5. April

Kurzer Schlaf, intensive Träume und … und erstmals in diesem Jahr hat mich eine Amsel mit einem lang anhaltenden Solo geweckt. Doch wer oder was sollte da besungen werden? Ich in meiner Müdigkeit? Der Tag in seiner desolaten Aufwartung, der nur dünnes Licht aufkommen lässt, schattenlos, überflüssig und unerquicklich wie verschüttete Milch? Aber dieses graue Einerlei kann das große Sprießen nicht mehr unterdrücken, immer merklicher schwellen die runzligen Knospen, spannen sich Halme und Zweige, intensivieren und vervielfältigen sich die Farben. Selbst die Spatzen, Inbegriff des Grauen und Gewöhnlichen, scheinen aufzuleben, werden dreister. Kurz nach sieben mache ich mich bei feuchter Kälte und immer noch schleichendem Licht zu meinem morgendlichen Waldgang auf, mit jedem Schritt scheint es heller zu werden, tatsächlich steht nach knapp einer Stunde die Sonne tief zwischen den Stämmen und lässt die Mooskissen am Wegrand in strahlendem Grün aufglühen. Bei meiner Rückkehr gegen halb zehn ist die Bergschieferplatte auf dem Gartentisch bereits so schön aufgewärmt, dass ich mich zu einem zweiten Frühstück im Freien entschließe – inzwischen sind auch die heutigen Zeitungen da, und der Eisenkrauttee ist rasch gebraut. – Ich lese weiter bei René Girard, den ich vor allem als starken, einfallsreichen, eigensinnigen Leser schätze und dessen Lektürefrüchte (bei Shakespeare, Stendhal, Proust, Dostojewskij, Flaubert) ungemein viele Anregungen freisetzen, auch dann, wenn diese Anregungen aus Irritationen erwachsen. Girard sieht – stets mit Blick auf literarische Texte – jegliche Handlung, jegliches Verhalten in Abhängigkeit von einem außenstehenden Dritten, der besitzt und der tut, was einem selbst begehrenswert erscheint, was man aber ohne dessen Vorbild nicht anstreben würde. Dieses primäre mimetische Begehren (Nachahmen, Einholen) führt in jedem Fall zu einer mimetischen Krise (Ablehnen, Überholen), einem nach Girard automatisierten Vorgang, bei dem der eigene Wille kaum in Erscheinung tritt. Leben hieße, so betrachtet: Ich werde gelebt, denn mein Handeln wäre weitgehend durch die Lebensumstände … wäre durch die immer gleiche Personen- beziehungsweise Problemkonstellation determiniert. Ich, der/die Begehrende; du, die/der Begehrte; er, der Andere, der als Vorbild mein Begehren weckt, mir aber gleichzeitig das Objekt des Begehrens vorenthält und damit eine mimetische Krise provoziert, die ich nur durch seine – des Andern, des Vorbilds – Überwindung und Beseitigung zu meinen Gunsten lösen kann. Wenn ich für handeln »schreiben« einsetze, hieße dies, dass auch mein Schreiben nichts anderes wäre als ein Geschriebenwerden. Der primäre literarische Einfluss, übernommen und angeeignet von einem bestimmenden Vorbild, wäre und bliebe der Motor meines Schreibens auch dann noch, wenn ich das Vorbild längst verworfen, den Einfluss abgewehrt habe. – Nach drei Leidenstagen mit einer klammernden Nackenmigräne und beiläufigen Durchfällen geht’s heute besser, habe ein wenig geschlafen, harmlos geträumt. Heute früh das Gespräch mit dem Dorfbäcker in brutaler Ofenhitze – er berichtet von seiner Teilnahme am Karneval in Rio, wie er sich inmitten funkelnder, duftender, röhrender Leiber hat treiben lassen und dabei »endlich mal wieder Mensch« sein durfte; wie ihm dann aber nach dem Kehraus im Morgengrauen ein Besoffener vor den Mietwagen stolperte und … »und das war’s dann, der kam nicht mehr zu sich, der blieb einfach liegen, lag da völlig ohne Blut, muss gleich tot gewesen sein, geht ja vielen so beim Karneval.« – Manch eine Bedeutung zwischen aaaaaHymen und Honig
aaaaamacht eher Hauch denn Sinn. Wohin
aaaaamit den zahllosen Inseln die sich – wie hingeworfen!
