oder als parodistische Transparentfolie unterlegt mit einem Quellenvermerk zu versehen. Wieviel trial and error, heißt mühselige Sucharbeit müßte ein Lit-Novize nicht allein darauf verwenden, eine Gedichtzeile wie „der lange süeze kumber mîn“ bei seinem Verfasser und Erfinder Reinmar von Hagenau aufzustöbern. Und wer würde gar von sich aus darauf kommen, daß eine Gedichtstelle wie die folgende

Bald,
wenn mit unaufhaltsamen Blättern
der Herbst abwinkt
und auch die Drosseln ihre Lieder einziehn,
heizt du die hohle Brust
– „Jetzt kohlen kaufen!“
mit Nietzschewörtern

nicht nur mit dem Werbeslogan einer Kohlenfirma operiert („Der nächste Winter kommt bestimmt. Jetzt Kohlen kaufen!“), sondern über die Bande auf Friedrich Nietzsches „Klage der Ariadne“ anspielt, aus der es beziehungsvoll genug heraus tönt: „Wer wärmt mich, wer liebt mich noch? / Gebt heiße Hände! / Gebt Herzens-Kohlenbecken!“. Womit wir uns allerdings in gewisse stratosphärische Höhen hinaufgeschraubt hätten, in denen vielleicht auch das neue Zauberwort „Intertextualität“ etwas zur Erhellung der verwobenen Bezüge beitragen könnte. Nichts gegen den in Mode gekommenen Begriff und – nehmen wir alles in allem – gegen einen Forschungszweig, der sich wirklich einmal am konkret vorhandenen Text entlangzubewegen sucht. Ich selbst habe mich mit solchen sphären- und epochenübergreifenden Vermischungsphänomenen schon seit Jahrzehnten beschäftigt und, da es das Wort noch nicht gab, gelegentlich von einem, „interstellaren Hallraum der Poesie“ gesprochen; Fremdwörter schänden ja nicht unbedingt, und wer bei jedem Latinismus / Graecismus gleich deutschnational zusammenzuckt, zeigt wenig mehr als Anzeichen von Xenophobie. Ich möchte nur eines gleich warnend hinzufügen. Daß nämlich nicht jedes aus der Gebrauchsnorm weichende Ufo gleich auf ein entlehntes Zitat schließen lassen muß und seelenverwandte Autoren schon mal zu vergleichbaren Formulierungen finden können.
Als ich noch jung war, 21 oder 22 vielleicht, hatte ich im Zusammenhang einer Novelle beispielsweise folgendes halb nach der Natur gemalte, halb der Einbildungskraft entsprungene Bild verwendet: „Über ihrem Kopf hing die silberne Sichel des Mondes wie ein verrutschter Heiligenschein.“ Um nur wenige Monate später in Ernst Barlachs „Seespeck“ zu lesen: „Hinter ihrem Kopf stand die goldene Scheibe des Mondes wie ein verrutschter Heiligenschein.“ Also doch vielleicht Vorsicht beim „Intertextualität“ genannten Ratespiel, es kann mal gutgehen, aber ebensogut auch zu Pseudologia phantastica verleiten.

(…)

 

 

 

Inhalt

Schon vor zwanzig Jahren verwies Peter Rühmkorf mit dem Gedichtband Haltbar bis 1999 auf seinen siebzigsten Geburtstag im Oktober diesen Jahres. Nun reflektiert er seine dichterische Herkunft und geht den lyrischen Einflüssen nach, mit denen er als Kind in Berührung kam. Er sieht die Wurzeln seiner Poesie in Abzählreimen, Nonsensversen und Werbesprüchen als „Bauklötze oder Backformen einer Vorschule der Ästhetik“. Später setzte er sich intensiv mit dem Expressionismus und dem modernen Schreiben in deutscher Sprache auseinander. Doch Rühmkorf war schon immer ein Spötter, denn bereits sein erstes „expressionistische“ Gedicht ist eine Parodie.
Rühmkorf erinnert sich auch an die heldenhaften Dichtungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, die eine so große Faszination auf ihn ausübten, daß er noch heute daraus rezitieren könnte. Der Dichter und Spötter führt in diesem Essay durch sein poetisches Leben und zeigt die vielfältigen Quellen, aus denen er sein dichterisches Material bezieht.

