Naturgedichte

I

Der schwedische Autor Bengt Emil Johnson – er ist vom Jahrgang 1936 und sollte nicht mit seinem älteren Landsmann und bekannteren Schriftstellerkollegen Eyvind Johnson verwechselt werden – hat seit 1963 bis heute in regelmässiger Folge 23 Gedichtbücher vorgelegt, obwohl er als vielbeschäftigter Rundfunkredakteur, Musikkritiker, Essayist und praktizierender Ornithologe während Jahrzehnten professionell voll ausgelastet war. Dem Schreiben konnte er sich nach eignem Bekunden nur nebenbei und «phasenweise» widmen, er tat es, obwohl ein führender Publikumsverlag in Stockholm sein Werk mit langfristiger Nachhaltigkeit betreute, ohne allzu grosse Ambition, und man kann vermuten, dass ihm sein unangestrengtes Verhältnis zum Literaturbetrieb – wie zur Literatur überhaupt – die Möglichkeit offenhielt, während Jahrzehnten an einer rücksichtslosen und riskanten Schreibweise festzuhalten, aus der sich schliesslich, von literarischen Trends oder Erwartungen weitgehend unabhängig, sein eigenständiger Personalstil entfalten konnte. Eine experimentelle, an der klassischen Moderne (Dadaismus, Futurismus) geschulte, der konkreten Poesie verpflichtete Frühphase war bald überwunden, und schon in den 1970er Jahren trat Johnson einen einzelgängerischen Parcours an, dessen Stationen und Errungenschaften heute durch ein ebenso umfangreiches wie vielfältiges Werk dokumentiert sind. Erstmals wird nun dieses Werk in kompetenter Textauswahl auch auf deutsch in Buchform zugänglich gemacht.

II

Wenn ich im Folgenden einige meiner Beobachtungen, Lektüreerfahrungen und Einschätzungen zu diesem Buch – Elchzeit – mitteile, geschieht es unter der eingeschränkten Voraussetzung, dass mir Johnsons Originaltexte nicht zugänglich sind und auch gar nicht verständlich wären, da sich meine Sprachkenntnisse auf ein paar wenige Sätze aus schwedischen Filmen und TV-Krimis beschränken. Lesungen von Tomas Tranströmer und Göran Sonnevi haben mir darüber hinaus besondere Intonationsarten dieser Sprache eindrücklich gemacht. Ich gehöre also, in diesem Fall, zu jener Mehrheit von lesenden Normalverbrauchern, die ganz auf die Vermittlungsleistung des Übersetzers angewiesen bleiben und sich einzig in und an der Zielsprache orientieren können, in der die Vorlagen nun greifbar sind.

III

Auf knapp 150 Druckseiten wird in der deutschen Ausgabe von 2007 – unter Fortlassung des Frühwerks – eine Textauslese aus zwölf Büchern geboten, die Gedichte der Jahre 1974 bis 2005 nach thematischen Gesichtspunkten, nicht aber in zeitlicher Abfolge zusammenführt. Eröffnet wird der Band durch eine autobiographische lyrische Digression von 1983, den Abschluss bildet eine versifizierte Abhandlung über das Schreiben aus dem Jahr 2001. Person und Poetik des Autors bilden somit, in dichterischer Form, die Parenthese zu einem grossen naturlyrischen Textkomplex, der alle Aspekte des Genres zur Geltung bringt – die Landschaft, die Tier- und Pflanzenwelt, die Tages- und Jahreszeiten, den Himmel mit Wolken und Gestirnen. Bei Johnson findet das Naturgedicht, von ihm gedacht und eingesetzt als eine letzte, konservative Manifestation gegen die unaufhaltsame Zerstörung der Biosphäre, eine spezielle Prägung dadurch, dass sein Einzugsgebiet auf die kargen Regionen Mittelschwedens reduziert bleibt, auf Wald, Sumpf, Moor, Ried, See, oft in morgendlicher oder abendlicher Ausleuchtung, meist im Frühjahr (vorzugsweise April/Mai) oder Herbst (September/Oktober), das heisst in übergänglichen Phasen zwischen Dunkel und Helle, Kälte und Wärme, Aufleben und Absterben. In manchen Gedichten erwähnt Johnson seine Grossmutter, die ihm den frühen Zugang zur Natur eröffnete und gleichzeitig ein durch diese Natur geprägtes bleibendes Heimatgefühl, das ihn zu einem überzeugten Provinzler hat werden lassen – sein sprödes nördliches Arkadien ist für ihn, den einstigen Hirtenjungen, zum permanenten Faszinosum geworden, das er mit allen Sinnen auslotet und das ihm sämtliche Sensationen der Grossstadt, der Konsum- und Medienwelt ersetzt – diese erreichen ihn allenfalls übers Radio, übers Fernsehen, bleiben literarisch aber irrelevant.