aaaaaWörter einer toten Sprache! – noch
aaaaaimmer kräuseln am gespannten Horizont. Und wenn
aaaaadie Antwort vor der Frage käme? Als
aaaaaheitere Ahnung! Als Mahnung die zum Lachen wäre
. – Bei Georges Perros ist das Thema … ist das Problem des Alleinseins von stets gleichbleibender Dringlichkeit. Dabei war er doch ein engagierter Familienvater, ein gefragter und verlässlicher Freund. Auch sein kolloquialer (wenngleich knapp gehaltener) Briefstil lässt keineswegs auf einen einsamen Zeitgenossen schließen, macht ihn vielmehr kenntlich als einen stets dialogbereiten und dialogfähigen Partner. Dass Perros in seiner Frühzeit als professioneller Schauspieler arbeitete, weist ihn ebenfalls nicht als einen Einzelgänger oder gar einen vereinsamten Schwarzseher aus. Ein Schwarzseher allerdings war er. Doch mit seinem polemischen Talent und seiner provokanten Geistesgegenwart konnte er … scheint er seinen Hang zur Schwermut immer wieder konterkariert zu haben. Die Schwermütigen tragen mancherlei Masken. Auffallend ist bei ihm – vor allem in seinen Briefen und Notizbüchern (›Papiers collés‹) – der Widerspruch zwischen seinen vielen, auch persönliche adressierten misanthropischen Ausfällen und der Intensität und Intimität, mit der er selbst die fernsten Korrespondenten anzusprechen wusste. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich Perros über das Alleinsein beklagt, weil er nicht zugeben mag, dass er es braucht. Abgesehen davon sind die Einsamen die besten Briefeschreiber. – In einer weitläufigen Wiese vor Moiry rottet seit Jahren ein Autowrack vor sich hin; es rostet unaufhaltsam, verliert seine Farbe, seinen Glanz, wird geringer, bricht Stück für Stück auseinander, während jährlich massenhaft die Narzissen wiederkehren, das Wrack umstellen, in das Metallskelett hineinwachsen, es mit ihrem unvergleichlichen Duft erfüllen, bis ihre Zeit um ist und sie in die nächste Jahresschlaufe einkehren. Irgendwann werden die Narzissen – ob diese oder jene – den Zivilisationsschrott überlebt und überwuchert haben. Es sei denn, man rotte sie noch rechtzeitig aus. – Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker – zwei alte Menschen werden nach ihrem Verhältnis zum Tod befragt. Die Antworten kommen – wie denn anders? – unbeholfen, wenn nicht unbedarft. Auf der einen Seite wird der Tod beschimpft und mit dreisten Unsterblichkeitsphantasmen provoziert, auf der andern wird er durch einen Welt- und Lebensekel lächerlich gemacht, der sich zwar wie Zerknirschung ausnimmt, dann aber doch nur überheblich ist. Ob so oder anders – weder die beiden betagten Dichterinnen noch sonst jemand kann und sollte sich zum eigenen Tod äußern, bevor er – der Tod – nicht unmittelbar ansteht. Niemand tendiert naturgemäß nicht dazu, den Tod auf Distanz zu halten und ihn aus der unmessbaren Distanz zu besprechen, so wie man ihn in magischen Praktiken einst besprochen hat, um ihn zu bannen. Doch es gibt über den Tod … es gibt über den eigenen Tod keine transitive Rede, der eigene Tod kann nicht ernsthaft Gegenstand eines von Trotz oder Wut oder Ekel bestimmten Radebrechens sein, über den Tod kann nur der Tod selbst angemessen sprechen … sprechen durch den Sterbenden, der nach allem Gerede nur noch sagt (statt irgendetwas zu besagen): »Uuuuh…« – Wenn die Migräne ausbleibt, kommt das Durchatmen, Durchhängen, Durchschlafen. Produktiv bin ich nur unter der Spannung von Schmerz, Zweifel, Verstimmung, Behinderung – solang ich sie ertragen kann. Ich brauche, um weiterzukommen, das latente Ungemach. Von daher mein Misstrauen … mein Malaise im Glück, in der Zufriedenheit.

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