Wallstein Verlag, Ankündigung

 

Ohrwürmer im Sauerteig

– Launige Ahnengalerie: Peter Rühmkorfs Wo ich gelernt habe. –

Die Göttinger Sudelblätter, dem Andenken Lichtenbergs gewidmet, zählen nicht zu den Blättern, die rasch welken. Jetzt erfrischt Peter Rühmkorf den Leser mit einem Stück vergnüglicher Ahnenkunde, Wo ich gelernt habe. In seiner „Naturgeschichte des Reims“ (agar agar – zaurzaurim, 1981), die zu verschweigen er hier eigentlich gar keinen Anlass hatte, machte er Jagd auf den „Urreim“, vor allem im Revier der Kinder- und Abzählverse. Jetzt fragt er, wann wohl der „Urknall“ stattgefunden habe, bei dem ihm „Sprache zum erstenmal als Poesie aufging“. Wieder stößt er auf „bereits mit der Muttermilch“ eingeflößte „protozoische Abzählreime“, aber auch auf die Gelegenheitsgedichte, mit denen seine Mutter, Lehrerin in einem niedersächsischen Dorf, bei Feiern und Feten poetische Girlanden wand. Rühmkorf schämt sich nicht, durch „Ohrwürmer“ der literarischen Subkultur mit dem Reim, der Lyrik vertraut geworden zu sein.
Zu solchen Ohrwürmern wurden die in der „Dressierschule“ auswendig gelernten Gedichte der Klassiker nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Die Wirkungsgeschichte von Literatur macht merkwürdige Bocksprünge: nicht das Klassikerzitat selbst, sondern seine parodistische Form ist lebendig geblieben (im Buch Über das Volksvermögen hat Rühmkorf solche Persiflagen der Schüler gesammelt). Und nicht zufällig gefielen ihm die Scherzlieder im „Kommersbuch“, das er im Nachlass des Großvaters fand; es waren die „fahrenden Schüler“, deren Weisen ihn anlockten.
Die Parodie ist ein Sauerteig, der in vielen seiner Gedichte wirksam blieb und dem wir originell gebrochene Lesarten von Gedichten Walthers von der Vogelweide oder Barthold Hinrich Brockes’, Klopstocks oder Eichendorffs verdanken. Rühmkorf, die Reinkarnation des mittelalterlichen Vaganten, hielt sich aber vor allem an die Töne von Dichtern unseres Jahrhunderts, beging frech-freien Mundraub bei Expressionisten, bei Majakowskij und Kästner, Tucholsky und Ringelnatz. Und auch diese Autoren verblassen als Sterne minderer Ordnung vor Rühmkorfs beiden „konkurrierenden Leitgestirnen“: Benn und Brecht. Zwischen diesen beiden „Polen“ geriet er wirklich in ein „Hochspannungsfeld“.
Nicht so ganz neu ist für uns diese „Ahnenkunde“. Und doch lassen wir uns alles gern ein weiteres Mal erzählen. Denn unwiderstehlich ist die Mischung aus Selbstironie, Pointensicherheit und mit dem Publikum spielender Rede in diesem kleinen essayistischen Bildungsroman des Lyrikers Rühmkorf.

Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.12.1999

 

