10. Mai

Rund eintausend Wandinschriften und Graffiti, die vor rund zweitausend Jahren an und in öffentlichen wie privaten Gebäuden der Kleinstadt Pompeji angebracht wurden, hat der Latinist Vincent Hunink zu einer ebenso merkwürdigen wie bemerkenswerten Anthologie zusammengetragen. Die Kritzeleien sind meist sehr kurz, oft nur fragmentarisch erhalten, bisweilen bleiben sie auf ein einziges Wort oder einen Namen beschränkt. Die am häufigsten wiederkehrenden Wörter sind »hier« und »ficken« und »glücklich«: Glücklich ist der Ort hier. Damit ist wohl das dominante Lebensgefühl der Pompejaner – FELIX HIC LOCUS EST und HIC HABITAT FELICITAS oder O FELICEM ME – auf den Punkt gebracht. Von daher mag sich auch erklären, dass das Eigenschaftswort »glücklich« (felix) zugleich zum beliebtesten Männernamen (Felix) werden konnte: »Felix, du fickst gut« (FELIX BENE FUTUIS). Die Tatsache, dass die Schreibenden zwar unentwegt auf ihrem Standort (hic) insistieren – »hier habe ich viele Mädchen gevögelt«, »für Müßiggänger ist hier kein Platz«, »Paris war hier« –, steht in auffallendem Kontrast zum fast vollständigen Fehlen von Zeitangaben. Glückliche Menschen scheinen ohne Kalender und Agenda auszukommen, sie verstehen im und aus dem Moment zu leben, und wenn sie sich zeitlich festlegen, dann am ehesten auf »immer« oder »ewig«. Größtenteils handelt es sich bei den Inschriften um die schlichte Feststellung, dass jemand (»ich«, »wir« usf.) hier vor Ort gewesen ist und dies oder das getan hat; es gibt aber auch zahlreiche Anrufe oder Aufrufe an bestimmte Personen, es gibt Ratschläge, Warnungen, Wünsche und Verwünschungen – in ihrer Art und Intention nicht ganz unähnlich dem, was man heute via SMS kommuniziert. Dabei wird in aller Regel ein Name (oder werden mehrere Namen) genannt, meist mit dem Hinweis auf eine bestimmte Tätigkeit, die hier (im Hauseingang, an der Wand, auf der Gasse, im Bordell, in der Bäckerei, im Salon, im Haus der Vestalinnen usf.) stattgefunden hat: Man hat gewartet; hat sich getroffen; hat sich verpasst; hat sich geküsst; hat sich geliebt oder auch gezankt usf. Besonders oft werden sexuelle Handlungen vermerkt, man lobt sich oder andere für »gutes Schwanzlutschen«, »bestes Fotzenlecken« usf., bedient sich dabei gelegentlich auch der übertragenen Rede: »Fischchen lass mich deine Quelle sein!« Doch vorherrschend ist die grobe Alltagssprache, die nur ein paar wenige, deshalb ständig wiederkehrende Ausdrücke für die immer gleichen Vorgänge hat. An der Hauswand eines pompejanischen Tragödiendichters steht zu lesen: »Gefickt ja gefickt wurde die Fotze römischer Bürgerdamen mit den Beinen auseinander und dabei gab es keine andern Schreie außer sehr süßen und dankbaren.