IV

Mit militanter Ausschliesslichkeit und Konsequenz arbeitet sich Johnson an der Natur ab, so als könnte er deren wirtschaftliche Ausbeutung und touristische Vernutzung dadurch verhindern, dass er sie in Worten präsent hält. Kaum ein Versatzstück der zeitgenössischen urbanen Zivilisation ist in seine Dichtung eingegangen, und wo er, ausnahmsweise, über seine heimatliche Region hinausgreift – einmal nach Turin, einmal nach Moskau –, lässt er es bei Exkursen in die Welt des Traums oder der Historie bewenden. Natur, Landschaft sind bei Johnson immer heimatlich fundiert, werden aber meist verfremdet, ins Allgemeine oder Beispielhafte abgehoben dadurch, dass sie nicht nur lyrisch vergegenwärtigt, sondern gleichzeitig auch erläutert und ausgedeutet werden. Natur, Landschaft gelten hier als Erfahrungs- wie als Gedächtnis- und Assoziationsraum, sie sind zu erschliessen durch sinnliche Erkenntnis und entziffernde Lektüre, weil sie als Realitätstext immer auch Zeichencharakter haben.

V

Wer begehrte nicht, heisst es an einer Stelle bei Johnson, «dass ihm die Landschaft vorgelesen würde?» Somit wäre aber auch die Natur – der Topos ist uralt und weithin bekannt – wiederum bloss ein Text beziehungsweise ein Buch, das es zu übersetzen und als Übersetzung zu verstehen gilt? Für Johnson jedenfalls können Wege im Gelände wie Sätze verlaufen, und wie Sätze können sie auch, da oder dort, plötzlich abbrechen. Wege heisst der Titel des folgenden Gedichts:

Wer geht voran?
Mit wie viel Jahrhunderten Vorsprung?
Einen Moment scheint die Gestalt sichtbar –
wir folgen nicht
ihr wir folgen dem Weg und der Weg folgt
der Landschaft, ein steter Prozess.

Jemand ging zuerst, das Eis
ging hier zuerst, hatte die Landschaft
gehobelt, Sprengel um Sprengel,
spülte die Landschaft rein,
bevor die Wege kamen,
grub Hohlwege, baute
die Hügelketten, die jetzt blauen.

Jemand ging zuerst.
Es gibt etwas, das Zeit heisst.
Entlang des Weges wächst unser Jetzt.

Der Mensch scheint der Natur schon nicht mehr anzugehören, aus Johnsons Poesie bleibt er denn auch weitgehend ausgeschlossen. Es gibt hier keine Jäger oder Waldarbeiter oder Ausflügler oder terrorverdächtige Immigranten, Landschaft und Wege kommen zumeist ohne Personal aus. Zwar nennt der Autor hin und wieder einen Freund oder Nachbarn beim Namen, doch unterscheiden sich solche Nennungen kaum von der namentlichen Aufzählung von Pflanzen oder Tieren.

