6. August

Schön heute, sehr heiß schon in der Früh. Um sieben mit Krys beim Bäcker zum Kaffee, mit Croissants, Brioches; noch vor acht mit dem Auto nach Orbe zum Einkaufen. Der Supermarkt am östlichen Ortsausgang ist so gut wie menschenleer, und die Leere wird noch untermalt von der hallenden Hintergrundmusik. Wir kaufen Früchte und Gemüse und Quark und Käse ein, dazu zwei Kartons leichter regionaler Weine zum Kühlen, ich brauche außerdem Paketetiketten, Handseife, Klebeband, schwarze Tinte, Fishermen’s Pastillen, einen neuen Dosenöffner, zwei Leuchtröhren für den Korridor. Zurück aus der konditionierten kühlen Luft in die Augusthitze und gleich nach Hause. Wir schließen die Fensterläden, um die wabernde Wärme und das gleißende Licht fernzuhalten, gehn später in den Garten hinüber, verbringen den Vormittag auf dem schattigen Sitzplatz beim Pavillon. Krys bereitet, ständig telefonierend, eine internationale Konzertreise für das Lourié Ensemble vor; ich ziehe mich schon bald in den Pavillon zurück, setze mich in den lauen Durchzug, lese weiter in den Briefen Friedrich Nietzsches, notiere ein paar Vorüberlegungen für die Zürcher Tagung zum Thema »Bild und Präsenz«, bei der ich ein Referat halten soll. Am frühen Nachmittag wird die Hitze zu groß, wir dislozieren wieder ins Haus, dessen dicke alte Mauern die Temperatur auf erträglichem Niveau halten. Gegen Abend kommt unangemeldet Nesiba Dumesch vorbei, die nebenan im Arc einen Theaterworkshop mit Wassiljew absolviert. Gemeinsames Essen auf der Gartenterrasse, dazu zwei Flaschen Rosé aus der Weinregion von Orbe und Arnex; Gespräch über alles, Erinnerungen an manches. Es wird Nacht … es wird spät. In der Ferne beginnt ein Gewitter zu grollen. Wir räumen erst ab, als die ersten schweren Tropfen fallen. – Beim Wiederlesen der »Byzantinischen Aufzeichnungen« hat sich in diesen Nächten mein Interesse an Erhart Kästner bestätigt, einem Autor, von dem jüngere Kollegen keine Ahnung haben und der bei gleichaltrigen oder älteren kaum noch präsent ist. Kästner hat die Aufzeichnungen unterm Titel ›Aufstand der Dinge‹ als Spätwerk … vielleicht als eine Art Summa seines Lebens, Denkens, Schreibens abgefasst. Es ist womöglich sein bestes Buch, wenn auch keineswegs ein Meisterwerk – stellenweise ungeschlacht formuliert, sprunghaft vorgetragen, manchmal ins Pathetische, dann wieder ins Triviale driftend, aber es ist ein durch und durch persönliches Werk, das einnimmt durch seine sperrige, widerspruchsvolle Kompaktheit und das überzeugt durch seine unverwechselbare Diktion. Auf so gut wie jeder Seite halten diese Aufzeichnungen – unabhängig vom Gesamtzusammenhang – einen Satz, zwei Sätze bereit, die man sich notiert in der schönen Gewissheit, dass sie in irgendeinem andern Kontext brauchbar, anregend, weiterführend sein werden, Sätze also, mit denen man … mit denen ich etwas anfangen, mit denen ich weiterkommen, an denen ich weiterschreiben kann; Sätze wie diese: »Die Welt-Ausrechnung, Allmacht der Neuzeit, vor der auch Diktatoren sich beugen und Alle, die sich sonst hassen, verbrüdern, will alle Dinge entsiegeln. Im Freiraum der Kunst, wenngleich er folgenlos wurde: sie versiegeln sich wieder. Je mehr wissenschaftlicher Aufschluss, desto verschlossener erweisen die Dinge sich. Sie trotzen. Sie sehen den einzigen Fluchtweg, wenn sie überhaupt einen sehen: Umziehen ins Rätsel. Das Labyrinth ihre Wohnung. So geht durch die Künste unserer Tage ein Zug, wir kennen ihn Alle. Jeder Vers sagt es, jedes Bild spricht davon: Die Dinge verrätseln sich. Das Unaufgeklärte, das Schwerverständliche ist ihre Zuflucht. In der Neuzeit, in der totalen Welt-Ausrechnung, so will ihnen vorkommen: Es ist nur noch das Rätsel, das Rat gibt.