Noch eine Lesart

In aller Regel liest man, wenn man liest, nicht Wörter, nicht Sätze, sondern Texte. Lektüre ist eine raffende, synthetisierende, auf rasche Verständigung angelegte Kulturtechnik, die, von blossem Auge als Scanning bewerkstelligt, aus möglichst wenigen Einzeldaten möglichst viel Bedeutung abzurufen vermag. Diagonales Lesen hat sich als die allgemein übliche Lesart etabliert, weshalb denn auch der Normalverbraucher von Texten kaum noch wahrnimmt, was genau, Schwarz auf Weiss, dasteht. Wörter, Sätze, auch Absätze werden mit ingeniöser Fahrigkeit überflogen und zu semantischen Feldern verknüpft. Auf diese Weise können Texte insgesamt verstanden werden, ohne als solche gelesen worden zu sein: Grammatische und syntaktische Komplexität wie auch stilistische Eigenart bleibt weitgehend unbeachtet.

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Normale Lektüre ist defizitäre Lektüre − ein Grossteil des jeweiligen Texts wird dabei notwendigerweise überlesen, und man vergisst allzu leicht, dass Texte aus Sprachmaterial gemacht sind. Nur bei kurzsichtigem und kontinuierlichem Lesen, close reading, wird die Schriftform des Texts und damit die optische Präsenz seiner sprachlichen Versatzstücke wahrgenommen, vom Satz bis hin zum Buchstaben. Unabweisbar wahrgenommen werden in solcher Optik nicht bloss brillante Fügungen, sondern auch missglückte oder fehlerhafte Formulierungen, die bei diagonalem Lesen kaum auffallen.
Doch solche Lektüre wird nur selten gepflegt, von Linguisten, von Hermeneutikern, von Übersetzern vielleicht, aber sie könnte durchaus von breiterem Interesse sein. Statt ganze Wortgruppen und Sätze zu überlesen, könnte man sie nämlich, umgekehrt, besonders herausstellen, sie von ihrem Kontext isolieren. Die Versatzstücke stünden dann, formal unverändert, ohne einen vorgegebenen Bedeutungszusammenhang da und würden bei jedem Leser unweigerlich eine Vielfalt von Assoziationen auslösen, die innerhalb des Texts nicht aufkommen könnten. Die freigesetzten Einzelelemente würden demnach ein assoziatives Feld entstehen lassen, das seinerseits als ein immaterieller, instabiler, schwebender, ganz und gar subjektiver Text aufzufassen wäre, inspiriert − jedes Mal neu, jedes Mal anders − vom Leser selbst, ein Quasitext, der mit seiner Vorlage nichts mehr zu tun haben bräuchte.

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Ich selbst habe probehalber eine derartige Autopsie auf Grund von Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand) bewerkstelligt, habe ein paar Dutzend beliebige, keineswegs bedeutsame Sätze aus dem Textzusammenhang geschnitten und separat zu einer Liste aufgereiht. Die Liste als solche fügt sich naturgemäss zu so etwas wie einem Text, lässt aber auf der Bedeutungsebene keinerlei Zusammengehörigkeit erkennen. Nimmt man die Sätze jedoch für sich, lassen sie automatisch einen fiktionalen, durchaus originären Kontext entstehen, der vom jeweiligen Prätext völlig unabhängig ist, ihn womöglich verfälscht oder dementiert.
Als Probe aufs Exempel: Hier einige von mir beiläufig unterstrichene Zitate aus der Berliner Kindheit − zu freier assoziativer Verfügung, zum Weiterdenken oder auch zum Fortschreiben, Zitate, aus denen ein eigenständiger Text entstehen könnte, als dessen Autor der Leser, die Leserin signieren dürfte.

Noch schlimmer war es in den Kasematten der vaterländischen Gedichte, wo jedwede Zeile ein Zelle war.

Gewiss ging es die Affen genausogut wie die bewährteste Schauspieltruppe an.

An meinem Missgeschicke trug die Hauptschuld Abneigung gegen den fast Unbekannten.

Es hat die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt.

Musik setzt ein, und ruckweis rollt das Kind von seiner Mutter fort.

Ich war entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was um mich war.

Haften blieb mir nur der Teil, auf den ein Öldruck sich bezog, den ich mit nie vermindertem Entsetzen aufschlug.

Was Wahres daran ist, erfuhr ich im Versteck.

Der Sommer rückte mich an die Hohenzollern heran.

Im guten Regen war ich ganz geborgen.

Und eh der Abend sich’s noch selber recht bei mir hatte wohl sein lassen, fing für mich ein neues Leben an …

Usf.

Ich weiss nicht, ob … glaube nicht, dass man die hier angeführten, ingesamt recht unbedarften Sätze, gerade bei näherer Betrachtung, Walter Benjamin zuschreiben würde. Der durch ihre Isolierung vom Kontext bewirkte Verfremdungseffekt geht, wie mir scheint, so weit, dass die extrahierten Einzelstücke kaum noch auf ihre gemeinsame Herkunft − den singulären Autor, den ursprünglichen Werkzusammenhang − zurückgeführt werden können. Die hier vorgeführte Lesart könnte auch eine neue Art der Texterzeugung initiieren: Unverbundene Versatzstücke eines vorliegenden Texts werden willkürlich zu einem neuen Textgebilde synthetisiert, das keinen Autor mehr, bloss noch einen Kompilator braucht.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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