Christine Lavant: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christine Lavant: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben

Lavant-Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben

Wind weht vorbei, der Mond schaut fort,
die Sterne reden nicht ein Wort,
soviel ich sie auch frage.
Hochwürdig gehn die Tage
um mich herum als fremde Zeit,
der Abend bleibt voll Widerstreit
ein wenig vor dem Fenster.
Nicht einmal mehr Gespenster
besuchen mich um Mitternacht.
Soweit hast du es schon gebracht,
mein Herz, daß rund um mein Gemüt
nichts mehr als stumme Feindsal blüht
und Angst vor deinen Klagen.
Wohin soll ich dich tragen?
Wer nimmt mich auf mit solcher Last?
Ich bin ein unerwünschter Gast
sogar im Krötenteiche.
Nur dieses plumpe, bleiche
verregnete Madonnenbild
schaut uns noch an und bleibt gleich mild
und scheint es gut zu meinen.
Jetzt, Herz, sei endlich einmal still,
weil ich ein wenig beten will
und selbst ein wenig weinen.

 

 

 

Vorwort

1978 jährt sich der Todestag Christine Lavants zum fünften Mal. Vor sechs Jahren erschien die letzte von Lavant noch zur Veröffentlichung freigegebene Sammlung von Gedichten, eine Auswahl aus den drei lyrischen Hauptwerken Die Bettlerschale, Spindel im Mond und Der Pfauenschrei, herausgegeben und mit einem Nachwort über die Sprache der Dichterin versehen von Grete Lübbe-Grothues.
Die vorliegende Ausgabe enthält – als Ergänzung zu den bereits veröffentlichten Prosa- und Gedichttexten – eine Sammlung von in Zeitschriften oder Sammelbänden verstreut erschienenen Gedichten, eine Auswahl aus dem lyrischen Nachlaß der Autorin sowie zwei Prosastücke, von denen eines hier zum erstenmal veröffentlicht wird, und eine knappe, aber repräsentative Auswahl aus den Briefen. Absicht der Ausgabe ist, in Verbindung mit dem bisher Veröffentlichten, eine möglichst große Textgrundlage unter Berücksichtigung auch von Varianten als Voraussetzung für ein genaueres Verständnis in der breiten Öffentlichkeit und für intensivere wissenschaftliche Bemühung um das Werk bereitzustellen.
Die Dichtung Christine Lavants wurde vielfach eingeordnet: in die Naturlyrik, in die religiös-mystische, die Lyrik mit sozialen Aspekten, in die moderne Lyrik mit surrealem Charakter und nicht zuletzt wurde sie von der Kritik als Nachfolge Rilkes vereinnahmt. Allein aus der Zahl der Identifikationsmöglichkeiten ist das geistige Spektrum dieser Kunst ersichtlich.
Die Auswahl der Gedichte wurde so getroffen, daß sie die gesamte Schaffensperiode umfaßt. In der Erzählung „Die Verschüttete“, einem Frühwerk, zeigt sich die religiös-mystische Verquickung der jungen Dichterin mit der realen Welt, auf der Suche nach Selbstbestimmung nach dem Tod der Mutter. Der Essay „Die Stille als Eingang des Geistigen“, der hier wiederabgedruckt wird, weist auf einen geistigen Lebensweg ohne unmittelbare religiöse Bindung.
Nach dem Tod der Autorin ist auch die Herausgabe der Briefe möglich. Sie erscheinen uns als ein Schlüssel zum tieferen Verständnis der vielschichtigen, rätselhaften Lyrik. Den Besitzern dieser Briefe, Erentraud Müller, Gerhard Deesen, Helmut Scharf, Otto Scrinzi sowie Walter Methlagl (Brenner-Archiv in Innsbruck) für die Briefe an Ludwig von Ficker, sei für die freundliche Abdruckerlaubnis herzlich gedankt.
Zwar hat Christine Lavant bereits zu ihren Lebzeiten zahlreiche Anerkennungen und Preise erhalten, doch scheint damit ihre „Rezeption“ in der literarischen Öffentlichkeit – abgesehen von spärlichen Äußerungen aus literarischer und literaturwissenschaftlicher Seite – nicht direkt zusammenzuhängen. Diese Tatsache erklärt zum Teil die relative Überbelastung des vorliegenden Auswahlbandes mit dokumentarisch-kritischem Material, das die Wirkung der Autorin steigern, zugleich aber vorschnellen Festlegungen entgegenwirken soll. Zum anderen verlangen die nachgelassenen Texte über den aktuellen Rezeptionsstand der publizierten Arbeiten hinaus doch eine umsichtigere editorische Betreuung, zumal die Autorin den Nachlaß zwar sammelte und ordnete, aber keinesfalls für den Druck freigab. Inwiefern darin eine Selbstzensur vorliegt, mag jeder Leser für sich entscheiden; die offensichtliche literarische Qualität vieler Texte jedoch hat den Neffen der Dichterin, Armin Wigotschnig, bewogen, dem Druck zuzustimmen.

