28. August

Ich schlendere über den Trödelmarkt der Heilsarmee zwischen dem Mathematisch- naturwissenschaftlichen Gymnasium und dem Basler Hauptbahnhof. Die Ware ist am Boden ausgebreitet – ein zwergwüchsiger Russe hüpft, vor sich hin brabbelnd, zwischen den Sachen herum, kommt auf mich zu, bittet inständig, ich solle doch etwas bei ihm kaufen, es lohne sich immer, denn alles, was bei ihm bezahlt werde, sei eine Einzahlung fürs Leben … fürs Alter. Wie der da spricht! Als wäre ich sein Souffleur und nicht bloß ein möglicher Kunde. Was auf dem schütteren Teppich ausliegt, ist offenbar Kunst, sind Bilder und Graphiken tschuwaschischer Künstler, alles Grau in Grau, alles in Xerox auf faserigem Recyclingpapier kopiert. Ich reiche dem Mann zwanzig Franken in zwei Zehnerscheinen und erkenne gleichzeitig, über seine abfallende Schulter hinweg, weit hinten im Bild Gennadij Ajgi – der überlebensgroße Dichter scheint in starrer Haltung stumm zu sinnieren, hält den Kopf eingezogen, den Rücken gebeugt, hat den linken Unterarm quer über die Brust gelegt und den rechten Ellenbogen darauf abgestützt; mit der rechten Hand – sie ist zur Faust geballt – stützt er sein Kinn und seine Gedanken. Ich gehe, über den Teppich mit den ausgelegten Kopien stolpernd und dabei die wertvollen Blätter schleißend, auf Ajgi zu, der augenblicklich aus seiner Starre erwacht. Wir begrüßen einander, ich erkläre ihm, ich sei eben erst in Moskau gewesen usf., worauf er sich sogleich verdüstert, offenbar beleidigt, weil ich ihn dort nicht kontaktiert und besucht habe. Tatsächlich wendet er sich grußlos von mir ab, und ich muss nun in ein neues Forschungsprogramm einsteigen … nicht nur einsteigen – es auch leiten, vorweg aber kurzfristig das Personal für den Mittelbau rekrutieren. Da stehen bereits zahlreiche Kandidatinnen an, durchweg Frauen mittleren Alters, graue Mäuse, die sich im Anstellungsgespräch als spitzfindig, ehrgeizig und misstrauisch zu erkennen geben. Durch die Glastür der Kneipe nebenan sehe ich, dass dort ein Krawall im Gang ist, das Glas ist beschlagen, das Lokal überfüllt, man prügelt sich. Ich gehe hinüber, trete ein, muss ja für Ruhe und Ordnung sorgen, versuche die Leute zu beruhigen, will aber nicht selbst als Autorität auftreten. Suche deshalb unter den Anwesenden nach jemandem, der als verantwortlicher Sprecher und Mediator fungieren könnte – eine junge Frau, die mir zu Füßen sitzt und sich schwer an mein Knie lehnt, und ein junger Mann ganz hinten im Raum könnten dafür in Frage kommen. Also lasse ich darüber abstimmen, wen von den beiden die Anwesenden haben wollen. Alle wollen die Frau. Die Frau will nicht, und nun will auch der Gegenkandidat nicht mehr, und plötzlich verstehe ich – der Dumme bin ich, das Volk hat den Dümmsten gewählt. Was für ein Erwachen! denke ich im Traum: Erwachsen werde ich wohl nie. – In den TV-News wird über die Plünderung von Muammar al-Gaddafis Palästen und Bunkern in Tripolis berichtet. Zum Vorschein kommen lauter Kitschobjekte, monumentaler Ramsch, unsägliche Geschmacklosigkeiten – es muss einen Zusammenhang geben zwischen Kitsch und Despotismus (Stalins, Hitlers, Mussolinis ästhetische Präferenzen), aber auch zwischen Kitsch und dem Mehrheitsgeschmack. Ist das der Punkt, an dem Despoten und Pöbel sich einträchtig treffen? Kitsch als gemeinsamer Nenner für Gewaltherrschaft und Spießertum! – Kurz auf Durchreise bei meiner Mutter im