1. Februar

Immer diese Zeitnot im Februar – als wären im kürzesten Monat auch die Tage kürzer, obwohl ja nur einfach die Nächte länger sind! Bin früh an der Arbeit heute; suche nach einem Schlüssel für die Übersetzung der unübersetzbaren Strophen von Stanley Chapman, ›Onze mille verbes‹, notiere mir die Formalien, die einzuhalten sind – Akronyme (Guillaume und Apollinaire), Reimschema, viele Eigen- und Ortsnamen. Die Vorgaben sind so zahlreich und so einschränkend, dass ich alles andere – vor allem die Eigenschaftswörter – sehr frei behandeln muss; einen ersten Versuch notiere ich hier: Paranoi Elli (für Ami Zalcman) – Amor ein Floh ist außer Rand und Band
aaaaaPlatonisch liebt er seinen Elefanten moderat
aaaaaObszön noch schöner geht es nicht
aaaaaLakonisch tätowiert er dessen Heart
aaaaaLöckt mit dem Stichel was er nur so ahnt
aaaaaIiiiiii ra-ra-rammelt phallofürchterlicht
aaaaaNun ist der so Gelöcherte am Apparat
aaaaaAuthentisch angetörnt und tönt galant
aaaaaImaginär und also klar ist die Gesamtansicht
aaaaaReihum von Titten und von Hinterhand
aaaaaEin Kitz ach weh dem eine Boa Unrecht tat
. – Der Schnee von gestern ist in den Neuschnee von heute verpackt, die frische Weiße greift um sich, die blanken Leerstellen weiten sich aus, bringen Farben, Formen, sogar Geräusche ganz allmählich zum Verschwinden. Wenn es doch so wäre! Aber gleich werden die Schneepflüge und die Salzstreuer anrücken, um die geschlossene Decke aufzureißen, die Straße befahrbar zu machen. Doch in diesen Minuten präsentiert sich das helle Idyll wie eine kleinformatige Katastrophenszene – die Autos drehen durch beim Start, kommen nicht vom Trottoirrand weg, stellen sich quer … Ein paar Zentimeter von diesem harmlosen vergänglichen Weiß bringen den Büroverkehr zum Erliegen. Für die Betroffenen ein Ärgernis, für mich ein schwacher Trost: Mit ein paar lausigen Milliarden von leichtesten Flocken erinnert die Natur an ihr Gewaltmonopol. – In der Morgenpresse kursiert heute ein Bild aus Indien: Zu sehen sind Hunderte von kahlen Schädeln und nackten Schultern, die dicht gedrängt auf dem Ganges zu treiben scheinen. Es handelt sich um gläubige Hindus, die unweit der Stadt Allahabad die Maha Kumbh Mela feiern und bis zum Hals in den heiligen Fluss eintauchen. An dem Ritus beteiligen sich – je nach Quelle – vierunddreißig, vierzig oder bis zu hundert Millionen Menschen. Millionen, die sich einem Ritus, einem Glauben, einer Gottheit anvertrauen. Ob zwei oder zweihundert Millionen – es ist des Guten, des Menschlichen, des Göttlichen zu viel. – Lese vorm Abschicken den kleinen Essay über Benjamin Fondane für die NZZ durch; füge diese Schlusspassage mit Verweis auf seine Vernunftkritik hinzu: Zahllos sind die Beispiele, die Fondane in seinen Schriften heranzieht, um die Unhaltbarkeit des Vernunftdenkens und -strebens zu belegen. Im Geist der Aufklärung, der das »verrückte Europa« des 20. Jahrhunderts alimentiert habe, vermag er nichts anderes als eine »enorme Missvernunft« (déraison) zu erkennen. In der von Albert Camus vorgetragenen These, wonach Sisyphos als glücklicher Mensch zu denken sei, sieht er die übliche Hybris des beredten Intellektuellen am Werk, der den alltäglichen Horror der Vergeblichkeit und der Sinnleere in einem ansprechenden Denkbild aufhebt, ohne die realen Qualen der sisyphischen Existenz in Betracht zu ziehen oder gar zu deren Linderung beizutragen. »Denn was die Vernunft fürchtet, das wäre ein Sisyphos, der die Einbildung, glücklich zu sein, verwerfen würde, der am ›Ernst‹ seiner Lage verzweifeln würde und der tatsächlich im Absurden sein Heil suchen würde!