Sein papierenes Gespenst

– Lobrede auf Peter Rühmkorf. –

Auf der Mauer der White Hall von Kenilworth Castle blüht spärliches Habichtskraut. Der Efeu, der an den Außenwänden des Rittersaals hochkriecht, ist hellgrün und windet sich zu einem präraffaelitischen Tapetenmuster, das Taubengurren in den Gewölbehöhlen klingt wie Windesheulen, und eine Frau, die in den Schloßruinen spazierengeht, sagt zu ihrem Kind: „This is the Ghost of Kenilworth.“ Es ist der Nickel von Kenilworth, den auch Peter Rühmkorf kennen gelernt hat, als er vor achtzehn Jahren Poet in Residence an der Universität von Warwick gewesen und oftmals ins nachbarliche Kenilworth gepilgert ist –, der schreckliche Nickel, von dem Rühmkorf in seinem Märchen „Auf Wiedersehen in Kenilworth“ erzählt, nämlich ein wie ein gewendeter Handschuh von innen nach außen gekehrtes Gespenst: Hier werden aus Taubenrufen tobende Stürme, und aus Sturmgebraus wird Geisterfauchen. Erschrickt dabei noch jemand? „Wehe dem Oger, Widergänger, Werwolf, Grindel, Kobold oder Nöck“, ruft Rühmkorf aus, „der wochen-, jahre- oder gar jahrzehntelang aufs Bangernachen ausgeht, ohne daß sich bei seinem Publikum das sehnsüchtig erwartete Entsetzen einstellt!“
„In Marseille, wo mehr Gespenster auf der Straße herumlaufen als in sämtlichen Seancen der Welt, beschloß ich, das Ende des Kongresses abzuwarten“, erzählt Walter Hasenclever, dessen Preis der Stadt Aachen der Dichter Peter Rühmkorf heute empfängt, in einer Reisegeschichte,

als ich eines Nachts gegen zwei Uhr aus dem Inferno des Hafenviertels nach Hause strolchte, sah ich in der Rue Cannebriere einen Herrn vor mir, dessen Gesicht mir nach der Photographie bekannt schien. Erschrocken blieb ich stehen. Die Gestalt, eben noch deutlich sichtbar, löste sich vor meinen Augen auf. Es war der Astralkörper Conan Doyles. „Um Gottes Willen“, rief ich, „was machen Sie hier?“ „Was soll ich machen? Mein Körper hat mich aus dem unsichtbaren Sphären heraufbeschworen. Ich amüsiere mich, so gut ich kann. Ich habe eine Vorliebe für geistige Getränke. Ich treibe allerhand Unfug in menschlicher Gestalt. Erinnern Sie sich, neulich hat ein Mann nachts auf dem Boulevard Racine deklamiert. Das war ich. Es war ein großer Auflauf. Ich wollte den Leuten in Marseille zeigen, wie man in der Comedie Franyaise klassische Verse spricht. Ich wurde wegen Ruhestörung verhaftet, verwandelte mich in einen ägyptischen Prinzen, denselben, den jetzt die englische Geheimpolizei sucht.“

Das Schloßgespenst von Kenilworth, das sich in den Neumondnächten mit erbarmungswürdigem Kreidekreischen hören läßt, und das Stadtgespenst von Marseille, das sich sogar mitten auf der Straße als Komödiant zu erkennen gibt: Phantome, die vom Leuteerschrecken leben, vermummte, verlarvte, in bunten Kostümen getarnte Dichter, die immer schon Peter Rühmkorfs Neugier erregt, seine Schau- und Nacheiferungslust geweckt haben. In seinem Fischer-Lesebuch fehlt nicht einmal der feine, seriöse Wolfgang Koeppen mit einem Ausflug aus der Erzählung „Jugend“, worin es heißt:

Ich war auf dem Friedhof. Ich hatte Frieden. Ich suchte mir ein Grab. Ich sah die Kreuze, die Steine, ich las die Totensprüche. Es war die alte Stadt, die hier schlief. Ein ehrsamer Leinenweber. Er war mir ein milder Wirt. Ich breitete mein Plaid aus; ich warf die Bücher unter den Kopf. Ich war einig mit der Welt. Ich war zufrieden. In Abständen nahm ich, um mich zu wärmen, das Plaid, legte es mir auf die Schulter, rannte neben der Friedhofsmauer, zuweilen auf einem Hügel sie überragend, mit einem Blick auf die schlafende Stadt. Ich war bei ihren Ahnen; sie wußten es nicht in ihren Betten. Lachen schüttelte mich, eine herrliche Heiterkeit. Ich malte mir aus, daß einer mich sehen könnte, vermummt in Plaid, und daß er erzählen würde, da war ein Gespenst in der Nacht, es spuckt auf unserem Friedhof. Ich war sehr gern Gespenst.