Senevita; eine Stunde mit Aperitif und guter Unterhaltung – die Vierundneunzigjährige berichtet von sich wiederholenden »unangenehmen« Träumen, über die sie weiter »nichts sagen will«, bis sie, von mir ein wenig bedrängt, präzisiert, dass es immer wieder der große Traum vom Aufräumen, vom Saubermachen, vom »Sich-schön-machen« ist. In all diesen Träumen ist jedes Mal eine gigantische Unordnung zu bewältigen, ist Schmutz zu beseitigen, und jedes Mal – das ist Mutters Triumph noch immer – erhebt sich aus dem Chaos und Unrat etwas »sehr Schönes«. Wiederkehr der Augiaslegende im Horror- und Sehnsuchtstraum einer alten Frau? Ich kann das nicht so recht mitvollziehen, kann Schönheit nicht mit Hochglanz und aseptischer Sauberkeit verbinden. Neues, Ungebrauchtes, Makelloses befremdet mich; ich mag Gebrauchtwagen, abgetragene Kleidung, alte Möbel und Häuser, alte flackernde Filme, alte kratzende Schallplatten, zerlesene Bücher, abgewetzte Teppiche, Fliesen und Treppen, überwachsene Pfade. – Meine jugendliche Mutter bringt mich zum Facharzt, der eine Augenoperation vornehmen soll, mir aber eine silikonartige Mundmaske aufsetzt, so etwas wie künstliche Lippen. Nun stochert er eine Weile in der Tiefe des Gaumens, lässt mich aber schon bald auf dem Behandlungsstuhl sitzen, um sich einem andern Patienten oder einem andern Interesse zuzuwenden. Ich verlasse die Klinik, irre durch die Stadt, die Hose voller Kacke, suche einen Abort, wo ich den Mist loswerden kann, was nur teilweise (über einem verrotteten Betongully) gelingt, bis ich wieder im Wartezimmer bin und meine verdreckte Unterwäsche vor den andern Patienten (lauter Patientinnen) auf dem Boden ausbreite. Von meinem Abstecher nach Deutschland bringe ich auf dem Kleintransporter mehrere Stühle mit geflochtener Sitzfläche in die Schweiz zurück, außerdem einen zerlegten Schrank, einen Klubtisch, eine Kartoffelraffel. Nach dem problemlosen Grenzübertritt fahre ich zu meinem (unbekannten) Bekannten auf die Forch, in der Hoffnung, er werde mir den Schrott abkaufen oder jedenfalls abnehmen; er prüft die Sachen, ist offensichtlich nicht begeistert, aber ich muss mich beeilen, da ich für die nächste Operation angemeldet bin. Also lasse ich meine Ware auf der Forch zurück, hebe erleichtert ab, muss bei der Landung aber feststellen, dass mein Stuhl bereits wieder besetzt ist. Ein Patient hat den Arzt an die Lehne gefesselt und stichelt kichernd in dessen linker Augenhöhle herum. Meine Mutter steht daneben und klatscht mit raschen rhythmischen Schlägen Beifall. – Schwierige Arbeit am Roman (Potocki) – seit Wochen gelingen nicht mehr als zwei, höchstens drei Seiten täglich. Habe mich (womöglich zu Unrecht) entschieden, das gesamte Skript noch einmal zu überschreiben, dabei manches zu ändern, einiges beizufügen. Doch ich neige zur Resignation; der Prozess ist zu aufwendig, dauert zu lang, absorbiert einen Großteil meiner Zeit und Energie. Vermutlich ist es kein Zufall, dass mir in dieser Phase selbstquälerischen Schreibens ein anderes … ein neues Projekt durch den Kopf geht, auf das ich mich sofort mit vollem Interesse einlassen könnte – eine Untersuchung zur russischen Sterbekultur im Hinblick auf deren allfällige Besonderheiten im Vergleich zu Westeuropa, mit Fragestellungen zum Tod als Thema der Folklore (Bestattungsrituale, Klagelieder usf.); zur Todesthematik in der Dichtung und Erzählliteratur; zur Theorie und Tradition des