« Hin und wieder begegnet ein Dichterzitat, in Ansätzen gibt es auch eigene Dichtversuche, doch zur Hauptsache wird nur einfach in schlichtem Alltagsjargon festgestellt, was gerade eben an dieser Stelle der Erde der Fall gewesen ist. Weisheiten werden an diesen Mauern, anders als in der römischen Epigrammatik, nicht verbreitet. Nichts Besonderes also, aber doch in jedem Fall etwas Einmaliges. Im Jahr 79 ist Pompeji durch einen Vulkanausbruch vollständig zerstört worden und blieb danach für lange Zeit verschüttet. Die vielen Inschriften, die bei späteren Ausgrabungen auf den Trümmerstücken gefunden wurden, wirken heute wie hochgemute Grabsprüche. Soviel Glück war wohl selten – dass zumindest in Schriftform etwas davon über die ultimative Katastrophe hinaus wirksam bleiben konnte. Mögen die einst so glücklichen Pompejaner in Frieden ruhn! Oder – wie der Vulgärlateiner sagt: REQUIESCANT IN PACE. – Ich sehe das alles gleichzeitig aus der Vogel- und aus der Froschperspektive, sehe, dass mein ausgedehnter Weg in Form einer liegenden Acht in den Oberwald eingelassen ist – zwei Schlaufen, in Tränenform zugespitzt auf eine gemeinsame Mitte. Kein Aufbruch, kein Rundgang, ohne dass ich Diana und ihrem kläffenden Spitz begegnete. Wie jetzt wieder. Ich freue mich jedes Mal, wenn sie zwischen den Stämmen hervor auf den Weg tritt … mir in den Weg tritt, und jedes Mal ist es mir, wie jetzt wieder, ein wenig peinlich – auch diesmal ist sie perfekt geschminkt und gekleidet, ich selbst bin mit nacktem verschwitztem Oberkörper und einer zerschlissenen Jeans unterwegs. Kurz, wie üblich, grüßen wir einander, nein, ich füge halb belustigt, halb verzweifelt hinzu: Offenbar können wir einander nicht vermeiden! Und sie: Vielleicht sind wir füreinander bestimmt? Dabei lässt sie mit wegwerfender Geste ihre Kampfschildkröte von der Leine, die sich sofort wütend in meine Achillessehne verbeißt. Aber wie komme ich nun nach Haus? Das Tier hängt schwer an meinem rechten Fuß. Es gibt keine Flucht, schon gar keinen Flug! Hier … jetzt wache ich auf, es ist halb vier Uhr nachmittags. – Reclams Universalbibliothek ist in meiner Küche – in dem Regal, wo sonst die Gewürz- und Konfitüregläser stehn – mit gut dreihundert Heften in Gelb und Orange vertreten. Obwohl das alles noch keineswegs ausgelesen ist, besorge ich mir immer mal wieder einen Schwung neuer Titel, vorzugsweise zweisprachige Textausgaben antiker Autoren. Mit der jüngsten Lieferung kam unter anderm, frisch ab Presse, ein Reader mit ›Briefen einer antiken Philosophin‹, Theano, ein Namen der mir zuvor nicht begegnet war. Der Literat und Übersetzer Christoph Martin Wieland hat sie, wie ich dem Vorwort des Herausgebers entnehme, 1789 in einer Abhandlung über ›Die Pythagorischen Frauen‹ für die Neuzeit entdeckt und mit hohem Lob bedacht. Nur wenig ist von Theanos philosophischen Briefen erhalten geblieben, doch es gibt, von Zeitgenossen wie von Nachgeborenen, mancherlei Aufzeichnungen über sie wie auch Zitate aus ihrem schmalen Werk. Theano gehörte als eine von siebzehn Frauen – unter 218 Männern – der Schule des Pythagoras von Samos an, der im 6. vorchristlichen Jahrhundert in Unteritalien tätig war; sie soll aber nicht bloß die Schülerin, sondern auch die Geliebte oder die Frau des berühmten Gelehrten gewesen sein und von ihm zwei Kinder gehabt haben, den Sohn Telauges, die Tochter Myia. Theanos Schriften und Reden sind geprägt von einer vielleicht typisch weiblichen Sorge und Sympathie für den nächsten Menschen, für Bedürftige, für Sklaven, für Kinder und, nicht zuletzt, für die Frauen. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gehörten zu ihren Grundforderungen, die sie in ständiger Wiederholung, aber ohne jede Militanz öffentlich verlautbarte. Dass sie die Gleichstellung der Geschlechter mit freiwilliger Unterordnung der Frau in Bezug auf männliche, vor allem sexuelle Bedürfnisse problemlos zusammendachte, mag heute befremdlich wirken, wird von ihr aber so würdevoll und souverän vorgetragen, dass keinerlei Peinlichkeit aufkommt: Die weibliche Willfährigkeit wird hier zu einem geradezu sakralen Akt im Interesse der Natur aufgewertet. »Was ziemt sich für eine Frau? Ihren eigenen Mann zu erfreuen!« Oder: »Wie erhältst du hohes Ansehen? Fleißig die Spindel drehend und des Ehebetts wartend.« In all ihren diesbezüglichen Aussprüchen und Empfehlungen besteht Theano darauf, dass ausschließlich der eigene Mann, der Gatte und der Vater der Kinder, solche »Wartung« verdient. Einzig in ehelicher Liebe kann demnach Sexualität bedenkenlos und schamlos ausgelebt werden. Nach ehelichen Orgien bleiben die Geschlechtspartner, anders als in freien oder käuflichen Beziehungen, »rein« und können auch gleich wieder an religiösen Zeremonien teilnehmen: »Nach wie vielen Tagen ist eine Frau vom Geschlechtsverkehr mit einem Mann wieder rein und kann an den Thesmophorien teilnehmen? Von ihrem eigenen Mann sofort, von einem andern nie.« Der oftmals rapportierte Spruch wird gelegentlich auch dem Pythagoras zugeschrieben, stimmt aber mit Theanos Tugendvorstellungen voll überein … stimmt überein mit ihrem Emanzipationskonzept, wonach die Frau als Ehefrau – und nicht im Alleingang oder beim Fremdgehn – zu ihrer Freiheit und Erfüllung, zu ihrer optimalen Entfaltung kommt: »Einer Frau, die zu ihrem eigenen Mann gehen wollte, riet sie, zusammen mit der Kleidung auch ihre Scham abzulegen, und wenn sie weggehe, die Scham wieder anzulegen. Als sie gefragt wurde: Welche Kleidung?, sagte sie: Die, derethalber ich Frau genannt werde.« Demnach sollte die spezifisch weibliche Kleidung nicht nur die Frau als Individuum, sondern auch generell als Geschlechtswesen auszeichnen, und dies in einem Ausmaß – besser: mit einer Intensität –, die Kleidung und Körper in eins setzt. Was dies mit Bezug auf die von Theano vergegenwärtigte Szene praktisch bedeutet, lässt sich heute schwerlich konkretisieren. Welche Kleidungsstücke galten damals als Signifikanten von Weiblichkeit, und … oder umgekehrt: Welche Kleidungsstücke durfte, wollte, musste eine Frau in der Hochzeit des Pythagoreertums tragen, um ihr Geschlecht – ihre Scham – zu verhüllen und sie gleichzeitig zu erkennen zu geben? Direkt auf dem Körper getragen wurden lange Tuniken (griech. chiton), also weite, von den Schultern frei herabwallende Gewänder, die bei Frauen bis zu den Knöcheln, bei Männern bis unter die Knie reichten. Außer der Länge dieser Kleidung war auch deren Raffung ein geschlechtsspezifisches Unterscheidungsmerkmal: Männer trugen dafür einen Hüftgürtel, Jungfrauen und Ehefrauen ein Stoffband, das die Tunika