10. Juli

Jetzt steht die Reise in die USA schon unmittelbar bevor, ich brauche dringend noch eine Straßenkarte für Washington und Umgebung, sehe mich in einem Großkiosk um, werde in ein launiges Gespräch verwickelt, zuerst mit dem einen, älteren Verkäufer, dann mit dem andern, sehr jungen, der hier vermutlich eine Lehre oder ein Praktikum macht. Die beiden scheinen über meine geplante Reise besser Bescheid zu wissen als ich. Der Kiosk bietet völlig unüberschaubare räumliche Verhältnisse, das Angebot reicht von Sandwiches bis zu Sexartikeln. Zwischen den Regalen hindurch kann ich sehen, wie ein Mädchen mit weißen Strickstrümpfen in einem dämmerigen Alkoven die bequemste Stellung für die Begattung sucht – nach kurzem Hin und Herr legt sie sich rücklings in die Kissen, macht die Beine auf, lacht. Auf der obersten Etage, die ich durch das dunkle Treppenhaus erreiche, ist die Bar, ein niedriger Dachraum mit wuchtigen Balken, vollbesetzt mit jammernden und jubelnden Kindern, unter denen ich auch zwei, drei junge Frauen ausmache, Mütter vielleicht, vielleicht auch Kindergärtnerinnen, jedenfalls kann ich hier keinen Platz für mich finden, verlasse den Raum, steige hinunter, begebe mich durch das in schwerem Holz gebaute, mit einem durchgewetzten Teppich belegte Treppenhaus zurück in den Verkaufsraum. Zusammen mit Krys mache ich mich auf den Weg, wir reisen mit leichtem Gepäck im Zug, durchqueren in tagelanger gemächlicher Fahrt die immer gleiche Gegend – grüne wehende Felder mit hohem bärtigem Getreide und, wie hineingewürfelt, mittelgroße hässliche Betonbauten mit geschlossenen Fenstern. In der Nacht müssen wir aussteigen, keine Ahnung warum, keine Ahnung, wo wir sind. Wir suchen … wir finden einen Informationspunkt, Krys verhandelt mit einer Agentin, es stellt sich heraus, wir müssen uns bewaffnen, müssen Schlafsäcke, Seile, Werkzeuge dazukaufen. Krys bittet mich, die blanken Projektile aus dem Gras aufzusammeln. Ich bin fasziniert von der kühlen Schönheit dieser Stahlbolzen, vom perfekten Schliff, von der brillanten spiegelnden Oberfläche, in der sich mein Gesicht in extremer Verkleinerung präzise spiegelt und … und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. – Die Gewalt in Syrien, die Korruption allüberall, die niemals verjährende Dummheit in der Politik, die Infamie der Medien, der Werbung – all dies verstärkt, obwohl es mit mir nicht das Geringste zu tun hat, mein Ungemach, geboren zu sein – ist jener Junge … bin jener Junge nicht ein wenig auch ich selbst, der Junge dort drüben, der wie viele seiner Schulfreunde in Homs vor den Augen der Eltern vergewaltigt, verprügelt, ermordet wird, oder dieser Junge hier, der in den Trümmern seiner Schule schwer verletzt unter einem Betonträger liegt und schreit und … und stirbt? Was habe ich … was hat der alltägliche Horror mit mir als Person zu schaffen? Was kann ich dafür? Was kann ich dagegen? Was … wo liegt meine Verantwortung dafür? Was kann jemand … was kann einer wie ich überhaupt noch wollen … noch sollen hienieden? – Habe in meiner Rehazeit ein Buch mit dem Arbeitstitel »Sterben in Russland« konzipiert, für mich eine Gelegenheit, auf bekanntem kulturhistorischem Terrain der Todesfrage (mit Voraussicht aufs eigene Ableben) auf den Grund zu gehn – 1) Sterben und Tod in der russischen Folklore, in geistlicher Dichtung, in der kirchlichen Dogmatik und der Religionsphilosophie; 2) Täter und Opfer im Duell, Anlässe und Techniken des bewaffneten Zweikampfs; 3) Freitod oder Selbstmord; 4) Apokalyptik – Ende der Geschichte, Ende der Welt. Wobei zu eruieren wäre, inwieweit es in Sachen Sterben und Tod nationale, kulturelle, mentalitätsbedingte Differenzen gibt, in diesem Fall also eine »typisch« russische Thanatologie. – Hier macht das Wetter, dem Kalender zum Hohn, wieder einmal, was es will; ewiger brutaler April in der Mittsommerzeit. – Schwermut, begriffen und oftmals beglaubigt als eine »philosophische« Krankheit zum Tod, erwächst aus der Einsicht, dass das Menschenleben, egal, ob man es individuell oder kollektiv nimmt, nie zur Gänze der Wirklichkeit zugehört und auch nie wirklich ein Ganzes ist; dass es vielmehr laufend konzipiert und als eine Revue von möglichen Welten verstanden werden muss, die mit der wirklichen, das heißt hier: der konkret gegebenen Welt weit häufiger kollidiert als harmoniert. Am Ende ist das Leben vielleicht bloß die Erinnerung an jene virtuellen, niemals konkretisierten Welten, oder es wird – als Erinnerung an die Zukunft – Utopie gewesen sein. Das »Glück« bestünde darin, einfach da zu sein und das, was sonst noch da ist, gelten zu lassen unter dem Sammelnamen »Gott«. – Anderseits aaaaa
aaaaableibt der weit schlimmere
aaaaaVerdacht die Erde drehe sich
aaaaaum unsereinen. Und aber manche (sicherlich
aaaaadie allermeisten) meinen
aaaaader Triumph gehöre nie nicht in die Mitte
aaaaada kein Kreis und auch
aaaaakein Dreh dem toten Punkt entkommt. So
aaaaawie keine Lyrik der Physik. Kein Ende
aaaaadem Beginn.
– (Nun käme das nächste Gedicht. Es wäre das letzte. Wie jedes andere auch.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00