VI

Als einzige relevante Person figuriert in vielen Gedichten ein namen- und gesichtsloses lyrisches Ich, dem die Funktion des aufmerksamen Beobachters und kritischen Kommentators zufällt, eine Instanz, die sich bisweilen auch als Wir oder Man vernehmen lässt und die nicht selten den Leser, die Leserin direkt mit Du anspricht. Diese Ich-Instanz bewegt sich, oftmals schwankend, auf der Demarkationslinie zwischen Natur und Kultur, besonders eindrücklich in dem Langgedicht Drei grössere Sommerweisen, das die übliche Gartenpflege – Rasenmähen, Heckenstutzen, Unkrautjäten – als einen mechanisierten Kampf gegen die Natur ausweist und zugleich als eine natürliche, wiewohl naturfeindliche Manifestation des Menschseins:

Es ist wohl ein Kampf gegen die Natur,
die Teil meiner Natur ist, um nicht Kultur
zu sagen. Jean­-Jacques Rousseau,
Bürger von Genf: wäre ich seiner
Ansicht nach glücklicher ohne
meinen ungleichen Kampf gegen die Natur?
«Alles verdirbt in der Hand des Menschen» –
hat er behauptet.
Wir erfanden das Wort, ja den eigentlichen Begriff
«Verderben». Ist das vielleicht das Verderben?

Im Menschen vollzieht sich der Kampf
zwischen Natur und Kultur; ja, in uns,
die wir es geschafft haben, unsere Natur
als etwas Unnatürliches zu betrachten.

Der neue Rasenmäher zieht gut über Kraut und Gras,
das verfluchte klebrige Labkraut wird zu grünem Matsch,
und ich fühle mich eine Weile als Gewinner.

Ausser Rousseau nennt Bengt Emil Johnson Autoren wie Lukrez und Thoreau, die er als seine Vorbilder im Hinhören auf die Natur belobigt, ebenso wie eine lange Reihe von Komponisten zwischen Schubert, Chopin und Satie, John Field und John Cage, denen er – wie der Musik generell – eine künstlerisch beglaubigte Naturhaftigkeit und Eigenständigkeit attestiert, die vermittels Sprache und Poesie nicht zu erreichen sei. Poesie ist für ihn «etwas anderes als bel canto», sie kann nicht reines Melos sein, weil sie stets angewiesen bleibt auf die Sprache als Träger von Bedeutung, und so ist sie denn auch viel weniger eine Sangart denn «eine Art Gebrüll, obzwar recht melodiös zuweilen».

VII

Und noch ein Zusammenstoss, ein ganz andrer, zwischen Natur und Kultur; diesmal ohne Ich-Kommentar – Zwei Aprilfliegen:

Auf dem Eis.
Ein Schuss in die Schläfe
ein verchromtes, glänzendes Quer-
­schlägergesurre.
aaaaaaaaaaaaaaGenau
diese Fliege brachte
den Sommer.

Wo in dieser lyrischen Miniatur sitzt, wird man fragen, die zwei­te Fliege? Die eine Fliege («genau / diese») gehört der Natur an, die andre – so jedenfalls lese ich das Gedicht – tritt metaphorisch als Kulturobjekt («Querschläger») in Erscheinung, und zwar als die von der realen Fliege evozierte Vorstellung oder Empfindung eines surrenden Projektils, das jemandem (einer nicht genannten Person) «auf dem Eis» heftig an die Schläfe fährt. Der Ablauf des Geschehens ist demnach wie folgt zu rekonstruieren: Jemand steht bei wechselndem Aprilwetter auf dem Eis, bekommt unversehens einen Schlag an die Schläfe, der ihn wie ein Schuss trifft und erschreckt, bevor er – fast gleichzeitig, aber doch erst hinterher – wahrnimmt, dass es sich bei dem «Querschläger» um eine dicke, metallisch brillierende Fliege – wohl die erste in diesem Jahr nach einem langen Winter – handelt, die er nunmehr, plötzlich begreifend, als einen Vorboten des Sommers begrüsst.