Duells; zur Geschichte und Einschätzung des Freitods; zur Ausformung und Bedeutung der Apokalyptik im russischen Denken; zum postmortalen Fortleben (Auferstehung, Auferweckung) im russischen Kosmismus und in der frühsowjetischen Literatur. Tod statt Potocki? Was für eine Alternative! – Vladimir Nabokovs ›Bastardzeichen‹ wiederlesend … hinweglesend über meine eigenen früheren Anstreichungen, stelle ich fest, ich habe den Stoff so gut wie vollständig vergessen, erinnere mich kaum noch an Orte, Personen, Episoden. Warum? Es gibt in diesem kleinen Roman keine Handlungskontinuität, keine klar konturierten Figuren – selbst die zentralen Gestalten des Philosophen Adam Krug und des Diktators Paduk bleiben, Schachfiguren vergleichbar, ohne fassbare Physiognomie. Das Geschehen (die Ereignishaftigkeit) ist auf wenige Erzählzüge reduziert und wird im Übrigen weitgehend auf die Wort- und Satzebene verlagert, wo Argumente, Behauptungen, Lügen, Befehle, Verdikte sowie Kalauer und sonstige Sprachspiele die Handlung gleichsam ersetzen, sie auch bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Notwendigerweise an der Oberfläche bleiben zahlreiche Sprüche, die sich parodistisch auf Fremdtexte beziehen, namentlich auf despotische und dogmatische Diskurse. Im Wesentlichen ist ›Das Bastardzeichen‹ ein Wortkunstwerk … ein Epos oder ein Poem in Prosa, in das übrigens auch vereinzelte Gedichte eingeflochten sind. Nabokov bietet in diesem (seinem ersten »amerikanischen«) Roman passagenweise Beschreibungsprosa von höchster Anschaulichkeit und dichterischer Qualität, die das Lesen selbst – wie sonst nur in der Lyrik – zum Ereignis macht, gerade deshalb aber kaum zu memorieren ist. – Seit Tagen quält mich wieder der Herr Kopf, meist stundenlang in Folge, und dabei nehme ich – überflüssigerweise, unverständlicherweise – an Gewicht zu! Was für ein Hohn! Wer macht sich da über mich lustig? Wer verletzt da meine Menschenwürde? Wen soll ich dafür hassen? Was soll die Quälerei für einen Sinn haben? Oder sollte ich der Dauerkrise selbst einen Sinn geben, um sie erträglicher … um sie überhaupt erträglich zu machen! Die Müdigkeit ist enorm, zwei-, dreimal täglich lege ich mich hin, schlafe sofort ein, träume weiter an irgendeinem abgebrochenen Traum, bis ich, gejagt und ermüdet wie zuvor, wieder aufwache und … und das Elend weitergeht. Das Wetter … die instabile Witterung mag ein äußerer Grund für die Malaise sein, vielleicht gar deren Auslöser, aber meinem Gefühl nach hockt der Schmerz in Kopf und Bauch sowieso unentwegt in Lauer-, nein, in Angriffsstellung. Das Menschenunwürdige daran ist, dass es dagegen keinerlei Mittel zur Vorbeugung und Abwehr gibt – weder Wille noch Widerstand bringen das innere Monster zur Ruhe. – Noch ein Durchgang – es ist der dritte – mit Potocki. Ich hatte das Projekt schon abgelegt und abgehakt, finde nun aber doch, der Verlust an Lebenszeit und -energie wäre (in meinem Alter!) zu groß gewesen, wenn ich es, nach zweimaliger Niederschrift, nun einfach fallen ließe. Also nochmals von vorn. Das erste Kapitel hat mich (mit Gegenlesen, Korrigieren, Überschreiben usf.) gut einen Monat gekostet. Gekostet? Die Erfahrung … meine Schreiberfahrung zeigt deutlich genug, dass der Prozess der Überarbeitung aufwendiger ist als die Durchschrift der Erstfassung. Ob John Potocki zu retten ist, bleibt weiterhin unklar.

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