unter der Brust zusammenhielt. Was die Frauen nun aber, gemäß Theanos Ratschlag, als ausschließlich weibliche Kleidungsstücke abzulegen hatten, um zugleich ihre Scham abzulegen, bleibt unklar; klar ist nur, dass bei der sexuellen Begegnung abgelegt werden sollte, was ansonsten in der sozialen Normalität obligat war. Wenn Theano die Liebe als »Leidenschaft (griech.: pathos) einer müßigen Seele« bezeichnet, erfasst sie sehr feinsinnig – mit einem rhetorischen Paradoxon – deren Ambivalenz, wenn nicht deren Nichtigkeit: Wie sollte sich denn eine »müßige« Person immer wieder zu sexueller »Leidenschaft« zusammenreißen? Der Spruch könnte also unterschiedlich verstanden werden … könnte bedeuten, dass Liebe ein äußerst seltenes Phänomen ist; dass Liebe größte Anstrengung erfordert; dass sich Liebe bloß als ephemere Erregung manifestiert; oder auch: dass es Liebe nicht gibt. Von solcher Ambivalenz ist auch Theanos meistzitierter Spruch geprägt: »Theano entblößte ihren Arm, als sie ihr Gewand umwarf. Als einer sagte: Ein schöner Ellenbogen!, sagte sie: Aber kein öffentlicher!« Das erinnert prospektiv an den feministischen Slogan: »Mein Bauch gehört mir!« Macht sich aber, wer eine Frau für ihren schönen Ellenbogen hochleben lässt, der sexuellen Belästigung schuldig? Steht der Ellenbogen, als Angelpunkt zwischen Ober- und Unterarm, bildhaft für die weiblichen Schenkel und das Geschlecht? Was heißt … was bedeutet in diesem Fall »schön«? Mit ihrem »aber« konterkariert Theano die eher ungewöhnliche ästhetische Qualifikation des Ellenbogens, bringt ihn in eine ethische Perspektive. Statt zu sagen: »Mein Ellenbogen gehört mir!«, erklärt sie ihn ex negativo als nicht öffentlich. Wer ihn zu sehen bekommt, wie und wofür sie ihn einsetzt, was sie sich im privaten Raum gefallen lässt, will sie selbst entscheiden. Die Art und Weise, wie sie ihren Ellenbogen rhetorisch der Öffentlichkeit entzieht und zugleich andeutet, dass sie dessen »Schönheiten« anderweitig durchaus einzusetzen weiß, macht ihre geistesgegenwärtige Erwiderung zu einem diskreten verführerischen Appell. Mit Pythagoras und den Pythagoreern ließe sich Theanos Statement als ein Akt von Tapferkeit qualifizieren: »Wussten sie doch, Tapferkeit sei das Wissen darum, wovor man zu fliehen und wem man standzuhalten habe, so wie es das rechte Denken eingibt.« Für das »rechte Denken«, das sich auch als richtige Handlung bewähren muss, ist Theanos Satz vom Ellenbogen sicherlich nicht weniger relevant als der pythagoreische Satz vom rechtwinkligen Dreieck; doch in die Schulbücher ist nur dieser eingegangen, während jener noch immer zu entdecken bleibt – als Imperativ zu einer Lebensführung, die in der Selbstbestimmung ihren zugleich tieferen und allgemeinen Sinn gewinnt. – Ein Tief bugsiert das nächste über die Gegend hinweg, die Frische tut gut, die Böen sind lästig, meine alten hölzernen Fensterläden klappern Tag und Nacht, die Migräne regt sich, ist ständig auf dem Sprung, kann jederzeit zuschlagen. Die Arbeit am Roman stagniert, ich habe vieles umgeschrieben, einiges weggekürzt, anderes dazugeschrieben, möchte