13. Februar

Konzert mit dem Trio Leimgruber im Jazzlokal Moods; der Bassist Phillips tritt an die Rampe, sagt: »Today we have independence of Kosovo, in three days we’ll have full moon, and then we’ll go to the cinema …« Folgt eine gute Stunde monotoner Geräuschentfaltungen, alle drei Instrumente – p, s, b – werden primär als Rhythmus- beziehungsweise Schlaginstrumente eingesetzt, alles Melodische weitgehend unterdrückt, daraus entsteht eine Intensität, die sich immer wieder zum Krampf steigert und im Krampf dann auch verloren geht. Musik, auf Geräuschhaftigkeit reduziert; Musik, die sich jeder Einfühlung widersetzt. Dennoch höre ich hin. Kaum ein Ton antwortet dem andern, Erinnerung und Erwartung kommen nicht zum Zug. Alles Symphonische, Harmonische wird unterdrückt, und überhaupt könnte man … würde ich sagen: So quietscht es, rasselt, schmatzt, pfeift, kreischt es, wo Musik unterdrückt wird. – Langsames Auf- und Abtauen nun wieder, die trockene luzide Kälte löst sich nach obenhin auf, der Schnee wird matschig und grau, in kleinen Resten hockt die Weiße auf Simsen, in Astgabeln, auf Dachfirsten und Balkongeländern. Schade. Die strenge winterliche Kälte gefällt, weil sie Klarheit und Differenzen schafft, weil sie die Zeit anzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen scheint, weil sie Verschmelzung und voreilige Synthesen verhindert. – Auf Youtube finde ich zwei neuere Videos von und mit Regina Lund. Das eine führt eine kammerspielartige Inszenierung vor. Eine Geschäftsfrau mittleren Alters, hochelegant gekleidet und sorgfältig geschminkt, kommt über Mittag ins Hotel, legt ihren Mantel, ihren Schal ab, zieht die hochhackigen Schuhe aus, löst ihr Haar und schüttelt es energisch auf. Im Spiegel steht derweil ein junges, eher unscheinbares Mädchen, sieht ihr bei der Auflösung zu, tritt lächelnd aus dem Schatten, umarmt die Schöne, bis beide in leidenschaftlichem Kuss aufs Bett fallen, sich ohne Hast ausziehen, um nun bis zum Orgasmus sanft aufeinander einzugehn. Die Kleine schläft nach der Erregung friedlich ein, ein scheues Lächeln hält sich auf ihrem Gesicht. Von ihr unbemerkt steht ihre Herrin, die auch ihre Mutter sein könnte, aus den Laken und Decken auf, geht auf Zehenspitzen ins Badezimmer, wirft einen liebenden Blick zurück auf die Schlafende. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, hört man minutenlang Wasser laufen, sieht dann, wie das Mädchen langsam aus ihrem Traum erwacht, sich vergewissert, wo sie ist und warum sie da ist, wo sie ist, bis auch sie das laufende Wasser hört, aufsteht, mehrmals leise nach ihrer Geliebten ruft, dann die Badezimmertür öffnet und die Tote mit aufgeschnittenen Handgelenken in der überlaufenden Wanne liegen sieht. Das unerwartete blutige Ende kontrastiert heftig mit der gepflegten, zum Kitsch tendierenden Szenerie, künstlerisch und schauspielerisch ist das Video unerheblich, psychologisch immerhin dadurch von Interesse, dass hier tatsächlich ein Freitod vorgeführt wird, eine Selbsttötung frei von irgendwelchen äußern oder innern Zwängen, souverän entschieden, ohne Furcht, ohne Zweifel und Verzweiflung, ein Abgang im Vollbesitz von Kraft, Schönheit, Lebenslust, mithin ein energischer Schlussakkord, der keinerlei Zeichen setzen soll … der nichts anderes sein will als Beglaubigung des Lebens. – In dem andern Video sieht man … präsentiert sich Regina Lund auf einem Beobachtungsschiff von Greenpeace in norwegischen Gewässern – sie ist Teil des Teams, trägt eine Strickmütze, eine wattierte Windjacke, zerschlissene Jeans, hohe Stiefel; ihr Gesicht ist von der böigen Kälte gerötet, wer sie aus ihren Filmen kennt, würde sie so nicht erkennen – eine beliebige Frau, freundlich, spontan, dabei enthusiastisch engagiert für die von Greenpeace vertretene Sache. Unvorstellbar, dass ein Mann zu solcher Verwandlung … zur Verwandlung ins Eigene fähig sein könnte. In ihren Videos tritt die Lund jedes Mal neu, jedes Mal anders, jedes Mal als sie selbst an – Managerin, Mörderin, Verführerin, Sängerin, Agentin, Nutte, Komikerin oder extravagantes Model: lauter Rollen, die sie sich auf den Leib schreiben lässt, um sich darin, jedes Mal ganz und authentisch, auszuleben. – Was mag ein Autor heute taugen, der auf Wikipedia – in welcher Sprache auch immer – keinen eigenen Eintrag hat und von dem via Amazon kein einziger Titel lieferbar ist? Um einen solchen Autor handelt es sich im Fall des Philosophen Nicholas Bachtin, dessen Biographie – 1894 bis 1950 – sich nur der Spur nach ermitteln lässt und dessen Werk bis vor kurzem selbst unter Spezialisten gänzlich unbekannt war. Allerdings gibt es (auch mir ist es entgangen) schon seit geraumer Zeit zwei autoritative, bisher kaum beachtete Quellen, die zumindest punktuell über Bachtin als Person Auskunft geben. Die erste dieser Quellen findet sich in der Umgebung Ludwig Wittgensteins und ist auf die mittleren 1930er Jahre in Birmingham und Cambridge zu datieren. Nach dem Zeugnis von Fania Pascal gehörte Bachtin damals, neben Francis Skinner, zum engsten Freundeskreis des Philosophen, der ihn als anregenden Gesprächspartner und kundigen Berater in »russischen Dingen« schätzte. Von Bachtin ließ sich Wittgenstein in die russische Kultur einführen, vor allem in die klassische Literatur seit Puschkin, mit ihm las er russische Lyrik, diskutierte über Dostojewskijs ›Schuld und Sühne‹, führte aber auch endlose philosophische Debatten über Themen und Probleme unterschiedlichster Art. Constance Pantling, Bachtins Ehefrau, bestätigt: »Wittgenstein hing an Bachtin.