Zur Textgestaltung

Wortlaut und vor allem die Interpunktion der Texte wurden nach zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten festgelegt, je nachdem ob es sich um nachgelassene oder bereits veröffentlichte Schriften handelt.
Christine Lavant hat in einer Anmerkung auf dem Brief des Otto Müller Verlages vom 13.3.1962 den Verlag ermächtigt, „die Satzzeichen […] nach Bedarf ein[zu]setzen“. Aufgrund dieser Verfügung wurden die hier aufgenommenen Nachlaßstücke behutsam normalisiert; um den Sinn nicht festzulegen, unterbleibt die Zeichensetzung nach Sätzen oder Satzteilen, deren Zuordnung zweifelhaft ist, außerdem bei Gedichten, deren rhythmischem Verlauf die Interpunktion abträglich wäre.
Der Text aller dieser unveröffentlichten Werke folgt dem Typoskript oder Manuskript. Textvarianten – viele Gedichte haben Zweitfassungen, die jedoch selten stark differieren – und Korrekturen werden, wenn sie bedeutsam sind, in den Anmerkungen verzeichnet. Fehlende oder unvollständige Wörter der Vorlagen, in den Briefen auch Auslassungen der Herausgeber und unsichere Datierungen sind durch eckige Klammern hervorgehoben. Normalisiert wurde Lavants Schreibung von „ss“ für „ß“.
Im Gegensatz zu den nachgelassenen unterliegen die veröffentlichten Werke keinem redaktionellen Eingriff, weil sie noch zu Lebzeiten der Dichterin erschienen, mit Ausnahme der Gedichte in der Brücke, die deshalb in der manchmal abweichenden Nachlaßfassung aufgenommen worden sind. Abgesehen von Druckfehlerkorrekturen, die stillschweigend vorgenommen wurden und nur gerechtfertigt werden, wenn sie semantisch relevant sind, ist für diese Texte die jeweilige Fassung der Erstveröffentlichung als Druckvorlage maßgeblich; auch wenn dort die Zeichensetzung – wie beispielsweise in Gedichten aus dem Sammelband Wirf ab den Lehm weitgehend dem unvollständig interpunktierten Typoskript entspricht; ebenso für Gedichte aus Hälfte des Herzens, wo die Großschreibung des Pronomens „du“ konsequent durchgehalten wird, obwohl Christine Lavant nach Maßgabe des Nachlasses diese Anrede nur in seltenen Fällen und durchaus nicht einheitlich groß geschrieben hat, weil sie eindeutigen Bezug vermeiden wollte. Der Leser möge darum – gegen die Schreibkonvention – bei der Betrachtung dieser Gedichte wie auch anderer den menschlichen Gesprächspartner einbeziehen.
Wie heikel das Problem der Textnormalisierung in den Werken Christine Lavants tatsächlich ist und daß es im vorliegenden Buch eine Schwachstelle der Edition bildet, mag die folgende Aussage der Dichterin aufs nachdrücklichste bekunden: „Mein Hochdeutsch ist übersetzter Dialekt. Darf ihn nicht aufgeben, sonst geschieht mir ein Schaden, wirklich! Muß ihn immer behalten, auf den Verdacht hin, nicht Deutsch zu können – ganz falsch ist der Verdacht nicht – kann es nur gefühlsmäßig“ (Brief an Gerhard Deesen vom 27. März 1962).

Nachwort

– Zur Problematik des Dichtens in den späten lyrischen Texten Christine Lavants. Versuch einer Lektüre. –

Dieser Sammlung von verstreut publizierten Gedichten, ausgewählten Nachlaßgedichten, zwei Prosastücken, wovon eines hier zum erstenmal veröffentlicht wird, und einer Anzahl von ebenfalls – bis auf zwei Ausnahmen – noch nicht herausgegebenen Briefen der Dichterin muß in Anbetracht der seit dem Tod Christine Lavants vor fünf Jahren unverändert schwach gebliebenen Wirkung eine Art Nachwort als „Provokation der Literaturwissenschaft“, vor allem aber als gezielter Reflexionsanstoß beigefügt werden. Im Sinne der in den Anmerkungen aufgezeigten Verständnisprobleme mache ich jedoch ausdrücklich darauf aufmerksam, daß mein Versuch als vorläufig anzusehen ist und nur eine Möglichkeit darstellt, den Texten näherzukommen. Allerdings dürften der methodische Ansatz und die Themenstellung Anspruch erheben, die Lyrik Christine Lavants unter zentralem Aspekt zu fassen.
Einer angemessenen Rezeption der Gedichte stehen zum heutigen Zeitpunkt in der Hauptsache zwei Schwierigkeiten im Wege, zunächst ist es der ungewöhnliche, gleichwohl bereits konventionelle Stil der Werke, der dem Leser „zeitgemäßer“ Texte vielleicht zuviel Geduld abverlangt; nicht zuletzt aber wirkt sich auch die vielberufene starke Beeinflussung – im ersten Gedichtband, Die unvollendete Liebe (1949) – durch Rilkes Lyrik in der Literaturkritik sowie in der literarischen Öffentlichkeit auf die Rezeption des darauffolgenden Hauptwerkes steuernd, d.h. in diesem Falle nachteilig aus. Anders läßt sich die Tendenz von Eugen Thurnhers umfangreicher und Repräsentativität beanspruchender Auswahl im Lyrikband der Anthologie Dichtung aus Österreich kaum erklären: von insgesamt neun dort aufgenommenen Lavant-Gedichten (Lavant ist quantitativ vergleichsweise gut vertreten – von I. Bachmann sind nur fünf, von Ch. Busta sieben und von P. Celan zehn Gedichte enthalten) stammen fünf aus dem meist undifferenziert kurzerhand als „rilkisch“ abgewerteten ersten Band, nur je zwei aus den Bänden Die Bettlerschale (1956) und Der Pfauenschrei (1962). Vollends wird die Tendenz Thurnhers aber durch die Tatsache evident, daß aus Spindel im Mond (1959), der nach dem von Rilke-Anklängen noch nicht ganz freien Band Die Bettlerschale erschienenen, wirklich eigenständigen und auch formal anspruchsvollsten Sammlung, kein einziges Gedicht ausgewählt und in die Anthologie aufgenommen wurde.
Ich will jedoch keine voreilige Erwartung auf eine Rechtfertigung der Lyrikerin gegenüber interpretatorischer Willkür wecken. Lavants eigenschöpferische Leistung wird vorläufige Mißverständnisse überdauern; ich will aber versuchen, den besagten Verständnisschwierigkeiten auf dem Umweg über einige Anmerkungen zu poetologisch bedeutsamen Gedichten aus der letzten Schaffensperiode der Autorin beizukommen, zumal die Gedichte aus Spindel im Mond bereits in den Arbeiten Grete Lübbe-Grothues’ und Beda Allemanns vom Vorwurf der Epigonalität bzw. der Naivität nachdrücklich freigesprochen worden sind; leider scheinen diese Studien noch nicht genügend bekannt zu sein, weshalb eigens auf sie verwiesen werden soll. Von den hier knapp zusammengefaßten Überlegungen zu einem problematischen Aspekt der Lavantschen Lyrik und vielleicht des Dichtens überhaupt – zum Wechselverhältnis von Dichtung und Realität – erwarte ich mir einen Impuls für eine „neue“ Lektüre der Texte.
Unbezweifelt haben die angeführten Interpreten zum Ausdruck gebracht, daß ein hohes Maß an formaler Sensibilität für das Verständnis der schwierigen und verzweigten Metaphorik und Bildersprache Lavants erforderlich ist, die sich, form- und problemgeschichtlich gesehen, aus der bewußten Übernahme und Umgestaltung der künstlerischen Errungenschaften expressionistischer und selbstverständlich auch von Rilkes Lyrik konstituiert: insbesondere aber an Verfahrensweisen Georg Trakls anknüpft, dessen Wirkung auf die Dichterin bislang unterschätzt worden ist. Konsequent verliefe die „ideale“ Lektüre solcher Texte dann, wenn gleichzeitig mit dem Vollzug des Lesens auch der gesamte Werkkontext präsent wäre, wenn also das „Privatlexikon“ der Autorin, das man wegen seiner immanenten Generationsfähigkeit als „,langue‘-wertig“ bezeichnet hat, vom Rezipienten gleichsam internalisiert worden wäre. Es ist indes unbestreitbar, daß dieses Ziel des „Einlesens“ nur näherungsweise erreichbar ist.
Zur Abgrenzung der „mittleren“ von der späten Lyrik Christine Lavants (die zeitliche Einteilung deckt sich bei ihr mit der qualitativen nicht genau) sei ob ihrer Allgemeinheit und zugleich Prägnanz Lübbe-Grothues’ Beschreibung des poetischen Prinzips angeführt:

In der Lavant-Lyrik erscheint ein begrenzter Bestand einfacher Worte in immer neuen Kombinationen. Dabei haben die Worte in wechselnden Umgebungen wechselnde Bedeutung. Das läßt sich am leichtesten zeigen an den Doppelworten: Hungersterne, Sternenbaum, Sonnenbaum, Sonnenspindel, Herzrad, Radgebet, herzverzwergt, halbschlafklug, schoßverstockt, mondverhetzt, heimbeten… Hunderte solcher Neukompositionen lassen den Eindruck entstehen, daß jedes Element dieses Sprachschatzes mit jedem anderen zusammentreten kann zur Erschließung neuer Bedeutungen, die in momentaner Komposition ihre punktuelle Gültigkeit haben. Man kann die Beschränktheit des Vokabulars nicht bemerken, ohne der unbeschränkten Bedeutungen der Worte im Gebrauch inne zu werden. Und man könnte der unbeschränkten Bedeutungen nicht so eindringlich inne werden ohne die Beschränktheit des Vokabulars.

In vermindertem Grad gilt dieses vorwiegend von Gedichten aus Spindel im Mond abgeleitete Dichtungskonzept auch für die späten Gedichte aus dem Umkreis des Pfauenschrei. Dort macht sich jedoch verstärkt die Neigung bemerkbar, den im mittleren Hauptwerk bildkombinatorisch spontan dargestellten lyrischen Prozeß bzw. Zusammenhang reflektorisch in einzelne voneinander getrennte oder einander kontrapunktisch zugeordnete Bedeutungseinheiten aufzulösen. Zwar trifft dies eher bei Texten mit poetologischem Charakter zu als bei den eigentlich poetischen, wobei freilich eingestanden werden muß, daß die Zahl der Zuschreibungen an die eine oder andere Kategorie von der jeweiligen Kenntnis des Werkzusammenhangs bestimmt wird.
Als mögliche Erklärung für die offensichtliche Neigung Lavants zu poetologischer Lyrik sei vorerst die These aufgestellt, daß fiktionale Darstellungen von Lebens- und Bedeutungszusammenhängen unter zunehmendem Realitätsdruck durchlässiger werden für die empirisch wahrnehmbare Realität, wodurch entweder lyrisches und reales Ich einander angenähert werden oder aber die Autorin gezwungen wird, das lyrische Ich wegen seiner überwiegend empirischen Qualität in unterschiedlichem Grad aus den Texten zurückzuziehen und bei Gestaltungsformen Zuflucht zu nehmen, die in der Psychologie als Projektionsvorgänge bekannt sind. Die methodische Verifikation bzw. Falsifikation der These hat daher zwangsläufig von der Frage nach der Darstellungsleistung der im folgenden genauer definierten Form der poetologischen Lyrik auszugehen, bevor im daran anschließenden Argumentationsvorgang Rückschlüsse auf die spezifische Art der Realitätserfahrung der Dichterin zulässig sind. Die Selbstthematisierung des dichterischen Aktes und die Neigung zu poetologischer „Bildreflexion“ (vgl. die poetologischen Bandtitel Spindel im Mond und Der Pfauenschrei) ist – ähnlich wie bei Rilke – dichterischer Ausdruck der wechselseitigen Abhängigkeit von künstlerischem Weltentwurf und realer Lebenssituation der Autorin sowie der damit zusammenhängenden Legitimationsproblematik von Dichtung überhaupt. Daß dieser Vorgang besonders häufig in Zeiten von Existenz- und Schaffenskrisen der Schriftsteller zu beobachten ist, in denen das Verhältnis von Existenzkritik bzw. als defizient empfundener Existenzerfahrung und dichterischer Reflexion darüber problematisch wird, trägt zur Erhärtung der These bei. Im Verlauf der formalen Analyse einiger Beispiele des besagten Gedichttyps müßte sich daher auch eine inhaltliche Begründung für die Form des poetologischen Gedichts bei Christine Lavant angeben lassen.
Von der Frühphase bis zur Bettlerschale und stellenweise darüber hinaus dominiert ein Dichtungsverständnis, das allgemein als christologisch-idealistisch bezeichnet werden könnte; dies klingt im folgenden Text aus dem ersten Hauptband negativ an:

Hinfällig starre ich ins Rad der Zeit.
Wie langsam drehen sich die Sonnenspeichen!
Kein Meister lehrt mich, früh das Ziel erreichen,
doch scheint es oft, als wär ich eingeweiht.

Die Allernächsten gaben mich dem preis,
was in den Höhlen der Verlassenheiten
begreifbar ist, und meine Finger gleiten
entlang der Bilderschrift, die alles weiß.

Viel lieber säße ich noch tief im Mohn
bei Trost und Hoffnung und ein wenig Lüge,
denn hier trägt alles schon die klaren Züge,
der argen Wahrheit – man erfriert davon.