gewisse Erzählstränge »unter den Strich« verlegen, sie also auf Fußnotenniveau in unterschiedliche Richtungen vorantreiben und damit aus der Linearität der Handlung ausbrechen. Ob’s gelingt? Lieber würde ich heute ein Gedicht, einen Essay schreiben, die Wohnung putzen, im Garten arbeiten, zum Einkaufen nach Lausanne fahren – nur um nicht bei Potocki … um nicht beim Roman bleiben zu müssen. – Vortrag von Elisabeth Roudinesco im Genfer Seminar von Vincent Kaufmann über die Anfänge des Lacanismus. Die Referentin berichtet lebhaft von ihren eigenen Lehrjahren und Lebenserfahrungen im Klima des Kalten Kriegs, der Jugendbewegungen, des »revolutionären Widerstands«; sie erinnert sich: »Ces disputes, ces conflits – se disputer des nuits entières sur un vers de Mallarmé –, c’est beaucoup mieux que de lire les âneries qu’on appelle aujourd’hui littérature.« Zu deutsch (von mir übersetzt, bestätigt und unterschrieben): »All jene Dispute und Konflikte – die nächtelangen Diskussionen um einen einzigen Vers von Mallarmé – , das ist doch wesentlich besser, als die Eseleien zu lesen, die man heute als Literatur bezeichnet.« Das ist pauschal und provokant formuliert, doch als Ausrufezeichen hat es – was ich bedaure – seine Berechtigung. – Zusatz: Bis heute werden die Gelegenheitsgedichte von Stéphane Mallarmé unterschätzt. Ich denke an seine Fächergedichte und vor allem an die rund einhundert Briefpostgedichte, die er über viele Jahre hin aus den Adressen (Anschriften) seiner Korrespondenten entwickelt hat – streng gereimte, mit spielerischem Ernst komponierte Vierzeiler, denen der Pomp seiner spätsymbolistischen und quasireligiösen Dichtungen völlig abgeht. Das sprachliche Rohmaterial dieser Strophen besteht im Wesentlichen aus Eigen- und Ortnamen (Empfänger, Adressen) sowie – in Worten – aus Zahlen (Hausnummern usf.), und daraus fügt er, Stück um Stück, eine lange Reihe von zumeist formvollendeten, gleichwohl legeren, manchmal frivolen, amüsanten und abgründig intelligenten Mikropoemen. Hier eine Briefnachricht an den Dichter José Maria de Hérédia, wohnhaft in der Rue Balzac 11 in Paris: Apte à ne point te cabrer, hue!
aaaaaPoste et j’ajouterai: dia!
aaaaaSi tu ne fuis 11 bis, rue
aaaaaBalzac chez cet Hérédia.
– Zu übersetzen sind diese sprachspielerischen Vierzeiler kaum, weil hier ein Wort das andere gibt … weil aufgrund klanglicher Assoziationen ein Wort aus dem andern gleichsam entspringt, was aber naturgemäß nur innerhalb der französischen Sprache möglich ist – im Deutschen, wie in jeder andern Fremdsprache, müssten die Strophen mit entsprechenden Vorlagen nach dem Verfahren Mallarmés völlig neu nachgebaut werden. Die Briefpostgedichte sind im Übrigen ein starkes Beispiel dafür, dass – und in welcher Weise – aus beliebigen Vorgaben und bei extremen formalen Einschränkungen Poesie geschaffen werden kann. Aus meinem eigenen Namen und meiner eigenen Postadresse komponiere ich versuchsweise den folgenden Vierzeiler: Macht in Gold von Herzen Kasse
aaaaaDieser Herr in Nummer Sechs
aaaaaZog viel lieber durch die Straße
aaaaaUm die runde Ecke jäh nach rechts.