« Die klassische Philosophie, so betrachtet, ist nicht viel mehr als ein schöngeistiges »gesungenes Denken«, lebensfeindlich und wirklichkeitsfremd, der Lüge in jedem Fall näher als der Wahrheit – »fauler Friede der Erkenntnis«. – Nun wartet Maurice Blanchot; dann kommt der Beitrag zu Rolf Winnewissers Zettelwerk für das Kunsthaus Aarau und … aber wann die Erzählung, von der ich bereits träume … die ich bereits geträumt habe – die also vielleicht gar nicht mehr geschrieben werden muss? Und warum eigentlich haben bei mir stets die Kleinigkeiten Vorrang, die linkshändig zu erledigenden Auftragsarbeiten oder auch die alltäglichen Besorgungen, und nicht das, was mir wesentlich ist, woran mir als Person und als Autor tatsächlich etwas liegt und von dem ich weiß, dass allein ich es realisieren kann? Ist es bloße Bequemlichkeit oder gibt es eine geistige Schwerkraft, die genau so wie die physische nie nicht vorab schon überwunden werden muss, damit Flüchtiges und Fallendes aufgehalten, bewahrt werden kann? – Seit Jahren stapelt meine hiesige Nachbarin ihren Müll vor der Haustür, sorgfältig aufgehäuft – alte Bretter, verbeulte, angerostete Pfannen, geschnürte Zeitungspakete, Autoreifen, Kartons, zerschlissene Körbe, Benzinkanister: Schutzwall wogegen? Von der Gemeinde ist sie schon mehrfach verwarnt worden, Passanten beschweren sich. Die Frau kann nicht anders, verlässt das Haus offenbar nur nachts, kann den Tag und die Welt nur in ihrer Festung bestehen. – Spätes Frühstück, dann – noch bei Dunkelheit – der Gang in den Hochwald; ich schreite die große Runde ab, fünfviertel Stunden, unter den Sohlen der schmatzende, vom geschmolzenen Schnee noch durchnässte Grund, darüber eine dicke Schicht von verrottetem, völlig eingeschwärztem Laub vom vorigen Herbst. He! Ich wache gleichsam ein zweites Mal auf, als ich aus dem Wald auf die Straße nach Romainmôtier trete, in den nun aufgehellten Tag und realisiere – ich hab den Weg blind und bewusstlos hinter mich gebracht, offenbar kein einziges Mal auch nur den Blick gehoben, wie ein Roboter auf programmierter Bahn, und jetzt steh ich da mit einem Bündel von Ideen und Erinnerungen, mit einem schwindelerregenden Gefühl von Leere. Muss dringend was essen. – Der »freie« Schriftsteller mag seiner biedermeierlichen Wunschvorstellung entsprechen, ist aber im Kontext der heutigen Dienstleistungsgesellschaft nichts als ein anachronistisches Robotbild. Denn wirklich frei kann nur sein, wer nicht vom Schreiben leben muss, wer nicht vom Markt, aber auch nicht vom Staat oder von (noch so großzügigen und diskreten) Sponsoren abhängig ist. Der wirklich freie Autor – frei ohne Anführungsstriche – ist der selbstversorgende, selbständig sich organisierende, auf eigenes Risiko und mit eigener Verantwortung arbeitende Autor. Ein souveräner Unternehmer, der weder auf Kredite und Vorschüsse, noch auf Subventionen und einen gesicherten Mindestlohn zur Abgeltung von Telefonoder Zahnarztrechnungen spekuliert, geschweige denn, dass er solche Unterstützung à fonds perdu anmahnt, wie manche Kollegen von der progressiven Front es tun. Das weit eher zeitgemäße, wenn auch keineswegs ganz neue Geschäftsmodell, das die Befreiung des Schriftstellers von derartigen Abhängigkeiten und dem damit verbundenen Erwartungsdruck bewirken kann, beruht auf dem wechselseitigen, synergetisch optimierten Einsatz von Standbein und Spielbein. Das Modell (ich selbst habe es während Jahrzehnten mit Gewinn, aber auch mit Mühe erprobt) bietet gleich mehrere Vorteile. Das Standbein – ein Teilzeitjob welcher Art auch immer – kann eigenständig bestimmt und nach Belieben genutzt werden. Es ist, in dieser Optik, nicht einzusehen, weshalb der »freie« Schriftsteller ein zu hundert Prozent am Schreibtisch tätiger Autor sein sollte. Jeder Schreibende weiß doch, dass produktive literarische Arbeit nicht am Fließband und nicht nach Vorgabe von Bürozeiten bewerkstelligt