6. Januar

Vor einem Jahr war Simon Morris zum Dreikönigstag hier zu Besuch. Der kleine König stak wie meistens in den letzten Jahren in seinem Kuchenstück, die Krone hat er mir vermacht. Heute hab ich den Kuchen mit mir selbst geteilt, bin also unausweichlich zum König des Tags geworden. Die vom Bäcker mitgelieferte Pappkrone mag ich mir nicht aufsetzen. – Weiter (lesend) mit Arzybaschew, Barnes, Musil – drei Zeitgenossen, die sich nicht gekannt, nichts voneinander gewusst haben; reizvoll aber (und um so aufschlussreicher) fällt der Vergleich zwischen den von mir exzerpierten Sätzen aus. Robert Musil (›Drei Frauen‹): »War solch ein hübsches junges Weib beladen, so hing ihm der Blick bei den Augen heraus und die Lippen blieben offen stehn.« – »Sie wurden nie rot vor Zorn oder rosig vor Freude, sondern sie wurden dunkel im Zorn und in der Freude strahlten sie wie Gold, so schön und so selten.« – »Es war eine Welt, die eigentlich keine Welt war.« – »Es war, um zu weinen, ohne zu wissen warum.« – »Jedes Einzelne war hässlich, und alles zusammen war Glück.« Usf. – Djuna Barnes (›Nightwood‹; ich übersetze:) »Wer alles liebt, wird von allem verachtet.« – »Es gibt ein Loch im Weltschmerz, durch das man unentwegt und für immer hinabfällt.« – »Das ist die Motivation zum Heiraten. Kein Mensch will tatsächlich seine Freiheit haben.« – »Gottes letzte Runde, Schattenboxen, das Herz kann gemeuchelt und an jenen stillen Ort abgeschoben werden, wo es dann sitzt und sagt: ›Einst bin ich gewesen, nun kann ich bleiben.‹« – »Deshalb kann sie sich nicht ›an jemand anderes Stelle setzen‹, sie selbst ist die einzige ›Position‹.« Usf. – Michail Arzybaschew (›Sanin‹; deutsch von mir:) »Mit dieser Schande kann man nicht leben … Punkt. Das heißt, man muss sterben! Doch sterben will ich auch nicht, und wer hätte etwas davon? Ich nicht!« – »Ein verluderter menschlicher Leib … die Spitze eines bloßgelegten Nervs, bis zum Schmerz geschärft durch halbwegs erzwungene Lüste … reagierte qualvoll auf das Wort ›Weib‹.« – »In der Runde bildete sich eine leichte farblose Leere, in der die Gleichgültigkeit des Tods vorherrschte.« – »›Was heißt schon Natur?‹ Sanin lächelte schwach, winkte ab: ›Das ist ja bloß so eine Redensart, dass die Natur vollkommen sei … Tatsächlich ist sie genau so übel wie der Mensch … Unsere Bestimmung ist allein schon mit dem Faktum, dass wir leben, erfüllt … Unser Leben ist obligatorisch, folglich ist auch unser Tod obligatorisch.‹« Usf. Weltliteratur? Provinzliteratur? Wo genau liegt – auf der Ebene des Satzbaus – der Unterschied? Die Gemeinsamkeit? Provinz- oder Trendliteratur liefert ebenso viele brillante Einzelsätze wie Weltliteratur schwache und kaputte Sätze liefert. – Für mich eine neue Erfahrung – zu bezahlen für etwas, das man nicht haben will. Ich hatte mich bei Teleboy angemeldet, um auf meinem Laptop die gängigen TV-Programme empfangen zu können, stellte aber bald fest, dass die Sendungen – auch Nachrichten, Talkshows usf. – alle paar Minuten durch Werbung unterbrochen werden. Um diese Unterbrechungen zu vermeiden, musste ich mich neu als zahlender Kunde einschreiben – die Befreiung von den Über- und Untergriffen der Werbung kostet mich nun jährlich rund hundert Euro. Noch eine Art von Pay-TV. – Immer wieder bin ich erstaunt, welch elementare Einsichten mir während Jahrzehnten verschlossen geblieben sind, obwohl ich mich ständig in deren Vorfeld bewegt habe und … und obwohl ich sie, jene Einsichten, ohne besonderen Aufwand jederzeit hätte erschließen können. Aber ich hab’s nicht getan, habe weder danach gesucht, noch bin ich aus Zufall darauf gestoßen … zum Beispiel darauf, dass es zwischen Wort und Wirklichkeit eine unkorrigierbare übersetzerische Asymmetrie gibt; dass nämlich alle möglichen Realien und darüber hinaus auch Irreales und Unmögliches in Worte gefasst werden können, umgekehrt jedoch Worte, Sätze, Texte in keinem Fall in etwas zu übersetzen sind, das nicht sprachlicher