Als dichtungslogisch unterscheidbare Textbereiche stehen im Naturgedicht die beschriebene Welt der Gegenstände, der Natur, und die Ebene der Beschreibung, auf der die Selbstkonstitution der Sprecher-Deixis problematisiert wird, einander gegenüber, wobei Natur als bildliche Gestaltung von Wahrheit, als Gegenwelt etc., jedenfalls als Orientierungsfeld des lyrischen Ich fungieren kann. Dieses Modell gilt grundsätzlich auch für das zitierte Gedicht, jedoch ersetzt die Autorin dort Natur durch die „Bilderschrift, die alles weiß“, die Dichtung. Dieses bereits für den Symbolismus geltende ästhetische Prinzip stellt die idealistische Subjekt-Objekt-Beziehung in Frage, weil hier – wie sich später herausstellen soll – subjektiv Erkanntes absolut gesetzt wird, um objektive, genauer: intersubjektive Erkenntnis, d.h. Wahrheit zu verbürgen. Sicherlich wird man einwenden können, daß der Stellenwert des Beispiels nicht für das gesamte Werk Lavants, nicht einmal für das Werk vor der Bettlerschale verbindlich ist, weil dort bereits unterschiedliche Auffassungen über den ontologischen bzw. erkenntnistheoretischen Status der Dichtung konkurrieren. Dennoch hat das Gedicht heuristische Geltung: es läßt die Funktion der Dichtung bei Christine Lavant von einem Grenzfall her definieren. Beachtenswert scheint in dem Zusammenhang die Akzentuierung des prozessual gefaßten und dadurch subjektivierten Wahrheitsverständnisses zu sein; im Künstlerischen führt dieses Prinzip vorgangshafter, d.h. dynamisierter Sinnfindung, welche der „immanente Prozeßcharakter des Gebildes“ stets wieder aufhebt und dadurch das Verstehen prinzipiell unabschließbar macht, zum Überhang von bildlicher gegenüber begrifflicher Sprechweise, weil letztere die primäre Erfahrung voraussetzt. Wahrheit ließe sich somit – bezogen auf das Gedicht – allgemein beschreiben als eine ohne Selbsttäuschung (mittels der „Stimulantien“: „Mohn“, „Trost und Hoffnung“) ausgesagte und bildhaft gestaltete Selbsterfahrung des lyrischen Ich, wäre demnach eine unverfälschte, schonungslose Wiedergabe der Ich-Befindlichkeit in unbegrifflicher und deshalb anonymer Gegenwelt. Zur Bestätigung der Auslegung sowie zur genaueren inhaltlichen Bestimmung des Wahrheitsbegriffs sei eine produktionspoetisch aufschlußreiche Passage aus dem Bericht Siegfried J. Schmidts über seinen Besuch bei Christine Lavant zitiert:

Wie jeder Lyriker, hat auch sie viele schlechte Gedichte geschrieben; aber die gelungenen machen mit einer plötzlichen Strenge deutlich, wie sehr das unmittelbare Sprachwerden eines aufs äußerste gespannten Erlebens zu den Bedingungen eines guten Gedichtes gehört, wie sehr Klarheit und Unausschöpfbarkeit ineinanderoszillieren können, wie viel für jedes gelungene Gedicht darauf ankommt, ob die Arbeit, es einsam in sich auszuhalten, überstanden worden ist.
Christine Lavant spricht davon:
mit welcher Mühe sie ihre „Träume“ durchgestanden hat, bis sie klar wurden (das Wort „Klarheit“ kehrt in ihren Sätzen häufig wieder);
wie mühsam die Stelle zwischen Bewußtheit und vom Rhythmus angespannter Unbewußtheit vom sprachformenden Zugriff fest-zu-stellen ist;
wie im Augenblick des Schreibens Kopf und Herz „eins“ sind; wie sehr die einfachen Namen (Hund, Baum, Mond, Hähne, Berg, Garten) in wechselnden Umgebungen von einem Sinn in den andern wechseln;