« – Nicholas Bachtins Denken allgemein und exemplarisch zu charakterisieren, fällt schwer angesichts der polemischen Radikalität seiner Thesen und der Vielfalt seiner Interessen, die von Altägypten und Altgriechenland über die Sprach-, Mythen- und Musiktheorie bis zu den modernen Naturwissenschaften, zur Medizin und Psychiatrie, zum Theater und zum Sport reichen. Die thematische Diversität bringt ihn nicht davon ab, mit staunenswerter Konsequenz an seiner von Beginn an hochgehaltenen Forderung nach einer in der Lebens- und Körpererfahrung begründeten Philosophie der Tat festzuhalten, und zwar in striktem Gegenzug zu romantischen, symbolistischen, existentialistischen, psychologischen und, mehr noch, tiefenpsychologischen Konzepten, bei denen das menschliche Ich und dessen »innere Welt« im Vordergrund stehen. Mit diesem vitalistisch-voluntaristischen Ansatz bringt sich Bachtin nicht nur mit der traditionellen Schulphilosophie in Konflikt, er muss auch Grundpositionen der Moral und Ästhetik, ja sogar – hierin nicht weniger radikal als Fjodor Dostojewskij – die »Vernunft« und selbst das »Bewusstsein« als lebensfeindlich in Frage stellen. Das Paradoxon ist seine bevorzugte Denkfigur – den Tod feiert er als Apotheose des Lebens; Vollkommenheit ist für ihn gleichbedeutend mit Unfreiheit und Stagnation; den Kampf auf Leben und Tod hält er für die reinste Form der Selbstverwirklichung. Freiheit sei dadurch zu gewinnen, dass man souverän auf Freiheit verzichte. Und: Im freiheitlichen Akt behauptet sich das Ich durch Selbstaufgabe im Interesse der Sache, für die es eintritt, in der es sich auflöst. Selbstbehauptung durch Selbstaufgabe. Noch dezidierter, wenn nicht gar schockierend ist Nicholas Bachtins Apologie der Fremdenlegion als Schule der Selbstbehauptung. Im Rückblick auf seine eigene »lebendige Erfahrung« als Legionär in Algerien, glaubt er im »Militärkloster« mit seinen mörderischen Existenzbedingungen das Modell für eine optimale Lebensführung und für ganzheitliche Selbstbehauptung zu erkennen. Jede Lebensregung ist hier die Folge einer bewussten Entscheidung, nichts bleibt dem Zufall, nichts der spontanen Reaktion überlassen, und jedes Mal steht eine klare Verzichtleistung einer unklaren Gewinnchance gegenüber. Bei vielen Entscheidungen muss der eigene Tod in Kauf genommen, der fremde Tod einkalkuliert werden. Bachtins Belobigung der Fremdenlegion bietet im Übrigen ein weit über das »Militärkloster« hinausweisendes Interesse insofern, als darin die europäische Idee in umgekehrter Perspektive auf wohl erstmalige Weise zum Tragen kommt. Wenn heute die Einwanderungsströme aus dem Balkan und aus Nordafrika für die Europäische Union zu einem schwer beherrschbaren Problem werden, sollten wir nicht vergessen, dass es einstmals auch die umgekehrte Migrationsbewegung gegeben hat. Hunderttausende von Europäern – Deutsche, Polen, Bulgaren, Serben, Russen – haben sich zur Zeit des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolutionswirren nach Marokko und Algerien abgesetzt, um in der Fremdenlegion eine neue »Heimat«, eine neue Lebensgemeinschaft und eine gemeinsame Lebensaufgabe zu finden. Bachtin unterstreicht die grundlegende Tatsache, dass es sich bei diesen Migranten durchweg um »von Europa ausgestoßene Elemente« gehandelt habe, die durch Krieg, Revolution, soziale Unrast oder Verbrechertum in die »Militärklöster« der Legion eingetreten sind und dort vorurteilsfreie Aufnahme gefunden haben – weder nationale Antagonismen noch Religions- oder Rassenhass hatten hier einen Platz, keiner wurde nach seiner Vorgeschichte gefragt, und jeder hatte die gleiche Chance, sich als neutrales »Material« auf strikt vorgegebenem Dienstweg in die hochstrukturierte und hierarchisierte »Form« dieser einzigartigen Institution einzubringen: »Die Legion hat sie nicht nur von ihrer Gesellschaft befreit und ihnen eine Funktion angeboten, sie hat ihnen auch (und dies ist essentiell) die Möglichkeit gegeben, fortzugehen, frei ihren Weg zu wählen und freiwillig neue Verpflichtungen einzugehen

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