Natur ist. Wo liegt nun aber das Defizit? Auf Seiten der Sprache, die konkrete Wirklichkeit nur wiederzugeben, nicht aber zu schaffen vermag? Auf Seiten der sogenannten Wirklichkeit, die auf Sprache angewiesen ist, um überhaupt erst erkannt und begriffen zu werden? Paradoxales Verhältnis! Das Problem der Übersetzung beziehungsweise der Übersetzbarkeit liegt nicht bei der Sprache – die Sprache selbst ist das Problem. Die Wirklichkeit könnte auch ohne Sprache, ohne Übersetzung bestehen, allerdings bloß als solche, als ein neutrales »es gibt«, und nicht als Lebenswelt. – Schwach geschlafen, mehrfach aufgestanden, um mir die Füße zu vertreten … um dies und jenes zu notieren. Auf dem Balkon liegt knöchelhoch nasser Neuschnee, auf den es nun in schweren Tropfen herunterregnet. In der Lichtblase der Straßenlaterne wimmeln die Flocken und Schlieren wie Spermien im inneren Muttermund. Der leichtfertige Vergleich stimmt nur optisch, als Bild; ansonsten hinkt er bedenklich, so wie ich selbst beim nächtlichen Rundgang durch meine Wohnung, die nur von draußen … die nur von der Laterne vorm Haus ein wenig erhellt wird. – Ich bin erstmals zu Besuch bei Annelies Štrba in ihrer weitläufigen Villa am Walensee. Das Haus ist wohl mehrfach umgebaut und erweitert worden, die früheren Kinderzimmer, Spielzimmer, Musikzimmer und Kostümkammern im Kellergeschoss sind schmutzigweiß getüncht, im gleichen Ton sind die Möbel gestrichen, die Laken eingefärbt, alles scheint mit sämigem Spermagrau ausgespritzt zu sein. Heute ist Open House. Ein paar interessierte Kunden sind bereits angekommen und schlendern mit aufgesetztem Pokerface durch die Räume. Am Abend soll ich als Freund des Hauses in einer Festmesse auftreten, werde allerdings erst ganz am Ende etwas zu sagen haben, einen einzigen Satz, der aber gesungen werden muss, was mich mit Horror erfüllt, da ich weder singen noch auswendig rezitieren kann. Ich versuche das zu umgehen oder zu verhindern, überlege, ob ich einen Ersatzmann anwerben oder einfach mich absetzen soll. Nach Einfall der Dämmerung geh ich schon mal zur Kathedrale, stelle fest, sie ist bereits zu zwei Dritteln gefüllt – die Instrumentalisten haben auf der Bühne Platz genommen, die Sänger sind kostümiert und einsatzbereit, man scheint nur noch auf mich zu warten. Am Kraftpunkt in der Apsis hockt Jan Jedlička, er hat die Arme um die Knie geschlagen, lacht schadenfroh zu mir hoch und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger hinüber zum Klostergarten, wo ich meine Mutter mit einem Metallrechen werkeln sehe … seelenruhig werkelt sie mit verhaltener ausholender Geste, während gleichzeitig die Straßenbahn durch den Kreuzgang fährt, hinein, hinaus im Kreis um die Kathedrale herum, an Mutter vorbei wieder auf den Opernring. – »Life being short …«, lese ich als Motto zu einem Antiquariatskatalog von Sonnewald: Da das Leben nun mal kurz sei, solle man die Zeit nicht an irgendwelche beiläufigen Lektüren verschwenden, sondern sich streng an die höchste Qualität halten. Doch zum strengen Qualitätsurteil (»the highest standard«) komme ich nur nach umfangreichen eigenen Lektüren, die auch Texte von minderer Qualität einschließen. Für mich als Schriftsteller können schwache, kitschige, grafomanisch hingeschriebene Texte genau so anregend sein wie hochrangige Literatur – es kommt darauf an, jene »fruchtbaren Momente« zu detektieren, an denen sich Nachlässigkeiten oder Fehler unversehens (und vom Autor meistens unbemerkt) als produktiv erweisen. Als Leser allerdings erspare ich mir derartige Lektüren gern, lasse Unerhebliches oft schon nach wenigen Seiten liegen und halte mich statt dessen an lauter beste Texte, von denen es bekanntlich fast beliebig viele gibt; beste Texte zu lesen, ist keineswegs ein elitäres Unterfangen – jeder ist dazu eingeladen, jeder kann sich bedienen, und kosten tut’s nichts als die Anstrengung, mitlesen zu wollen.

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