VIII

Wie eine Bestätigung dafür lesen sich zwei Verse aus einem andern Gedicht: «Man hat wohl teil an der Wirklichkeit, und vermutlich / gilt dies für das Sichhineinversetzen in eine Vorstellung, z.B.» Johnsons Naturdichtung ist zutiefst geprägt von derartigen Kippeffekten, die die Wahrnehmung des ständig zwischen Natur und Kultur lavierenden Menschen wie in einem Spiegelkabinett verunsichern: «‹Oben kann ratsch! unten sein, sagte Tun Jan-Erik immer›, / wie Grossmutter oft und zu recht betont hat.» – Manche Stellen dieser Art sind bei Johnson auszumachen, und nicht selten führt das Um- oder Überkippen von der Bio- in die Semiosphäre (oder umgekehrt) zu logisch nicht mehr nachvollziehbaren Aussagen, kurz: zu Nonsens. Vielleicht ist es «die Schwierigkeit / die so viele von uns mit der / Deutungslosigkeit haben»? Tut nichts zur Sache; der Autor weiss es auch nicht besser – er gesteht es freimütig ein: «Ich schrieb ein Gedicht, das ich nicht begreife.» – Dies sagt einer, der nach eigenem Bekunden weniger daran interessiert ist, ein Gedicht zu machen, als vielmehr daran, es ent­stehen zu lassen, und was sich da unter seiner Hand am Leitfaden von Assoziationen und Reminiszenzen aller Art ziemlich unkontrolliert tut, führt oft weit über Gewolltes und Gemeintes hinaus, es kann der ursprünglichen Absicht des Verfassers auch zuwiderlaufen, kann sie bisweilen sogar überbieten – sofern er bereit ist, sich beim Schreiben der Eigendynamik seiner Einbildungskraft zu überlassen. Musik ist, genauso wie «ein verchromtes, glänzendes Querschlägergesurre», reines Präsens, braucht keine Übersetzung, keinen Kommentar, wohingegen Sprache – auch die Sprache der Dichtung – stets der Verständigung bedarf, folglich niemals unmittelbar wirksam sein kann.

IX

Das alte Lied, das unaufhebbare Defizit – wer auf Worte angewiesen ist und durch deren konventionelle Bedeutung gebunden bleibt, wird niemals authentisch sein, niemals die Wahrheit und auch nicht die Wirklichkeit erfassen können. Nicht allein die Dichter sind von diesem Malaise betroffen, sie haben es nur – Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief ist einer der stärksten Belege dafür – am nachhaltigsten beklagt; auch jeder sprachbegabte und also von der Sprache abhängige Normalverbraucher empfindet die Inkongruenz von Wort und Welt als einen Mangel, wenn nicht gar als einen Makel – nämlich die Notwendigkeit und, immer zugleich, die Unmöglichkeit, die aussersprachliche Welt adäquat in die Wortwelt zu übersetzen. Wer spricht, vollends wer schreibt, bleibt stets hinter dem zurück, was real gegeben ist und was jetzt geschieht. «Alles wohl schon veraltet», heisst es in Johnsons Okto­ber-Gedicht: «Nein, die Elstern nicht.» Ja, die Elstern sind da; dass sie da sind, genügt und ist gut; sie haben nichts zu sagen, brauchen nicht verstanden zu werden; sie tun, was naturgemäss nottut; was wahr und wirklich ist, fällt für sie fraglos ineins. In einem seiner Baumfragmente veranschaulicht Johnson dieses Dilemma und macht deutlich, dass wir selbst, kraft der Sprache, die Dinge objektivieren, sie gewissermassen von uns fernhalten: 

Der unfassliche Abstand
zwischen uns
und dem Baum. Wir sind
dieser Abstand.

Wir können das Ding nur als Begriff haben, wir können’s, als solches, nicht sagen, wir besprechen es bloss. Solang das Wort bedeutet, zeugt es nicht, das vermag es einzig dort, wo’s – ausserhalb des Wörterbuchs – als reiner Klang Ereignis wird und auf keinerlei dahinterliegende Bedeutung mehr durchschaubar ist.

X

Die «transmentale» Wortkunst der Futuristen (Chlebnikow u.a.), Dadaisten (Schwitters u.a.) oder Lettristen (Isou u.a.) hat diese Auffassung in manchen Texten exemplarisch umgesetzt, wozu sie allerdings ihre programmatische Zukunftsorientierung durch einen Rückgriff auf «primitive» vorbegriffliche Sprachformen konterkarieren musste. Auch Bengt Emil Johnson ist als beginnender Autor von diesem Ansatz ausgegangen, hat ihm jedoch ebenso wenig wie seine Vorbilder – namentlich die Dadaisten – zu breiterer Akzeptanz verhelfen können. Doch scheint er aus jenen Anfängen bis heute zumindest ein besonderes Interesse bewahrt zu haben, das Interesse an der elementaren Poetizität von Tierlauten, vor allem von Vogelstimmen. Vermutlich waren ihm die einschlägigen Versuche Welimir Chlebnikows und Raoul Hausmanns bekannt, die beide, unabhängig voneinander, die Laut-«Sprache» der Vögel studierten und sie als poetisches Idiom erprobten.