Es mußte so ausführlich zitiert werden, weil gerade an dieser Stelle der Argumentation der Hinweis auf die artistisch-rationale Komponente im Schaffensprozeß der Dichterin besonders hervorgehoben werden soll, da sich doch der Gegenstand der Texte, und das ist die bildlich geformte Wahrheit, nach Aussage Lavants, in Übereinstimmung mit vielen Gedichten als traum- oder visionshaft geschaute Erfahrung bestimmt und durch die technische Gestaltung zugleich Adornos Postulat verifiziert: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen.“ Mit Bezug zur in Frage stehenden Problematik kann man also behaupten, daß die oben angesprochene dichterische Wahrheit nichts anderes ist, als eine gesellschaftlich vermittelte und mit dem Anspruch auftretende Manifestation des Unbewußten, des begrifflich vom lyrischen Ich nicht klar erfaßten, vielleicht gar nicht erfaßbaren, leidvollen Ausgeschlossenseins aus dem sozialen Verband, wobei Leiderfahrung die Wahrnehmungsfähigkeit noch verstärkt („die klaren Züge / der argen Wahrheit“). Erkenntnis vollzieht sich bildhaft, weil das Ich infolge seiner metaphorisch angedeuteten Reduktion auf den Tastsinn nur sensitive Vorstellungen niedrigster Art, aber keine verstandesmäßigen, schon gar nicht synthetischen, von Wahrheit gewinnen kann. Hier wird die übertextliche, allgemeine Gültigkeit der Aussage augenfällig. Nach der Auffassung der modernen Wissenschaftstheorie ist „Wahrheit“ ja nur eine Eigenschaft von Aussagen – eine Erkenntnis, deren gesamtgesellschaftliche Ursache für die Entwicklung der Literatur seit der Jahrhundertwende von einschneidender Bedeutung ist. Abgebildet wird im Gedicht nämlich der im Hinblick auf seine Möglichkeiten, Wahrheit synthetisch, in der urbildlichen Schau des objektiv Wahren zu erkennen, nach dem Zusammenbruch des religiös-metaphysischen Weltbildes stets unqualifizierte, daher – metaphorisch blinde, sich nur tastend (von Bild zu Bild, von Satz zu Satz) vorwärtsbewegende, prinzipiell (darin verrät sich Lavants anachronistische Position in der Jahrhundertmitte) aber am Ganzheitsbegriff noch festhaltende Mensch schlechthin. In diesem Sinn könnte man das Ich des Gedichts durchaus als allgemein-menschliches Medium auffassen. Für die formale Interpretation des Textes bedeutet das eine Zweiteilung, weil die Ebene der Darstellung, dichtungslogisch gesehen, doppelt ist, vergleichbar einem auktorial erzählten Prosastück oder dem Spiel im Spiel auf der Bühne. Die spezifische Kommunikationssituation des poetologischen Gedichts kann überdies dadurch kompliziert werden (ähnlich wie in der „erlebten Rede“), daß die „objektsprachliche“ Ebene (die Beschreibung des symbolischen Ablaufs, Zustands usw.) sich mit der „metasprachlichen“, das heißt poetologischen, auf der die Relation des lyrischen Ich zur Symbolebene liegt, aufgrund der Gleichheit des Lexikons teilweise deckt. Das vorliegende Gedicht ist jedoch wegen des programmatisch erhobenen Anspruchs auf Wahrheitsdarstellung, der in der Form einer „blinden“ Erkenntnis bestätigt wird, nicht poetologisch in der spezifisch Lavantschen Ausprägung.
Es ist nun an der Zeit, den Begriff „poetologische Dichtung“ bei Christine Lavant im hier verwendeten Sinn näher zu bestimmen. Üblicherweise wird darunter ein fiktionaler Text verstanden, in dem entweder auf den dichterischen Schaffensprozeß oder auf die Funktion bzw. Möglichkeiten von Literatur im gesellschaftlichen Kontext reflektiert wird. Dafür hat sich der Begriff „immanente Poetik“ eingebürgert. Als Beispiel sei Rilkes Gedicht „Wendung“ angeführt. Während es Rilke in der Wendung um eine Neukonzeption seiner Dichtung geht, insbesondere um ein „neues Weltverhältnis des Dichters“, thematisieren die hier zu besprechenden Lavant-Gedichte sich selbst in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den jeweils intendierten Grundverlauf einzuhalten, auf den sich auch die Metaphorik und die poetologische Reflexion beziehen. Um die beiden Formen poetologischer Lyrik, die damit kurz umrissen sind, auseinanderzuhalten, empfiehlt es sich vielleicht, den einen Typ als „programmatisch“, den anderen als „autopoetologisch“ zu bezeichnen. Eines haben freilich beide Formen dichtungstheoretischer Texte gemeinsam: zufolge der intendierten Änderung des Dichtungskonzepts – mag sich die Absicht auf ein einzelnes Gedicht begrenzen oder auf die gesamte Produktion zielen, mag die „Korrektur“ bewußt oder wie bei Lavant unter einem im Text antagonal zum lyrischen Ich auftretenden Zwang vor sich gehen – wird die Ebene des Textes jedenfalls zweischichtig. In Rilkes „Wendung“ ist der Übergang von der einen zur anderen Ebene durch den Tempuswechsel gekennzeichnet (präteritaler Beschreibung der überwundenen Position steht der präsentische Entwurf der intendierten gegenüber); doch handelt es sich im Vergleich zur Lavantschen Form poetologischer Lyrik, wie sie hier zur Diskussion gestellt wird, um eine Art von versifizierter Poetik im engeren Sinn. Trotz aller Unterschiede kann man aber festhalten, daß beide Typen den ontologischen Status von Fiktion innehaben, einer Fiktion allerdings, die in manchen Gedichten Christine Lavants zur Realität hin offen zu sein scheint. Die Offenheit selbst ist nur durch ständige Einbeziehung, oder besser Präsenz (sei sie auch nur wie im folgenden Beispiel durch Vermittlung geleistet) des passiv oder aktiv beteiligten lyrischen Ich garantiert.
Ausgehend von der konventionellen – religiösen oder bildungsliterarischen – Motivik und Problematik, gelangt, wenn schon nicht das Ich des Gedichts, so doch dessen Interpret über die geschichtliche, gesamtgesellschaftliche Bedingtheit (als Thesis) zur jeweils vorläufigen, im Scheitern aber noch vorwärtsweisenden Daseinsbeschreibung und -bestimmung. Denn dieses an sich negative Phänomen des Scheiterns enthält den jedermann ansprechenden Impuls zur Änderung der ursächlichen Situation dadurch, daß es die Verhältnisse beschreibt und ihre Mechanik aufzeigt.

Im Rückgrat aufwärts glimmt ein Licht,
vor Augen ginstergelbe Nacht,
der Schlaf steht duftend und gesalbt
im Vorhof seiner Würdigung
und wartet auf und wartet ab
die Zeit der Traumverrückung.
Die Halsschlagader mondversippt
halbiert und viertelt Wort für Wort,
vor Hungerzeiten bebt das Hirn,
samt flaumig ab wie Judasbart
durchs ginstergelbe Licht.
Durchs Ginsterlicht den Jakobsgang
steigt Sonne auf und ab und auf
mit schwarz gefleckten Wangen,
mit wildem Flügelringen,
von keinem Traum verrückt.
Der Schlaf dreht duftend und gesalbt
den überkreuzten Schlüsselblick
zur neuen Judasstaude.