« Erster Satz … letzter Satz dieses Mikroessays – syntaktisch defizient und verrenkt, auf der Aussageebene eher verdunkelnd als erhellend, aber das dunkle munkelnde Reden soll ja dem Gesagten entsprechen, der Botschaft eben, dass ohnehin alles zur Rätselhaftigkeit tendiere. ›Aufstand der Dinge‹ ist 1973 erstmals erschienen. Wissenschaft und Kunst und Literatur sind inzwischen, nach dem Durchgang durch die Postmoderne, auf einer völlig andern Position – alles tendiert zur Enträtselung, meidet Rätselhaftigkeit, Exhibitionismus und Obszönität gehören zur Normalität des Theater- und Filmschaffens wie auch der Bildkunst. Selbst die Poesie, einst Domäne dunkler Rede – Orakel, Hermetismus, Prophetie –, gibt sich heute redselig, vordergründig, alltagsnah und internettauglich. Das Rätsel hat nur noch als unbedarfte Spielform Konjunktur und ist als solches durchweg auf seine Lösung angelegt, nicht jedoch als Geheimnis akzeptiert. Kästners Befund und Prognose haben sich in diesem Fall nicht gehalten, aber Stil und Methode seiner Argumentation – oder seines Räsonierens – können mich weiterhin interessieren, zu schweigen von seiner Schreibweise, die jede Eleganz wie auch jegliche Schnoddrigkeit vermeidet und die dem Strom konsequent den Katarakt vorzieht. – Ich lese Erhart Kästners Aufzeichnungen zum dritten, vierten Mal, und ich bringe auch bei diesem Durchgang wieder neue Randnotizen und Unterstreichungen an. Neu ist meine Lektüre deshalb, weil ich sie mir erstmals im Wissen um Kästners nationalsozialistisches Engagement vornehme. Ich hatte von seiner Mitgliedschaft in der NSDAP, von seinem langjährigen Wehrmachtsdienst im besetzten Griechenland und auch von seinen späteren gerichtlichen Falschaussagen zu Gunsten eines hochrangigen ehemaligen Vorgesetzten, dem Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden, nichts gewusst … nichts geahnt. Dieses Unwissen hat damit zu tun, dass Kästner, der zu seiner Nazivergangenheit nie ein bedauerndes oder gar entschuldigendes Wort gefunden hat, von einschlägigen Verdächtigungen stets freigehalten wurde – als beliebter Reiseschriftsteller für das bundesdeutsche Bildungsbürgertum einerseits, als langjähriger Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel anderseits war der »große Humanist und Griechenlandfreund« gegen ideologisch oder politisch begründete Angriffe weitgehend gefeit, dies im Unterschied zu einem Günter Grass, der wegen seiner kurzfristigen, frühjugendlichen, von sich aus eingestandenen Mitgliedschaft bei der Waffen-SS landesweit geschmäht und als moralische Instanz desavouiert wurde. Erhart Kästner, um vieles älter als Grass, verbrachte die Kriegsjahre in der privilegierten Funktion eines beauftragten Wehrmachtsbelletristen, der für die kämpfende Truppe unterhaltsame Bücher über Griechenland zu schreiben hatte. Dass diese Bücher – Grundlage und Reservoir für sein gesamtes späteres Werk – in der Urfassung durchwirkt waren von rassistischen Schmähungen und nationalsozialistischen Propagandaphrasen war mir ebenso unbekannt wie die Tatsache ihrer nachträglichen »Bereinigung« durch den Autor – bis ich in diesen Tagen im Internet auf zwei, drei diesbezügliche Hinweise stieß und mich (wie schon früher im Fall von Paul de Man oder Ernst Benz) fragen musste, was die völlig unerwartete Erhellung von Kästners NS-Karriere und seiner Kriegsbiografie für mich als Leser … für mein Verständnis seines Werks nun eigentlich bedeutet. Muss ich … soll ich meine bisherige Wertschätzung revidieren? Darf ich, gemäß meiner eigenen Konzeption von Autorschaft, Leben und Werk bei Kästner strikt auseinander halten? Kann ich darüber hinwegsehen, dass er während des Vernichtungsfeldzugs der Wehrmacht durch Griechenland nach eigenem Bekunden nur einfach »berauscht war von so viel Bechern randvoll getrunkenen Lichts«? Und dass er gleichzeitig die einfache griechische Bevölkerung – Bauern, Winzer, Fischer – als eine minderwertige Rasse (als »Affengesichter«, »schwärzlichen Pöbel« usf.) verächtlich machte und sie dezidiert abgrenzte von den blonden Herrenmenschen aus dem germanischen Norden! Und wie soll ich nun verstehen … was soll ich davon halten, wenn Kästner als erfolgreicher Nachkriegsautor nicht ohne Pathos feststellt, »dass ein Leben in der Zukunft, die anbrach, bloß noch im Widerstand, im Widersinn, in der Verdünnung der östlichen Weisen, im Auszug, im Untergrund, im Geheimen und Stillen, möglich