Schloßgespenst, Stadtgespenst, Friedhofsgespenst: Wenn wir ganz nahe heran und diesen Gespenstern an die Wäsche gehen, spüren wir zwar keinen Fetzen Stoff in der Hand, doch das Wehen eigenartiger Lufterscheinungen; wenn wir die Ohren aufsperren und dem fürchterlichen Stöhnen lauschen, hören wir keine harmonisch klingende Musik, sondern ein raunendes Akrakadabra. Wir haben es nicht mit gewöhnlichen Gespenstern zu tun: Was uns hier in der Dichtkunst entgegentritt, sind keine in Nachthemden gehüllte Spukgestalten englischer Schlösser oder mit Ochsenziemern geprügelte Schreihälse wie der Hund von Baskerville: Es sind Trugbilder, Schimären, Luftwesen ganz anderer Art. Sie treten in vielerlei unstofflichen Formen auf, sind Eingebungen, Beredungen, Erleuchtungen, sind Verlockungen, Verführungen, Versuchungen geheimnisvollen Wörtern, ausgesprochen von Hexen und Feen, geschrieben auf Zauberpapier, das die Farbe wechselt von rot auf blau wie Lackmuspapier, wenn der Wortgaukler, alkalisch gedopt, mit Belladonna stimuliert, von schmorender Silbenglut erhitzt ist. In seiner Marbacher Rede „Durchgangsverkehr – Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß“ ist das Papiergespenst im Feuer aufgezehrt. Und in was für einem Feuer! Peter Rühmkorf beruft sich auf Jean Paul: „Mit bloßem natürlichen Feuer… sind gewisse Kalzinier-Effekte gar nicht zu machen: Glas will ein anderes Feuer als etwa Braten.“
Mit dem Jean-Paulschen Kalzinier-Effekt begeben wir uns mitten in Peter Rühmkorfs Schreib- und Studierstube, die in den fünfziger Jahren noch ein Laboratorium gewesen ist. Darin wurde etwas umgewandelt, das einen Augenblick zuvor noch eine ganz andere Konsistenz besaß. Es wandelte sich das Stoffliche ins Unstoffliche, das Materielle ins Vorgestellte. Rühmkorf verglich diese Umwandlungen damals mit physikalischen und chemischen Prozessen. In der Zeitschrift konkret, Heft 1 des Jahrgangs 1958 gebraucht er unter dem Pseudonym Leslie Meier in einer Folge „Benn-Epigonen“ von „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“ die Begriffe Gravitationsfeld, Strahlungsbereich, Katalysator: Dem aufgequollenen Sprachwanst wird das Wasser entzogen, der Wasserkopf aus Wörtern dehydriert, wie Arno Schmidt es formuliert. Dieses Jean-Paulsche Kalzinieren ist ein fortwährendes Umwandeln, ein Umsetzen, Umkrempeln, Ummünzen, ein Ummodeln, Umstürzen, Umwälzen der Wörter und ihrer Bedeutungen. Auch der Dichter selbst fühlt sich nicht wohl in seiner eigenen Haut. Im „Selbstporträt 1958“ zeigt das Tier seine Zähne: Der Dichter Rühmkorf hat sich in einen asthenischen Wolf verwandelt, dessen Gestalt im Kreise der Tierheit nicht leicht zu bestimmen ist:

Nicht, daß nicht innerlich alles beim Alten wäre,
ei! er kaut noch immer das überkommene Nichts, daran schon sein Vater mahlte,
und nichts Neueres als Nichts fiel ihm bei –
Hüte dich aber, deine rechte Hand ins Feuer zu legen für seine linke:

Jahre später ist aus dem klapprigen Wolf ein Zwitterwesen aus Vogel und Fledermaus geworden. Das Raubtier mit dem von außen nach innen verkrochenen Blutdurst hat sich zum mythischen Vampir gemausert, „ein wie ein gewendeter Handschuh von innen nach außen gekehrtes Gespenst“ aus Papier. Diese gespenstische Kreatur, zwiegesichtig, zwiespältig, doppelzüngig, ist die Poesie selbst, verkörpert im Leib des Dichters Rühmkorf, der sich eine Feder aus dem Flügel reißt und sich damit im Sonett porträtiert:

ZWIEGESICHTIGER VOGEL

Zwei Zeilen Zähne, eine Handvoll Worte,
du ziehst den Scheitel, ich bestelle mein Papier:
Die Lettern steigen von der Sommerborte
in den geweißten Himmel über mir.