Im Hinblick auf die allgemeine Definition des avantschen poetischen Konzepts läßt sich das Thema und damit die Problematik des Gedichts als Versuch beschreiben, das unter den im Gedicht angegebenen, bereits von Realitätsdefizienz gezeichneten Voraussetzungen wahrheitsstiftende, d.h. illusionskritische und -störende Werk hervorzubringen. Der christologische Ansatz ist in der biblischen Bildfolie erkennbar. Da aber im vorliegenden Text das lyrische Ich als perspektivierender Bezugspunkt oder auch ein allgemeines lyrisches Subjekt fehlen, muß der Werkkontext die Gültigkeit legitimieren. Es liegt nahe, im Bild der „Sonne“ „mit schwarzgefleckten Wangen“ aufgrund textlicher Parallelen, in denen dieses Attribut auf das lyrische Ich bzw. auf einen Teil desselben verweist, einen Bezugspunkt zu sehen, mit dessen Hilfe das dargestellte Geschehen auf eine mögliche Ich-Situation bezogen werden kann. Zu klären ist dennoch die besondere Form der Repräsentation des Ich. Natur fungiert hier als Identifikationsmedium einerseits noch im Sinne klassisch-romantischer Dichtungskonzeption als seinsmächtigere Realität, andererseits aber läßt sich das Gedicht, das ungeachtet der Selbstthematisierung wegen des scheinbaren Fehlens der Ich-Perspektive nicht zweischichtig ist, aufgrund seiner doppelten Reduktion mit dem Freudschen Terminus „Projektion“ annähernd beschreiben, wodurch sich auf interpretatorischem Wege die zweite Textebene einstellt. Die andere Form der Reduktion ist nämlich, wie sich noch zeigen soll, die Preisgabe symbolischer Gestaltung zugunsten bloß chiffrierender Bildsemantik. Einsinnig darf dieser Vorgang jedoch weder übertragen noch für alle Parallelstellen festgelegt werden, vielmehr bleibt das poetische Prinzip der freien oder graduellen Verfügbarkeit von Natur (gerade weil es auf eine existentielle Grundbefindlichkeit zurückgeht.) aufrecht. Charakteristisch für die späte Periode, der das Gedicht angehört, ist trotz ihrer bildspendenden Funktion weitgehende Abstraktion von der Natur und auch von Geschichte. Poetologische Konsequenz solch einer Existenzsituation ist ein Chiffrierungsprozeß, in dessen Verlauf der durch Vergleiche oder Metaphern dargestellte Bewußtseinsvorgang bzw. -zustand seine relative Bestimmtheit und Bestimmbarkeit verliert. Ansatzweise kann man dieses poetologische Prinzip bereits in der Mond-Metaphorik der Spindel im Mond erkennen, wo die Metaphern nicht mehr ausschließlich auf eine situative Verbindung von konkreter und poetischer Zeit verweisen, sondern diesen Referenzwert zu verlieren scheinen und dann zu einem funktionalen Zeichen für verschiedene geistige oder seelische Determinanten gerinnen. Demnach bezeichnet die Mond-Metaphorik im Lavantschen Werk unter anderem die Gefährdung der geistigen und seelischen Integrität durch die irrationalen Mächte des Unbewußten und der Triebe; im vorliegenden Text deutet Lavant in der Kombination von Mond- und Blut-Metaphorik die Verbindung der Triebe mit dem Wahnsinn an: „Die Halsschlagader mondversippt / halbiert und viertelt Wort für Wort.“ Die im Gedicht gesondert angeführten Aspekte der Subjektivität sind Teile einer dissoziierten, pathologischen Persönlichkeitsstruktur und können im Sinne mechanistischer Triebvorstellungen in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung zur Entstehung des ihnen gemäßen Gedichttyps beitragen, der sich beispielsweise in der „lunatischen“ Form der „Judasstaude“ konkretisieren kann. Man möchte hier von einer Poetik der Partialität des Ich sprechen, weil die Ich-Einheit (verstanden als durch Sozialisierung hergestellte Identität) verloren gegangen ist. Damit können alle Teile der Persönlichkeit poetologisch und poetisch relevant sein, wobei die Partizipation der Einzelaspekte der Persönlichkeit gemäß der oben zitierten Äußerung der Dichterin den Wahrheitswert des Textes bestimmt.
Ohne den Ort solcher Dichtung im Werk Lavants näher kennzeichnen zu wollen, läßt sich behaupten, daß mit dieser Kategorie von Dichtung – ohne Preisgabe des formal zu verstehenden Wahrheitsanspruchs – der Gegenpol zur christologischen Konzeption dialektisch daraus entstanden ist. Mit der vielleicht nur dichterisch bewußt, jedenfalls sichtbar gewordenen Fragwürdigkeit der geschichtlich vermittelten, institutionalisierten Religiosität ist auch das immer noch – wie das Gebet – der normativen Gültigkeit der Glaubensinhalte (sei es auch ex negativo) verpflichtete Ich zum Scheitern am anachronistisch festgehaltenen Anspruch verurteilt, zum Verrat, dessen poetische Realisation „die klaren Züge / der argen Wahrheit“ trägt und „zur neuen Judasstaude“ wird. Indem hier die intentionale Thematik durch die reale, im Gedicht prozessual dargestellte problematisiert wird, überschreitet der Text gewissermaßen sein eigenes Bewußtsein. Der Eingriff erfolgt von außen, über die Macht des lyrischen Ichs hinweg, dieses vermag sich als unmittelbar betroffenes empirisches nur mittels Projektion von den Zwängen zu befreien. Es ist durchaus einsichtig, daß Dichtung damit therapeutische Funktion übernehmen kann. Obwohl man vielleicht eher – mit Rilkes „Malte“ – von einem Geschrieben-Werden denn von einem Schreiben sprechen könnte, darf die objektivierende und deshalb eigentliche künstlerische Darstellungsleistung nicht außer acht bleiben. Sicherlich verläuft solch eine Lektüre „gegen den Strich“, jedoch wäre es unangemessen, von Gedichten früherer Phasen her, etwa aus dem Umkreis der Bettlerschale, diese Entwicklung als vereinzelten Sonderfall oder gar als manieriert abzutun, auch wenn die Anordnung der Texte in den Sammelbänden das Bestreben der Autorin kundgibt, die aufgebrochene Radikalität harmonisierend zu glätten.
Die Polarität von transzendentaler und real erfahrener Natur schlägt als dialektische in den neuen, positiven Daseinsentwurf um und treibt so den Prozeß der Selbstfindung des Ich weiter, wenn Lavants Aussage wahr ist, „daß ein Gedicht etwas verändern muß, soll es nicht unnütz sein.“ Am Schluß des Gedichts eröffnet sich trotz des nur latent präsenten lyrischen Ich die ganze existentielle Problematik.
Indes ist die Subjektivität und damit jegliche Ichhaftigkeit des oben zitierten Textes nur aus dem Werkzusammenhang heraus zu ermitteln, mithin lediglich vorausgesetzt, weshalb die Überführung der formalen in die semantische Struktur nicht bruchlos vor sich gehen konnte. Im folgenden Gedicht aus dem Band Sonnenvogel endlich soll die dort thematisierte Interferenz von dichterischem und existentiellem Weltverhältnis zusammen mit der Frage des poetologischen Dichtungsbegriffs untersucht werden.

Endlos schreit vom Hohlweg herüber
und unausstehlich die Regenkröte.
Der späte Mond und mein Herz
gleichen an diesem Oktoberabend
einem aufgerissenen Wespenkrug.
Lautlos gleiten die schwarzen Schiffe
hastiger Vögel am Fenster vorbei
und erschrecken mich und die Abendspinne.
Halbfertig über Stirne und Augen
hängt mir das dünne Gewebe des Schlafes.
Bald wird es schwer von meinen Ängsten sein,
denn unerträglich dünkt mich das Zeichen
des aufgerissenen Wespenkruges,
den der Wind jetzt vom Schuppendach bläst.

