23. Dezember

Krys hat die Sonate von Boris Pasternak eingeübt, sie will sie mir (»und das soll mein Geschenk für dich sein«) an Weihnachten erstmals vorspielen. Dass sie von mir ein Keyboard erhält, weiß sie noch nicht, und wie und ob das etwas schwülstige Frühwerk des Komponisten auf dem Keyboard zur Geltung kommt, bleibt abzuwarten. Schöne … reichlich romantische Vorstellung – wie wir am sogenannten Heiligen Abend im Gartenpavillon unter der Petroleumlampe zusammenrücken und gemeinsam auswürfeln, was – oder wen – wir nun feiern werden. Die Tage zuvor will ich am hiesigen Schreibtisch verbringen, sitze zur Zeit am zweiten Kapitel zu meinem Reiseroman über und mit Jan Potocki, dessen Handlung von einem kollektiven Gamer (»wir«) gesteuert und mit Kulissen und Personal des 18. Jahrhunderts ausgestattet wird. Das Ganze ist angelegt als eine assoziativ ausufernde Nachschrift von Potockis realer Biografie, die durchweg doppelt geführt werden soll – einerseits auf historischer Ebene (dokumentarisch wie auch fiktional), anderseits auf der Spielebene des Monitors, auf der die Handlung, die Figurenkonstellationen, auch einzelne Örtlichkeiten und Objekte nicht nur betrachtet und mitverfolgt, sondern auch verändert, ergänzt, beschnitten werden können. – Der Krimi – ob Roman oder Film – ist mir ganz früh schon als Denk- und Wahrnehmungsschule wichtig geworden. Der Krimi ist, egal ob im Horror- oder Psychoregister, auf streng realistische Darstellung angewiesen, um funktionieren und überzeugen zu können. Eigentlich müssten im Krimi sämtliche Elemente – Örtlichkeiten, Zeitpunkte, Requisiten, Kleidung, Dialoge – so ineinander verzahnt sein wie ein Kreuzworträtsel. Logische Widersprüche und auch bloß beiläufige Ungereimtheiten können das Genre leicht zur Parodie seiner selbst werden lassen. Heute ist dies der Normalfall. In heutigen TV-Krimiserien unterlaufen faktische und dramaturgische Fehler zuhauf, die Kommissarin kann innerhalb einer halben Stunde plötzlich eine andere Haarfarbe, der Kommissar plötzlich einen Dreitagebart tragen; der grade eben mit Fußtritten in den Bauch traktierte Polizist erhebt sich wie ein Stehaufmännchen und nimmt im Tempo des gehetzten Affen die Verfolgungsjagd auf; eine Zeugin, die eben noch dement war und den Untersuchungsbeamten für ihren Mann hielt, weiß plötzlich genau Bescheid über das Vorleben ihrer ermordeten Nachbarin. Usf. Der Krimi gehört seit langem zu den beliebtesten und erfolgreichsten Produktionen der Unterhaltungsindustrie und … aber niemand scheint seinen unaufhaltsamen Niedergang zu bedauern. Der Schwachsinn heutiger Romandetektive und TV-Kriminalisten hat den Spürsinn ihrer einstigen Kollegen – damals noch ohne Handy, ohne Internet, ohne DNA-Analyse – definitiv abgelöst. Doch Schwachsinn muss sein … Schwachsinn ist das, was früher der Sinn war … ist das, was heute als Sinn allemal ausreicht und taugt. – Ich bin unterwegs auf verwüstetem Vorstadtgelände, terrain vague, Trümmer liegen herum, Ruinen ragen hoch, aber es herrscht reger Betrieb in den verfallenen Wohn- und Industriegebäuden. Überm Arm trage ich ein paar Kleidungsstücke, einen schweren Mantel, einen Schlafanzug usf., die ich reinigen lassen will – aber wo? Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus, werde immer wieder angequatscht, ein Junge hänselt mich, eine Frau mit Rundgesicht und Kurzfrisur sagt verächtlich, fast bedrohlich: »Felix!«, und es klingt wie »fehl ich’s?«. Ich suche, steige über Treppen, passiere Korridore, weiß aber eigentlich nicht, was ich suche – eine Reinigungsanstalt? Das Brockenhaus? Ein Auktionshaus?! In der großen Markthalle will man mir meine Kleider als Schenkung abnehmen, auf dem Sozialamt lässt man dafür einen luxuriösen Paternoster herabfahren – er schlägt auf dem Boden auf und springt danach etwa um einen Meter wieder hoch und bleibt auf dieser Höhe im gusseisernen Schacht hängen. Ich bekomme für die Kleider zwei, drei Gutscheine oder Quittungen ausgehändigt, während sich Weruschka im großen Schaltersaal nebenan suchend umsieht. Weruschka muss zirka zwei Meter, eher noch größer sein, eine ungewöhnlich schöne Frau mit langem glänzendem Haar, sie überragt alle und ist ebenso hilflos wie wir. Als ich wieder zurück in meinem unaufgeräumten Zimmer bin und an dem alten Radio herumbastle, kommen Vater und Mutter durch die Wand, sie sehen sofort, dass meine Kleider noch immer ungereinigt daliegen, und tadeln mich wortlos. Ich versuche, zurückzulächeln, verschlucke mich dabei.

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