und mächtig sein kann«? Da ruft er nun also in der restaurativen Konsumgesellschaft der BRD, diesseits jeglichen Risikos, zum »Widerstand« und zum Rückzug in den »Untergrund«, ins »Geheime«, in die »Stille« auf, nachdem er unterm Unrechtsregime der Nazis und angesichts der deutschen Kriegsgräuel und der Kulturvernichtung im besetzten Griechenland nicht nur geschwiegen, sondern aktiv das Seine dazu beigetragen hat. Selbst die Tatsache, dass Erhart Kästner als seine Vorzugsautoren stets Gerhart Hauptmann, Ernst Jünger, Martin Heidegger hochgehalten hat, könnte ich nun nachträglich – sollte ich? – für anrüchig halten. Zwei Jahre hat Kästner nach Kriegsende in einem britischen Gefangenenlager in der ägyptischen Wüste verbracht. Dass er auch in der dortigen Stille und unterm dortigen Himmel nicht mit sich ins Gericht gegangen ist, macht seinen Fall für mich um so penibler. Ich gestehe, dass mir das Weiterlesen in den ›Byzantinischen Aufzeichnungen‹ nicht leicht fällt … dass es mir irgendwie unangenehm, fast schon widerwärtig ist – ein Lieblingsbuch in der Hand zu halten, dessen Autor ein engagierter, bis zuletzt uneinsichtiger Mitläufer der Nazis gewesen ist. Noch bei seinem 100. Geburtstag, 2004, wurde Kästner in Deutschland weithin für seine hohe Menschlichkeit und seine kulturelle Offenheit gerühmt, und seine Werke sind nach wie vor in der von ihm selber bereinigten Fassung im Buchhandel präsent. – Merkwürdig doch – ich lebe seit Jahren im Abseits, bin sozial weitgehend abstinent, reise nur ausnahmsweise, bin Leuten nur selten ausgesetzt, träume aber regelmäßig geradezu ausschweifend von großen Menschenansammlungen in engen Räumen oder zerklüfteten Landschaften, von meist unbekannten Menschen, gegen die ich mich behaupten muss, die auf mich warten, mich belauern und bedrängen, Menschen, die mir misstrauen, mir drohen, mir schaden, mich belehren, mich provozieren wollen usf. Zur Auseinandersetzung kommt es nie, es findet auch keine Verständigung statt, in aller Regel entkomme ich dem Aufmarsch der stummen fordernden Gaffer. Träume dieser Art sind mir unangenehm, ich finde sie aber aufschlussreich, notiere mir manche davon, frage mich bisweilen, ob ich sie als Vorwurf für meinen Rückzug verstehen soll. Als was denn sonst? – Von meiner Gartenbank aus, über das Notizheft hin, beobachte ich eine Handvoll mittelgroßer, nicht besonders ansehnlicher Schmetterlinge, die sich in geringer Höhe zwischen hohen Gräsern und Wiesenblumen schaukelnd in der Schwebe halten, bisweilen abheben zu einem gezackten Rundflug, dann zurückkehren, um erneut im niedrigen Dickicht der Magerwiese umherzuflattern – ein sprunghafter Lufttanz, scheinbar durch nichts behindert und doch ständig gefährdet durch die dicht stehenden Hindernisse. Minutenlang beobachte ich das lautlose Geschehen, bin frappiert … bin fasziniert von der Tatsache, dass die Schmetterlinge mit ihren ausgreifenden Flügeln nie an ein Hindernis stoßen, nie an einem Halm oder einer Blüte hängenbleiben – dass sie frei und souverän durch das bewegte Dickicht schweben, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. Was für Sensoren müssen diese Tiere haben, um sich ganz – selbstvergessen?! – diesem Tanz hinzugeben, der da einfach stattfindet, ohne irgendetwas bedeuten zu sollen. Für mich hat er immerhin den Sinn, schön zu sein, was wiederum, umgekehrt, eben dann nur möglich ist, wenn ich den ingeniösen Tanz in der Luft nicht auch noch verstehen muss. – Heute kommen in den Medien erste Bilder vom Mars, gestochen scharf von Curiosity aufgenommen und gesendet – eine unabsehbare Wüstenlandschaft, das Gestein (kleines Geröll auf flachem Grund) von wunderbar warmer, ockerbrauner, kupfern schimmernder Farbe; aber – kein Halm, kein Baum, kein Mensch, weder Pfütze noch Wolke … Ich lebe auf bei diesem Einblick in eine menschenleere Welt, versuche mir vorzustellen, dass tatsächlich vor Zeiten auch die Erde so wüst und so leer gewesen ist – so schön und so offen. Nur die Menschenwelt kann unmenschlich sein.

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