Ansatzpunkt der Analyse muß hier die Bildersprache sein. Die Rekurrenzen des Bildes vom „Wespenkrug“ im Gesamtwerk verdeutlichen, daß es die Dichterin dem Bereich des Verstandes als der den sinnlichen Erfahrungen übergeordneten Instanz zuweist. Dies zeigt sich auch jetzt. Anfangs fungiert das Bild noch – durchaus reflektiert – als Gleichnis für Mond und Herz, zwei Metaphern, die meist auf Geistiges und Seelisches verweisen, der Mond im negativen Sinn als Zeichen für die Gefährdung des Denkens, das Herz (als „Herzgedächtnis“ oder „Mittengedächtnis“) in positiver Weise. Beide Bereiche haben überdies analog dazu die ihnen jeweils aus dem Werkkontext zukommende poetologische Funktion. Diese überschneidet sich nun mit der des Wespenkrugs, wodurch eine wechselseitig determinierte Bildabstufung entsteht, die das komplizierte Zusammen- und Gegenspiel von Gefühl und Verstand bei der Produktion des dichterischen Textes metaphorisch darstellt. Das aufgerissene Wespennest symbolisiert nicht nur die Zerstörung bzw. Vergeblichkeit intellektueller Koordination der seelischen und Gefühlskräfte, damit auch des Dichtens (vom Standpunkt des lyrischen Ich), sondern zeigt in der Obsessivität der Vorstellung vor allem die schizophrene Existenz des Ich.
Wie in der Offenheit des Schlusses auch die reale Existenzkrise der Dichterin gestaltet ist, geht aus der formalen Struktur hervor. Tragende Gestaltungsschicht ist die Zeichenhaftigkeit aller Naturvorgänge, sofern sie Geistig-Seelisches abbilden. Man vergleiche die solcherart depotenzierte Natur mit der „realistisch“ geschilderten in der dritten Strophe des Pfauenschrei-Gedichts „Diesmal nur Wildblumenglocken“: „Wie Fuchsfelle leuchten vom Abendlicht / fast sprunglebendig die Birnäste auf“, wo reine Natur als Utopie noch ihre Seinsfülle bewahrt hat. Diese Verse korrespondieren mit den Zeilen sechs und sieben des vorliegenden Textes und offenbaren dabei die radikale Verschärfung der Existenzproblematik. Zwar spricht die Autorin nur vom „Zeichen des aufgerissenen Wespenkruges“, doch werden infolge der gebrochenen Realitätsbeziehung alle Gegenstände zeichenhaft. Schon im Gedicht „Abend im März“ aus der Unvollendeten Liebe ist Zeichenhaftigkeit als stilistischer Grundzug Folge der problematisch gewordenen gesellschaftlichen Integration des Individuums. Das Schreien der Regenkröte aus dem Hohlweg und das lautlose Gleiten der „schwarzen Schiffe / hastiger Vögel“ sind chiffrierte Manifestationen des Realitätsverlustes und des daraus entstandenen Angstgefühls. Das Ich dissoziiert sich in „Wespenkrug“, „Herz“, „Mond“ und „Abendspinne“ – Abspaltungen von der integralen Persönlichkeit, die selbst nur noch unverbundene Einzelaspekte darstellen und als poetologische Metaphern die fiktive wie die real existierende Ich-Figur umfassen. Symbolisch abgebildete Totalität der klassisch-romantischen Tradition weicht einer nach dem Zerfall der metaphysischen Weltordnung und nach der geschichtlich vorbereiteten, von Mach und Freud methodisch praktizierten Analyse der Persönlichkeit nur noch zeichenhaft und partiell erfaßbaren allgemeinen Subjektivität der Lebensabläufe. Wenn Symbol und Chiffre die Beziehung zwischen erfahrener und ideeller Welt herstellen, dann führt der Verlust der religiösen Bindung über die Glaubenskrise zum Realitätsverlust und folgerichtig zur Zeichenhaftigkeit des Absoluten selbst (man vergleiche dazu „Er hat angezündet den Faden aus Pfauenschrei“).
Um nun auf die Ausgangsposition der Analyse zurückzukommen, müßte das Gedicht über die Darstellung der subjektiven Ich-Befindlichkeit und über sich hinaus konkrete erkenntnisleitende Funktion besitzen, die sich am formalen und auch instrumentell formalisierbaren Aufbau nachweisen ließe. Dadurch daß die Autorin das Bild des „aufgerissenen Wespenkruges“ anfangs als gedanklichen Vergleich einführt und ihn am Schluß emphatisch realisiert („denn unerträglich dünkt mich das Zeichen / des aufgerissenen Wespenkruges, / den der Wind jetzt vom Schuppend ach bläst“, Hervorh. v. Verf.), kehrt sie nicht nur den herkömmlichen Metaphorisierungsvorgang um, der bei solchen erkenntnisinstrumentellen Texten notwendigerweise im Gedicht selbst dargestellt werden muß, sondern bricht durch die Aktualisierung des Bildes auch die kategoriale Unterscheidung von Fiktion und Realität auf, weil der Realitätsdruck so groß geworden ist, daß ihm das Ordnungs- und Abwehrvermögen des Ich nicht mehr standhalten kann. Anders als in Rilkes „Wendung“ hat das Präsens hier tatsächlich präsentische Funktion.
Obzwar man unter diesem Gesichtspunkt die Lyrik Christine Lavants eine Biographie nennen könnte, wäre es verfehlt anzunehmen, daß es sich bei den zitierten Texten um Realitätsschilderungen bzw. um Psychogramme handelte. Sicherlich geht es nicht zu weit, wenn man sie als Ausdruck psychischer Konfliktsituationen – im Sinne gegensätzlicher Rollenforderungen – und ihrer ästhetisch-formalen Bewältigung versteht. Damit aber stellt sich die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung der Texte. Wenn Peter Szondi für die Interpretation in seiner Auslegung der Rilke-Elegien noch generell fordern konnte, daß die Interpretation „nie an die Stelle der Dichtung selber trete“, so wird nach allem bisher Gesagten solcher Verzicht leicht in Frage gestellt und trifft vielleicht nicht einmal mehr auf die Zeitgenossen Rilkes vollauf zu. Beistimmen kann man Szondi nur insofern, als die Interpretation zwar nach ihrer Aufhebung verlangt, aber nicht mehr, um sich „in das Werk selbst auf-[zu]lös[en]“, sondern um den prinzipiell unabschließbaren Verstehensprozeß in perpetuierter Transzendierung in Gang zu halten.

Johann Strutz, Nachwort

 

Ueberschatteter Ruhm: Christine Lavant

Hilf mir Sonne, denn Ich bin fast blind!
Nimm den Teller meiner linken Hand,
zeichne ein das hochgelobte Land
und die Wege, die noch gangbar sind
für Erblindete und für Ertaubte.