XI

Bengt Emil Johnson, der am schwedischen Radio während langer Zeit eine ornithologische Sendung betreute, wird nicht müde, in seinen Gedichten Vögel und deren Stimmen zu evozieren oder zu charakterisieren, ohne sie allerdings nachahmen zu wollen. Mir ist kein Autor – ob Lyriker oder Erzähler – bekannt, der in seinen Texten so zahlreiche Vögel beziehungsweise Vogelarten vorführt wie Bengt Emil Johnson. Schon deren Namen allein gewinnen, bei derartiger Häufung, eine poetische Qualität – sei’s von ihrer lautlichen Zusammensetzung, ihrem Klang her, sei’s deshalb, weil man als naturferner Stadtmensch die genannten Vögel mehrheitlich gar nicht kennt, sie sich auch nicht vorstellen kann, so dass die Namen als solche, der Funktion des Benennens enthoben, Dingcharakter gewinnen. Während die sonstige Tierwelt bei Johnson bloss durch Haustiere wie Kuh, Katze, Kaninchen oder Stubenfliege vertreten ist, werden Vögel in seinen Gedichten zu Dutzenden namhaft gemacht. Neben Drossel und Häher, Falke und Elster gibt es hier die Waldammer, das Tüpfelsumpfhuhn, den Ohrentaucher, den Karmingimpel, das Rotkehlchen, die Mönchsgrasmücke, die Misteldrossel, den Zaunkönig, die Kauzeule, die Waldschnepfe, den Mäusebussard, und man erfährt, dass all diese Vögel nicht einfach nur singen, sondern, je nach Art, schmettern, schnalzen, schlagen, knattern, knarren, summen, plappern, funken, rasseln, sogar lachen und johlen … In seinem Gedicht Zum Frühling – ein Beispiel von vielen muss hier genügen – versammelt Johnson ein Ensemble von Vögeln zu einer kurzen symphonischen Dichtung, die den Intonationswandel unterschiedlicher Vogelstimmen zwischen Frühjahr und Sommer vergegenwärtigt:

Kauzeulenfrühling am Anfang. Unter eisigem Mond.
Raufusskauz im Fünfertakt. Tropfen höhlen das Eis.
Stilles Scheuern. Von den Äckern drüben, am See unten,
die Waldohreule. Dumpfer, langsamer, aber im Takt.
Bass in einer Jug­-Band. Es dauert.

Und dauert. Schwillt an. Spätabends in einer Frühlingsnacht
sind Schienenleger am Hämmern – legen Schienen in den Morast?

Das Tüpfelsumpfhuhn, metronomisch: 72 Schläge in der Minute.

Bis wir im Sommer angelangt sind. Und da ist
der Feldschwirl – sein Schwirren, pausenlos, an der
Grenze des Möglichen. Der Körper, vor Gesang zitternd,
so intensiv, dass er nicht zum Artikulieren kommt.

Das ist mehr als ein Natur-, ein Vogelgedicht; es ist auch eine kleine Poetik, die auf die spezifische Qualität vorsprachlicher, noch unartikulierter Laute verweist, die nicht wortgebunden und eben deshalb in ihrem Ausdruck besonders «intensiv» sind. Ich erinnere an dieser Stelle an zwei vergessne Sprachforscher des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Wackernagel und Jost Winteler, die sich pionierhaft mit dem Phänomen der Lautnachahmung (Onomatopoie) befasst und die These postuliert haben, wonach als Motor der Wortbildung die Nachahmung von Tierlauten, vorab von Vogelstimmen zu gelten habe. Dass der Feldschwirl – in Johnsons Gedicht – schwirrt, wäre demnach, zumindest im Deutschen, ein Beleg für den onomatopoetischen Ursprung sowohl eines bestimmten Vogelnamens wie auch eines alltäglichen Tätigkeitsworts. 

