4. Januar

Autobiografien, Memoiren, Kindheits- und Krankengeschichten, Tagebücher und Notizhefte gehören zu den heute beliebten Textsorten und Lesestoffen. Der Kunstanspruch solcher Selbsterlebensliteratur bleibt in den meisten Fällen weit zurück hinter dem Willen zur Authentizität und Aufrichtigkeit, wenn nicht zur Selbstentblößung oder auch, umgekehrt, zur Selbstinszenierung. Ich kann mich für Texte dieser Art durchaus interessieren, halte aber eine auch nur annähernd authentische Epochen-, Ich- oder Weltdarstellung mit literarischen Mitteln für unerreichbar, deshalb nicht für erstrebenswert. Richtig und aufrichtig kann allenfalls das fiktionale Literaturwerk sein, das mögliche, ja fantastische Welten entwirft, die als solche einen Realitätsstatus gewinnen, der innerhalb des Texts als authentisch gelten kann, statt bloß die textexterne Realität wiederzugeben. Ich überlege nun … ich suche nun nach einer Zwischenlösung, die es mir erlauben könnte, fiktionales und dokumentarisches Schreiben engzuführen und damit Geschichte und Literatur gleichermaßen »realistisch« einzubringen. Statt also linear meine Lebensgeschichte nachzuerzählen, will ich wahre Geschichten aus meinem Leben – Begegnungen, Prüfungen, Reisen, Niederlagen, Lektüren, Träume, Experimente – in wiederholten, kalendarisch festgelegten Durchgängen festhalten. Geschichtliche Linearität und Progressivität wird dadurch aufgehoben zu Gunsten einer rekurrenten zeitlichen Schichtung, deren Prinzip auf formaler Ebene mit der Wiederkehr gleichartiger oder ähnlicher Verse zu vergleichen ist. Nicht autobiografisches, sondern archäografisches Schreiben ist dabei mein Interesse. – Über einem Bienenhaus im Heubeerenbühl am untern Rand des Dolderwalds gibt es ein stark verwittertes Holzschild mit der gravierten Aufschrift DIE WABE ALS WAPPEN. Die Aufschrift steht wohl an Stelle eines Vereinswappens, das hier kurz und bündig in Worten ausgehängt ist. Der Spruch, genauer betrachtet und abgehört, ist ja eigentlich ein Vers … ein Kurzvers von bemerkenswerter rhythmischer und melodischer Qualität, gefügt aus zwei dreiteiligen Maßen (Amphibrachys), instrumentiert mit dem Stabreim W::W beziehungsweise WA::WA sowie der unreinen Homonymie WAB::WAP. Ein untadeliger Kurzvers, verfasst (wie ich vermute) von einem Schreiber, der von griechischer Prosodie keine Ahnung hat und auch nicht zu haben braucht. Die Begriffe »Wabe« und »Wappen« gehören ganz unterschiedlichen semantischen Feldern an, werden jedoch hier in eine Klangverwandtschaft gesetzt, die auf der Bedeutungsebene auf die formale Ähnlichkeit zwischen einer sechseckigen Wabe und einem Wappen mit sechseckigem Grund verweist. Da hat wohl jemand unbeschwert mit Wörtern gewürfelt, um dem Zufall einen Einfall abzugewinnen! – Nach zwölfstündigen Krampf-, Durchfall- und Schmerzattacken im Unterbauch, ausgelöst durch die chemische Darmreinigung vor der anstehenden Koloskopie, stapfe ich heute früh, völlig entkräftet, nach Bethanien, umweht von feuchten Schneeschlieren, immer wieder ausrutschend im knöcheltiefen Matsch, unsicher, ob die Untersuchung überhaupt sinnvoll ist. Was ich am Monitor in Farbe und in vielfacher Vergrößerung mitverfolgen kann, ist ein Schleuderkurs durch mein Innenleben – eine zuckende Kamerafahrt durch Dick- und Dünndarm bis zum Magen, ein Schlittern durch geräumige, leicht pulsierende Höhlen, Hallen, Korridore, die mit glitzerndem Schleim reinlich verputzt sind. Sieht gut aus, sieht gesund aus. Dennoch findet der Arzt einen haselnussgroßen Tumor, der sich von der rosig gefärbten Umgebung durch seine rauhe, eitergelbe Oberfläche abhebt. Davon wird nun eine Gewebeprobe genommen. »Vermutlich benignes Material«, meint der Arzt beschwichtigend: »Aber wir brauchen dafür eine histologische Bestätigung.« Was aber, wenn tatsächlich ein Rezidiv erkannt würde? Nochmals operieren, bestrahlen, chemotherapieren? Um wen … um was zu retten? Und wozu? Für mich ist nicht die Rettung das Letzte. Zuletzt werde ich erliegen, egal wem, egal wie. Das Leben … mein Leben ist ein permanenter Selbstmordversuch. Weshalb sollte ich Hand an mich legen?

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