So beginnt eines der frühen Gedichte der Kärntnerin Christine Lavant, einer der bedeutendsten Lyrikerinnen der Gegenwart. Als vor zwei Jahren, an der Schwelle des Sommers, die traurige Kunde vom frühen Tod der Dichterin – am 4. Juli wäre sie 60 geworden – eintraf, geschah dies scheinbar lautlos, ohne die sonst bekannten Wellen öffentlichen Entsetzens.
Die grosse Unauffällige aus dem Lavanttal hatte sich fast 58jährig davongemacht, wie sie lebte: schattenhaft, bäuerlich schlicht, von Armut und Krankheit gezeichnet. Ihre Tiefe sei nicht ausgelotet, sondern erahnt gewesen, sagte Hilde Spiel in einem Nekrolog; mit Trakl habe sie die Bildkraft verbunden, die Farbigkeit der Sprache.
Die Lavant war das neunte und letzte Kind des Bergarbeiters Thonhauser aus dem Lavanttal. Zehn Jahre nach ihrer Heirat im Jahre 1939 kam ihr erster Gedichtband heraus: Die unvollendete Liebe. Es folgten Die Bettlerschale, Spindel im Mond, Der Sonnenvogel, Der Pfauenschrei und schliesslich 1967 Hälfte des Lebens. Dieses Leben war seit früher Kindheit von Krankheit und Hoffnungslosigkeit überschattet. Die Armut tat ein übriges. Schon in Christine Lavants erstem Gedichtband konnte man die Zeile lesen:

Denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche…

Mächtig in der Sprache ja, ohnmächtig oft innerhalb der eng gezogenen Grenzen ihres Alltags, der den meisten ihrer Bewunderer verschlossen bis auf den heutigen Tag blieb.
Stets kränklich, konnte Christine Thonhauser (später Habernig) nicht einmal alle Klassen der Volksschule besuchen. Wie schon ihre Mutter trug sie durch mühevolle Strickarbeit zum Unterhalt der Familie bei. Diese Tätigkeit verband sie mit intensivem Lesen. Eigentlich waren es die Verse Rilkes, die die Lavant schliesslich zu eigenem Schreiben anregten, verführten. Zeiten grösster Kreativität wechselten bei der Kärntnerin mit Phasen einer unschöpferischen, lastenden Schwermut, „die nichts mehr will als den Tod“. Einmal lesen wir diese unverwechselbaren Zeilen:

Ich weiss nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn man zu schwach, ist, um hinaufzukommen?

Die Dichterin bekennt:

Ich denke mit sieben Stirnen
und jeder fällt was andres ein…

Sie mag darunter gelitten haben, unter diesem Ansturm der Bilder und Visionen, an denen ihre Lyrik so unendlich reich ist. Als sie einmal ein Stipendium erhalten hatte, gestand sie nach ihrer Rückkehr, Reisen änderten bei ihr und ihrem Schreiben gar nichts:

Entweder komm ich in den Zustand, dass ich schreiben kann und muss oder nicht. Da ist’s dann egal, ob ich in Sankt Stefan bin oder in Istanbul.

Es trifft sicher auch zu, dass sie – wie Trakls Mentor Ludwig von Ficker es sagte – „die grösste lyrische Naturbegabung der Gegenwart“ war. Unschöpferische Schwermut muss im Leben der Lavant eine beherrschende Rolle gespielt haben. Wie anders wären jene von Klage erfüllten, oft mystisch dunklen Versgebilde denkbar, von denen diese Frau uns so unendlich viele hinterlassen hat.
Es gibt ein faszinierendes Photo der Dichterin von Franz Hubmann: das Bildnis einer scheinbar lethargisch dreinschauenden Bäuerin in einem hellen Kopftuch. Müde und in sich gekehrt hat sie den rechten Arm auf die Tischkante gelegt, die Augen stieren irgendwo ins Leere, Namenlose, ins bitter Erfahrene. Das Antlitz dieser Frau weckt Erbarmen, leises Erschrecken einerseits und mitleidgebietende Zuneigung andererseits. Die ein wenig rätselhaften Züge verweigern sich dem raschen, mühelosen Zugriff.

Im Geruch der frühen Früchte
und schon leicht entlaubt
bangt der Obstwald, Vogelflüchte
kreisen um sein Haupt…

beginnt ein unverlierbares Gedicht der Christine Lavant. Darin schwingt bereits der Abschied mit, ein Abschied, der uns allen auch in diesem Augenblick Gewissheit ist und der doch mancherlei Trost bereithält – in den Versen wie in den Erzählungen dieser genialisch Begabten.

W. Alexander Bauer, Die Tat, 4.7.1975

 

VERSUCH ÜBER DEN WINZIG GEWORDENEN MOND

wie kleinlaut sich die tage neigen
die sichel ab und zu
nen kopf rollen lässt

was bleibt? ich kenne einen
der sammelt rituelle schädelschalen von menschen
für menschen beschnitzt

mit skeletten feuer knochen
und aasfressern dunkel ist diese kapala
vom jahrhundertealten grind

bitte um eine handvoll reis
bitte um eine handvoll sterne
am nachthimmel bettelnde hände

der unaufhaltsame tag beginnt
der nächste innere shitstorm
will überstanden sein weil

ich nicht bei mir bin
aus niederlagen siege mache
kann ich nicht bei dir sein

zurück am nachthimmel der einschlafhammer
benutzt du nicht zu große worte?
ich lese sie auf (wie reiskörner)

du öffnest derweil die letzte matroschka
und von der seele bleibt nurmehr ein see
(spiegel des anderen)

Arne Rautenberg

 

KREUZAUFLADUNG
für Christine Lavant

Krummbucklig ich
die Nachzehrerin die Zeterin zertretene
heb ich Krumen klaub sie auf
Finsterung Behausen in den Klauen

Krumm vor Krumenbuckelei mein Wiedergang
das Wiederverhängnis am Gängelband
die Kreuzwegbeugung leinengleich geführt
stellvertretend hebt das Bücken nichts

Bleibt das Kummerbündnis hier zu glauben
dass im Scharren nur ein Knöchel
von der andren Seite nach mir greift
dass mir ein Keimling zustößt
wie Gewölbe diese Wurzel mich durchschlägt
dass sich vielleicht
auf allen Vieren eine Hand mir reicht

Silke Andrea Schuemmer

 

 

Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Johann Strutz

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015

Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015

Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015

Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015

Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015

Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015

Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at

 

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit,  6.6.2023

Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin im Museum + Homepage +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + Gesellschaft
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachruf auf Christine Lavant: Tat

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