22. April

Anruf von Ernst Kux, 87, der auf einen Brief von mir reagiert, in dem ich ihn nach seinen Erinnerungen an Dmytro Čyževskij und Alexandre Kojève frage – er sagt dazu nur zweimal »ach!« und »tempi passati!«, berichtet dann munter von seinen Altersbeschwerden, von seiner erfolgreichen Tochter, die als CEO bei Siemens arbeitet, von seinem Stock, den er vor Jahrzehnten in Harbin aus Kirschholz hat fertigen lassen und der immer dabei ist, wenn er am See spazieren geht, an der Universität eine Abschiedsvorlesung oder in der Oper eine Premiere besucht. Kux belobigt das fortschreitende Vergessen als Wohltat des Alters, weiß das Alleinsein zu »ästimieren« (seine Wortwahl), reserviert täglich drei Stunden für die Lektüre, obwohl er alles Gelesene – »die Alten lesen, die Vorsokratiker, die Kyniker!« – sofort wieder vergesse. Der ewig staunende frontale Blick seiner Katze halte ihn wach und stimme ihn menschenfreundlich – menschenfreundlicher, als er’s in Wirklichkeit sei; seine vielen Manuskripte – Reisejournale aus der Mongolei, aus China und Korea, Tagebücher, Werkentwürfe –, dazu Tausende von Fotografien lagerten ungeordnet im Gerätekeller seiner Einzimmerwohnung, aber ja – die Villa an der Goldküste habe er nach dem Tod seiner Frau der Tochter überlassen; aber nein – wozu bräuchte er denn, in seinem Alter, elf Zimmer und eine Doppelgarage? Nur der sanft zum See abfallende Garten mit dem Heckenlabyrinth fehle ihm: »Fehlt mir wirklich! Am meisten fehlt mir das sanfte Abfallen … fehlt mir mehr als der Garten oder der Seeblick …« – Besuch von Krys zum Weekend im Pont Couvert, wohin ich mich zur dritten Durchschrift des Romans (Potocki) zurückgezogen habe; aber ich lasse mich gern stören, da eigentlich nur noch – eben – eine Störung mich aus der Schreibblockade befreien kann. (Oft sind für mich Störungen nicht Ablenkung, sondern Kippmomente, die mir den Übergang aus dem Stillstand in die Schreibbewegung ermöglichen.) Gute Gespräche, langer Waldspaziergang auf vier Füssen und mit vier Augen, dennoch wird meine Strecke nicht länger und mein Gesichtsfeld nicht weiter; eher ist es sogar umgekehrt – zwei Augen sehen mehr als deren vier! Gemeinsames Einkaufen beim Italiener in der Altstadt von Yverdon, doch Krys kann mit dem kleinen dunklen Lädelchen nicht viel anfangen, sie zieht den Supermarkt vor. Rückfahrt über Mathod und Orbe nach Romainmôtier. Krys legt eine mitgebrachte CD mit zeitgenössischen Flötenstücken auf, interpretiert von Eberhard Blum, dann kochen wir gemeinsam zur Musik. Bei Fisch (Forelle aus dem Zuchtbecken der Gemeinde), Fenchelgemüse, Bratkartoffeln berichtet Krys von ihrem aufregenden Job, derweil ich meinerseits nur meine Lektüren rapportieren kann. Dazu gehört die Wiederbegegnung – nach sehr langer Zeit – mit Ernst-Theodor-Amadeus Hoffmann, dessen Spiegelgeschichten aus den ›Serapionsbrüdern‹ ich in diesen Tagen durchgeblättert, teilweise auch gelesen habe, vor allem die musikalischen Novellen, darunter die besonders ingeniös in sich selbst verspiegelte Geschichte von den verpatzten Fermaten. Frage mich übrigens, wie und wieso Hoffmann bei den Russen so ungemein einflussreich werden konnte, da doch seine hochkomplizierte, bisweilen widerborstige Prosa weder dem vorwiegend kolloquialen russischen Erzählstil, noch dem in Russland weitverbreiteten Grundbedürfnis nach existentiellen und religiösen Fragestellungen zu entsprechen vermag. Ich vermute, es ist das generelle Interesse am Unheimlichen einerseits, das spezielle Interesse am Motiv und an der Gestalt des Doppelgängers anderseits, das Hoffmann für russische Literaten wie Nikolaj Gogol oder Fjodor Dostojewskij besonders attraktiv gemacht hat, während die thematische wie stilistische Dominanz des Musikalischen im Hoffmannschen Erzählwerk für den Fürsten Wladimir Odojewskij (in der Novellensammlung ›Russische Nächte‹ von 1844) – und durch ihn für die russische Literatur des mittleren 19. Jahrhunderts prägend geworden ist. – Vexierbilder scheinen weiterhin populär zu sein, in diversen Magazinen haben sie – wie Kreuzworträtsel oder Karikaturen – ihren festen Platz. Eigentlich sollte ja das im Bild versteckte Bild (Gegenstand, Gestalt) durch Drehen und Wenden der Vorlage herausgefunden werden, ich versuche jeweils, an das getarnte Motiv heranzukommen, ohne das vorliegende Bild umzukehren, nur einfach mit Blick auf die Zeichnung und auf darstellerische Besonderheiten wie zum Beispiel falsche Proportionen oder unklare Überschneidungen. Dabei kommt mir der Gedanke, dass das Vexierbild als exakte bildnerische Entsprechung zum Anagramm gesehen werden könnte. Beim Anagramm, das man als Kofferwort bezeichnen könnte, geht es darum, durch mehrfaches Versetzen und Umstellen des vorgegebenen Letternbestands ein Wort zu eruieren, das in die Vorgabe eingelassen ist oder bewusst darin verborgen wird. Durch die Permutation der Buchstaben im Wort »Dorn« kann ich auf das Wort Nord kommen, der Name »Lukas« kann auch für Klaus stehen, das deutsche Wort »Oper« kann das englische rope enthalten usf. Der wesentliche Unterschied zwischen Anagramm und Vexierbild besteht allerdings darin, dass dieses in der Regel eigens hergestellt wird, während jenes immer schon durch die Sprache präsent gehalten wird und lediglich als Anagramm erkannt werden muss. Das Anagramm gibt denn auch … hat denn auch schon immer zu weit mehr Spekulationen Anlass gegeben als das Vexierbild, da es nicht erfunden werden muss, sondern tausendfach aus dem Wörterbuch abgerufen werden kann. Von Platons ›Kratylos‹ über die Kabbala bis zum poetischen Lettrismus und zum spontanen Kalauer kommt das Anagramm immer wieder zur Geltung, und weiterhin wird über die Frage debattiert, ob das Wort im Wort ein Zufallsprodukt ist oder ob es sich dabei um eine sinnhafte Hervorbringung der Sprache selbst handelt. Dass der »Sarg« vollumfänglich (und exakt rückläufig) im Gras steckt – ist das also sprachbedingt oder zufallsbedingt? Ist es bedeutungsträchtig oder nur einfach absurd? Hier muss der Möglichkeitssinn aktiviert, muss die Realität des Virtuellen ernst genommen werden – was nicht ist … was sein könnte, hat als Epiphänomen dessen zu gelten, was wirklich ist; beides, Wirkliches wie Mögliches, gehört gleichermaßen zum Ganzen der Welt.

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