wird; dass literarisches Schreiben normalerweise durch lange LateNZZeiten und oft massive Schreibblockaden eingeschränkt ist und also ohnehin nicht als Vollzeitbeschäftigung ausgeübt werden kann. Auch von daher ist die Verbindung von freier Schriftstellerei und zusätzlichem beruflichem Engagement eher eine Chance denn eine Zumutung, und mehr als das – es ist eine schlichte Notwendigkeit. Wer dank eigener beruflicher Vorsorge zu solcher Unabhängigkeit gelangt, wird auch nicht dem Druck von Ratings und Trends ausgesetzt sein; im Gegenteil – der sich selbst organisierende, sich selbst versorgende Autor ist der wirklich freie Autor, frei von Verlagsinteressen und Publikumserwartungen, aber auch – ebenso wichtig – frei zu riskanter innovativer Arbeit im Namen der Literatur als Kunst. – Die Tageszeitung von der Frontpage bis zur letzten Seite mit den vermischten Meldungen zu absolvieren, empfinde ich jedes Mal als ein persönliches Drama, persönlich deshalb, weil ich ja selbst zum Personal dieser tragischen Schmierenkomödie gehöre. Ich komme mir bei der morgendlichen Lektüre – so auch heute – wie ein namenloser Statist vor, der Tag für Tag zur Premiere eines Stücks von William Shakespeare (oder Edward de Vere) anzutreten hat: Ich bin dabei, gehöre dazu, ohne eine eigene Rolle zu haben, ohne Text, bin Teil des Geschehens, habe aber keinen Anteil daran. Bestimmt und geschürzt wird das Welt- wie das Bühnengeschehen durch Lüge, Verrat, Korruption, Eifersucht, Gier, Geilheit, Ungerechtigkeit, Übervorteilung, Unterschlagung, Verleumdung. Anderes, Besseres kommt allenfalls am Rand vor, in einem komischen Zwischenspiel, in einer marginalen Glosse vielleicht – zum Tagesgeschäft gehört das Gute immer nicht. – Bin vorübergehend mit Anton Reiser unterwegs. Die Larmoyanz und Rechtschaffenheit des Erzählers täuschen nicht darüber hinweg, dass hier einer durch die Hölle geht – durch die Hölle der Normalität. Das Fazit kommt früh, ist lapidar: »So hatte er keinen, zu dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund unter Großen noch Kleinen.« Allein in Gedichten und Geschichten findet er einen tragfähigen Lebenszusammenhang. Das Gestöber der Buchstaben, der Wörter auf einen Nenner zu bringen, erkennt er schon als Kind – beim Lesenlernen – als lebensrettende Geste, und in solchem Selbstverständnis lebt er denn auch hin. »Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuss er sich für all das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu einem Buche.« Diese Zuflucht gibt’s nicht mehr. Dass das Buch heute als Überlebensmittel untauglich ist, liegt an den Lesern ebenso wie an den Autoren. Die sogenannte schöne Literatur hat sich auf die Seite der schlechten Alltäglichkeit geschlagen. – Immer öfter bemerke ich bei mir Anzeichen von Legasthenie, dies umso deutlicher, als ich noch immer vorwiegend von Hand schreibe. Vor allem bei Eigennamen und Fremdwörtern kommt die Schreibbewegung plötzlich ins Stocken … sie stockt in dem Moment, da mir die automatisierte Geste des Schreibens bewusst wird. Nur ist mir unklar, was da nun wirklich stockt – die Bewegung der Hand? Die Bewegung des Denkens? – Draußen klirrende Kälte, die Schneewehen sind mit einer matten Eiskruste überbacken. Der Himmel steht als kompakte graue Wand senkrecht auf dem Horizont; gegen Mittag hellt sich das einfältige Grau zum Zwielicht auf. Statt die noch heiße Wäsche in den Tumbler zu tun, hänge ich sie – ein seltsame Regung! – im Garten an die Leine. Hemden, Handtücher, Laken dampfen noch eine Weile, dann verhärten sie sich, sie erstarren – gleichsam – zu Blech, und wenn ich sie nun, zwei Stunden später, anfasse und von der Leine löse, knacken sie leis; und wieder setzt Schneefall ein.

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