Oder so ähnlich! – Ich habe mit meiner Schwester Krys eine Städtereise gebucht und bin ungewollt auf tiefstem Niveau gelandet. Wir bewegen uns, interessiert und zugleich angewidert, durch das Rotlichtmilieu einer Großstadt, das ein einziger Erotikmarkt zu sein scheint. Massenhaft Leute, die herumschreien, herumsaufen, sich auf die Schenkel klopfen, sich zwischen die Beine greifen. Nüchtern scheinen allein die Nutten zu sein, vorwiegend nette, kaum geschminkte Durchschnittsfrauen, die uns freundlich und völlig unaufdringlich durch die Bordelle führen. Die meisten Zimmer (alle unbesetzt) sind eng, spießig eingerichtet wie die Sterbekammern von Exit, kreisartig angeordnet um eine Wendeltreppe herum, so dass ich vermute, dass Türme die bevorzugten Liegenschaften der Bordellbesitzer sind. Der eigentliche Betrieb geht aber in den Kneipen und Bars ab. Das Feiern und Blödeln nimmt kein Ende, die Zeit vergeht, wir müssen an die Rückreise (letzter Zug ab Westbahnhof) denken. Doch niemand außer mir hat das Bedürfnis, sich aus diesem Hexenkessel abzusetzen. Ich treffe noch ein paar flüchtige Bekannte aus der Schul- oder Studienzeit (Bodo Kirchhoff? Maxim Biller?), keiner will mitkommen, alle sagen, es gebe um diese Zeit – drei Uhr früh – ohnehin keine Taxis mehr. Mit meiner Begleiterin, die wie ein grauer Schatten in meiner Nähe bleibt, sich aber nie bemerkbar macht, durchweg schweigt, einfach mitgeht, sehe ich mich gleichwohl nach einem Taxi um und stelle fest, es gibt deren mehr als genug. Dennoch dauert es eine Weile, bis ein Wagen anhält. Eine jugendliche Fahrerin stößt von innen die Tür auf, lädt uns zum Einsteigen ein. Das Interieur des Taxis ist mit rotem Samt ausgeschlagen, auch die Polster sind rot, an den Wänden gibt es schmale Vasen mit künstlichen Blumen, sieht aus wie eine Opernloge … so sind die Taxis in Tokio nun einmal ausgestattet. Die Frau bietet uns gleich etwas zu essen an, aus dem CD-Schlitz der Stereoanlage zieht sie eine winzige Pizza, ich bin ebenso perplex wie meine Begleiterin, lasse mir aber nichts anmerken. Nun beginnt eine weitläufige Fahrt durch verschiedene Stadtteile und Vorstadtgebiete, ich vermute, die Lenkerin will uns hinhalten und durch das endlose Kreisen den Preis in die Höhe treiben. Die Orientierung habe ich längst verloren, keine Ahnung, wie weit es bis zum Bahnhof ist, die Fahrerin, die ich mehrmals danach frage, gibt keine Auskunft, steuert dann aber einen Bahnhof ihrer Wahl an, von dem aus man, wie ich weiß, nur nach Bayreuth fahren kann. In diesem Moment sehe ich vor uns in weiter ferne den Westbahnhof, der wie ein überdimensionierter Ozeanriese im Häusermeer steht, doch dahin werden wir nicht mehr rechtzeitig kommen können. Ich beschimpfe die Fahrerin, treibe sie zum Schnellfahren an, doch als wir den Bahnhof erreichen, ist es bereits zu spät für den letzten (oder ersten?) Zug nach Hause. Ich greife nach dem Portemonnaie, erwarte einen enormen Fahrpreis, bin dann erstaunt, dass die Chauffeuse von sich aus den Preis herabsetzt und sich mit einer lächerlich geringen Summe begnügt. Sie verabschiedet uns, wir schlendern durch das Bahnhofsareal, suchen einen Restaurantplatz, kommen schließlich in einen großen Speisesaal, wo für jedes Menü ein Schalter offengehalten wird. Ich möchte ein leichtes Omelett bestellen, der Schalterbeamte holt ein solches aus der Schublade, stellt es in einem ovalen Teller vor sich hin, beginnt es abzuschmecken, beschneidet die angebratenen Ränder, kostet ein wenig davon und gibt uns zu verstehen: Dieses Angebot ist ungenießbar. Ich erwache (im Traum) in meiner Studentenbude, am