Du fragst, wer mir den krummen Kurs beschriebe,
und was an Wollust zu erwarten sei – ? –
Ein zweigesichtiger Vogel, meine Liebe,
leiht mir den Flügel und den Bug von Blei.

Oh Freude, die du nennst…
Der Blick gerinnt, der Berg erstarrt im Sprunge,
ich raschle planlos mit der Lorbeerzunge

Und sattle mein papierenes Gespenst.
Zu Flug und Fall, zum Andiewolkenstreifen,
zum Tiefundschwerhinab – die Doppelschnäbel pfeifen.

Flügel aus Federn. Leib aus Blei, das Schweben und das Fallen, das Streifen an die Wolken und das Stürzen ins Bodenlose: Der Dichter Rühmkorf wendet sich vom Himmel in die tiefsten Klüfte, krempelt sich dabei selbst um und hebt sein zurechtgezimmertes Weltgerüst aus den Angeln. Das schlichte Umwandeln ist zum Umtaufen, zum Umwerten geworden: Der Dichter zieht dem schnöden Sein den schönen Schein vor, die poetische Lüge der kruden Wahrheit.

Reine Wahrheit, ewig und unsäglich, irrt im Kreise, weil sie
nie bewirkt. Komm, so links wie nötig und so hoch wie möglich,
Harmonie ist Kunst und
die schon halb  getürkt

dichtet Rühmkorf und zweifelt sogar an Platos und Nietzsches Umwertungsdenken, dem allerdings Preisstifter Hasenclever in seinem Drama Die Menschen noch radikal nachfolgt. Er wirft das Unumstößliche über den Haufen, schreibt das Festgelegte um – und stürzt ein scheinbar unwiderrufliches Moralgesetz. In Hasenclevers Theaterstück ist nicht der Täter der Schuldige, sondern das Opfer. Zeit ist heute, Schauplatz ist die Welt, Personen sind Gute und Böse, Mörder und Pfarrer, Ärzte und Wirte, sind Menschen, von denen einer sagt: Wir sind Menschen! Dieser Mensch, ein paradoxes, ein irrationales Wesen, ist Rühmkorfs Zeitgenosse. Doch das Eindeutige, auch das umgetaufte, umgewertete Eindeutige bleibt nicht sein Standpunkt, auf den er den Zeitgenossen stellt, unverrückbar, unveränderbar. Unter seiner Feder wird das Eindeutige doppeldeutig, doppelsinnig, doppelwertig. In seinem Buch Die Jahre, die Ihr kennt, benutzt er zwar den damals hoch im Kurs stehenden Begriff dialektisch und schreibt:

Einsicht nicht nur in dialektische Zusammenhänge von politischen Anlässen und kommentierenden Auslassungen, unanfechtbarer Stabilität des Systems und inneren Konvulsionen, sondern auch zwischen powren Druckmitteln und virtuellen Ausdrucksmitteln

– doch seine dialektische Methode ist nicht auf einer den Sachen innewohnenden Gegensätzlichkeit begründet, sondern auf Widersprüchlichkeiten innerhalb der Wortbedeutung, oft auf Anspielungen, aus denen sich philosophischer Sprachwitz ergibt. Sich gegenüber stehen nicht ausgemergelte Begriffe gleichwertiger Denkkategorie, es streiten im selben Satz soziologische gegen grammatische, physikalische gegen medizinische Begriffe, Anlässe gegen Auslassungen, Druckmittel gegen Ausdrucksmittel:

Zwar gaben wir uns nie der fadenscheinigen Hoffnung hin, mit Flugschriften Marke UNTERTAN und KNITTRIFIX (und das waren weiß Gott keine schlechten!) entscheidende Massen weltbewegend in Marsch zu setzten. Aber wir glauben doch wieder (und nicht unmarxistisch) an die Gewalt des antizipatorisch vorgreifenden Bewußtseins, an die Zersetzbarkeit der falschen Ideologien und ihrer Träger, kurz, an die Macht des Gesanges… Obwohl wir mächtig glaubten, uns in rabiat individuellen Gedichten der Gesellschaft verweigern zu können, gewannen wir über solchen Umweg doch gerade wieder Anschluß an eine Gesellschaft, die von ihren Dichtem gar nichts anderes erwartete, als daß sie sich in ichbezogenen Gedichten aufgehoben wähnten.