Boden steht mein Braunradio mit laufendem Grammophon, am Fenster – nach außen gelehnt und mir den Rücken zukehrend – ein älterer schwerer Mensch (Strauss-Kahn? Angela Winkler?), doch nun ruft Mutter zum Frühstück. Ich geh nach unten in die Küche, begegne auf der Treppe meiner grauen Begleiterin und frage sie (im Traum): Was hast du geträumt?TV-Bilder aus dem burmesischen Katastrophengebiet, aufgenommen von der Ladefläche eines offenen Lastwagens – Hilfsgüter werden wahllos auf die Straße geworfen, die gesäumt ist von Überlebenden, Verletzten, Hungernden; wer kann, stürzt sich in die Staubwolke, die der Wagen aufwirbelt, und es beginnt der Kampf um die lebensnotwendigen Waren. Die Schnelleren – meist Kinder – schnappen sich soviel sie können, dann schlagen die Stärkeren zu und nehmen ihnen die Pakete ab. Die Stärkeren sind’s, hier wie überall, die zuletzt den Besitz, die Macht, das Wissen, das Sagen haben – Recht haben sie dennoch selten, aber jedenfalls nehmen sie es sich und behalten es auch. In sublimierter Form wird diese anthropologische Konstante hierzulande auch von der Werbung genutzt, die ja in der Regel nicht das fördert, was Förderung bräuchte, sondern das, was ohnehin oben ist. Dieses Prinzip gilt auch im Literaturbetrieb. Werbemittel werden nur dort eingesetzt, wo der »Erfolg vorprogrammiert« oder bereits sichergestellt ist – wann hat man Verlagswerbemaßnahmen zur Förderung von »schwierigen«, mithin schwer verkäuflichen Nischenprodukten gesehen? Rechnet sich nicht! – Vor Zeiten hat Gerhard Rühm die Tränenform des Erdballs, nein, nicht festgestellt, er hat sie gefordert. Maximalforderung eines Dichters, schön romantisch, aber zu erfüllen nie. Doch vielleicht wäre sie aufrecht zu erhalten in Bezug auf »unsere Welt« insgesamt, nicht also auf den Globus als geologisches Gebilde, eher auf die Gesamtheit der Welten, der physischen wie geistigen, in die wir involviert, von denen wir abhängig sind, die wir hegen, um sie – wie uns selbst – auszubeuten. Dieses Weltgebilde könnte man sich … kann ich mir durchaus als eine gigantische Träne vorstellen, transparent und … aber stellenweise trüb, vielfach in sich selbst verspiegelt und immer wieder neue … herrliche … furchtbare Bilder durchscheinen oder aufblitzen lassend. – Weit verbreitet ist der Horror, allein zu sein, und sei’s auch bloß für ein Weekend, der Horror, plötzlich keine Anrufe mehr zu bekommen, keine Werbung, keine Bankauszüge, keine Todesanzeigen. Vor solchem Horror ist gefeit, wer das Alleinsein als Lebensform wählt; gefeit aber nur, wenn die Einsamkeit kein Exerzitium ist, durch das irgendetwas abgegolten werden muss. Gefeit, wenn es – die Wüstenväter sind fern, die Klosterfrauen nicht zahlreich genug − gelingt, das Alleinsein als Gewinn, auch als Lustgewinn zu verbuchen, und nicht als Defizit des zur Sozialität bestimmten … des zur Sozialität verdammten Menschen. Wer sich allein fühlt, leidet an unmenschlichen Entzugserscheinungen, die zutiefst menschlich sind. Wer allein sein will, hat vielleicht begriffen, dass zwei Augen mehr sehen können als vier, und er kann … und er muss – um endlich doch noch Mensch zu werden – ein unmenschliches Leben leben, ein armes, ein reiches Leben, in dem nichts zu wenig, nichts zu viel ist. – Wie viele Arten, Pflanzen wie Tiere, Sprachen wie Gebräuche, sterben hienieden täglich aus? Die Artenvielfalt ist weltweit bedroht, die Erde aber noch immer so reich, dass kaum jemand es wahrnimmt. Auch wird Verlust an Vielfalt mehrheitlich positiv mit dem Gewinn an Einheitlichkeit verrechnet. Auf Vereinheitlichung läuft doch manches, fast