Woran soll ich besonders ausdrücklich erinnern? An die wunderbaren Gedichte in Irdisches Vergnügen in g mit ihrer lustvollen Kulinarik am Geschaffenen, an die herrlichen Parodien in Kunststücke mit ihren Reimschmeicheleien für die menschlichen Anklangs- und Genußnerven, an die frühen Jahre mit den späten Einsichten oder an die späten Enthüllungen der frühen Tabus? Ein Tagebuchroman sollte „Doppelkopf“ heißen, „Spaltexistenz“ war die Formel für Selbstbestimmung. Er verschüttet Wörter, die er eben geschöpft hat, er hängt am Herbst, den er haßt. Dieser scheinbaren Inkonsequenz wegen, seiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen und „Gesetzmäßigkeiten im Zauberbereich nachzuspüren“, erntet er Kritik von den Bejublern der Eindeutigkeit: Das Weder-Noch des Äquilibristen für gefährliche Balanceakte halten sie für suspekt.
Peter Rühmkorf spricht gern von seiner Hochseilakrobatik, er weiß aber auch: ein Tritt ins Leere, und alles ist verloren. Da steht er auf dem Seil, herausfordernd, beängstigend, gespenstisch wie Till Eulenspiegel, der den Dorfjungen die eingesammelten linken Schuhe vom Seil auf die Straße wirft und ihnen zuruft: „Da staunt ihr, was ich mit lauter linken Schuhen machen kann!“ Ein Till Eulenspiegel der ganz anderen Art, Günter Eich, erzählt von seinem Schuster, der auf einem Bein nach Saarbrücken reist. „Er braucht immer nur den rechten Schuh“, schreibt Eich, „der linke ist in Saarbrücken. Dort hat er jemanden, der nur linke Schuhe braucht.“
Peter Rühmkorf, als Erscheinungstyp zugleich das von ihm selbst entdeckte Kenilworthsche Gespenst wie auch gespenstische Akrobat auf dem Till Eulenspiegelschen Hochseil, ist der Phänotyp des Dichters überhaupt. Alle Gespenster dieser dritten Art sind die legitimen Geschwister des Dichters. Ihre Papiergespenster, in den Wolken verflüchtigt, in der Grube vermodert, im Feuer verbrannt, sind Gedichte geworden, tönende Gebilde, die ohne Geisterkapuzen auskommen, lauter von innen nach außen gewendete Handschuhe,umgestülpte Babystiefel, gewendete Strickstrümpfe wie die gespenstischen Fische in den großen Aquarien. Es gibt ein Gedicht von Raymond Queneau, das ich übersetzt und zur Feier des Tages für Peter Rühmkorf herausgesucht habe

DER FISCH AUS GROSSER TIEFE

Er kommt von fern, von unten her,
wer weiß, aus welchem tiefen Meer.
Diesseits des Wassers allerdings
wird er so wie ein Handschuh links.
Doch glaube nicht, daß du mich siehst,

wenn du mich mal nach außen ziehst.

Ludwig Harig, Laudatio auf Peter Rühmkorf zum Walter-Hasenclever-Preis, 1996, manuskripte, Heft 145, 1999

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

ITHAKA
nach Peter Rühmkorf

Das ist Ithaka – in Oevelgönne,
wo die Dampfer meerwärts flüchten.
Falls Ulyss dem Ragnarök entrönne,
würde er hier Asphodelen züchten.
Keine Angst vorm Jahre neunundneunzig
nähme ihm die Hoffnung, er gewönne
einst zurück den alten Freund sich;
schmauchte still sein Pfeifchen. denn er könne,
sagt er, ohne den Vulkan vorm Mund nicht leben.
Doch bevor die lange Nacht begönne,
soll Penelope den Schleier heben.

Manfred Bieler

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

Fakten und Vermutungen zum AutorKLGIMDb +
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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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