alles hinaus, Globalisierung ist das Leitwort dafür, Union, Fusion, Übernahme, Ökumene, Gleichstellung, Integration sind die gängigen Unterbegriffe. Durch den »Bolognaprozess« wurde und wird das gesamteuropäische Bildungswesen unifiziert, durch die EU werden Zollauflagen, Käsesorten, Kartellbestimmungen und … oder die Form von Bananen, die Farbe der Äpfel reguliert, vereinheitlicht und damit allgemein geltenden Normen unterworfen, was Abweichungen, egal in welche Richtung, ausschließen soll. Die Norm schützt ausschließlich das Mittelmaß, Normanwendung hat immer den Ausschluss des Besonderen zur Folge, den Ausschluss dessen, was zu wenig Nutzen, zu viel Aufwand bringt, oder auch dessen, was nicht ohne Weiteres quantifizierbar ist, nicht genau abzuschätzen nach Gefahr und Risiko und möglichem Gewinn, und schließlich dessen, was nicht medioker genug ist, um mehrheitsfähig zu sein. Dass diese machtvolle, vielleicht unaufhaltsame Tendenz zur (wie auch immer benannten und gerechtfertigten) Normalisierung längst auch den internationalen Literaturbetrieb erfasst hat, ist durch die global unifizierte belletristische Produktion eindrücklich belegt und wird noch forciert durch die ebenfalls international vereinheitlichten Lehrpläne unzähliger Literaturinstitute und Schreibwerkstätten. Eine Folge davon scheint, unter anderem, die leicht beobachtbare Tatsache zu sein, dass nicht nur die Literaturproduktion insgesamt, sondern auch die Literaturproduzenten im Einzelnen, also die Autoren in Person, von diesem Unifizierungsdruck mehr und mehr geprägt sind. Denn bereits ist überdeutlich der Schwund stilistischer »Artenvielfalt« zu erkennen, anders ausgedrückt: die Unfähigkeit, vielleicht auch bloß der Unwille der meisten Autoren, sich bei der Arbeit an und mit unterschiedlichen Textsorten auch unterschiedlicher Register zu bedienen. Seit geraumer Zeit schon ist zwischen narrativen und diskursiven, poetischen und poetologischen Texten kaum noch ein merklicher Unterschied auszumachen. Ob ein Autor, eine Autorin Lyrik schreibt oder über Lyrik sich vernehmen lässt – die Intonation der Verse und Sätze, die Metaphorik und die Begrifflichkeit, die Rhetorik insgesamt bleibt im Wesentlichen einheitlich, wird also kaum noch differenziert nach Maßgabe ihres Gegenstands oder ihrer Intention. Ein Gleiches gilt für den Essay beziehungsweise die Erzählung sowie, auf anderem Plan, für den Werbetext und die Rezension, durchaus unterschiedliche Textsorten mithin, die sich aber in der aktuellen Praxis mehr und mehr angleichen. Mir jedenfalls fällt es schwer, bei Dath oder Handke oder Hettche oder Strauß oder Zeh einen Registerwechsel zwischen literarischem und essayistischem Schreiben festzustellen. Nicht dass ich das kritisieren möchte; ich bedaure nur, dass auch hier, wo es doch um mehr als um bloße Information geht, die Vereinheitlichung der Vielfalt vorgezogen wird. Gegenbeispiele dazu gibt’s zur Genüge, doch muss man schon recht weit zurückgreifen, um sie namhaft zu machen – Ossip Mandelstam, Paul Valéry, Gottfried Benn, Hermann Broch, Vladimir Nabokov, Helmut Heißenbüttel und eben noch Alain Robbe-Grillet oder Joseph Brodsky. Jede Sprache bietet sich als Vielfalt dar, besteht aus mehreren Sprachen, hat viele Stilregister zur Verfügung, lässt manche Textsorten zu; die daraus sich ergebenden Ausdrucksmöglichkeiten differenziert zu nutzen, sollte – finde ich – ein vorrangiges literarisches Interesse sein. Dieses aber – fürchte ich – wird der progressiven »Normalisierung« der Sprachkultur nicht gewachsen sein.

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