XII

Die vorliegende Textauswahl dokumentiert nicht nur Bengt Emil Johnsons Bemühungen um eine zeitgemässe Ausarbeitung des Naturgedichts, sie zeigt auch die Formenvielfalt auf, die aus dieser Arbeit entwickelt wird. Langgedichte – oft mehrteilig angelegt oder zyklisch strukturiert, wechseln ab mit lyrischen Kurzformen, die sich oftmals dem Aphorismus, dem Haiku, der Sentenz oder auch dem flüchtigen Notat annähern. Dazu kommen Prosagedichte, Traumberichte, auch vereinzelte Mesosticha, mit denen Johnson unter andern Tomas Tranströmer und John Cage seine Reverenz erweist. Dieser Formenvielfalt entspricht die Vielfalt der Stilebenen, auf denen und mit denen er souverän operiert – in freier Folge werden einzelne Wendungen oder längere Fragmente aus der Alltagssprache, aus wissenschaftlichen Fachsprachen, aus der Sprache der Publizistik, der Talkshows, der Popkultur zusammengeschnitten, woraus sich eine Art von Patchwork-Poesie ergibt, die wohl äusserst disparat wirken mag und dennoch in sich stimmig bleibt, weil sie durch eine unverwechselbare Intonation kaum merklich harmonisiert wird.

XIII

Die meisten Leser werden sich, wie ich selbst, ausschliesslich auf die deutsche Textfassung stützen, sich ganz auf den Übersetzer verlassen müssen. Von ihm ist nicht nur zu erwarten, dass er die Vorlage sinngemäss in die Zielsprache bringt, sondern auch, dass er in der Zielsprache zu einem Ausdruck findet, der mehr ist als die korrekte Wiedergabe fremdsprachiger Verlautbarungen. Eine Fremdsprache zu kennen, sie zu beherrschen, genügt für literarisches Übersetzen nicht. Dem Übersetzer müssen alle stilistischen und rhetorischen Register der Zielsprache zur Verfügung stehen, und er muss notwendigerweise mit dem poetischen Ambiente vertraut sein, innerhalb dessen die Übersetzung sich zu behaupten hat.
Bei Lukas Dettwiler, dem Herausgeber von Johnsons Elchzeit, ist diese Voraussetzung offensichtlich gegeben. Die von ihm verdeutschten Gedichte lesen sich über weite Strecken wie deutsche Gedichte, und hin und wieder drängt sich angesichts souveräner formaler Lösungen die Frage auf, welchen Anteil daran der Übersetzer und welchen der Autor hat; etwa in dieser symmetrisch gefügten Strophe, deren Bau exakt dem entspricht, was sie besagt – gedämpfte Spiegelung auf der leicht getrübten Oberfläche eines Sees:

Der See ist nicht spiegelblank
aber spiegelt
und blinkt.

Wer des Schwedischen nicht mächtig ist, kann nicht wissen, fragt sich aber, ob «spiegelblank» auch im Originaltext zurückgeführt wird auf «spiegeln» und «blinken». Was aber jedenfalls stimmt (und es wäre richtig, auch wenn die Übersetzung nicht stimmen würde), ist die sprachliche Nachbildung des Spiegeleffekts in der Konstellation von «spiegelblank» zu «spiegelt» / «blinkt». – Und noch ein Beispiel:

Es wiederholt sich, es gibt keine Wiederholung.
Sich da schätzen, Elstern bestätigen es mit Lachen,
Schwätzen.

Auch hier wird das, wovon die Rede geht (Wiederholung beziehungsweise keine Wiederholung), formal nachgebildet durch eine beinah gleichklingende Assonanz: «schätzen» / «schwätzen». Die Lösung – ist sie dem Autor, dem Übersetzer zuzuschreiben? – kann lautlich durchaus überzeugen, in diesem Fall freilich auf Kosten der Aussage, die in dem zwischen «schätzen» und «schwätzen» ausgespannten Vers völlig verloren geht. Denn was heisst «sich da schätzen»? Wer schätzt sich wofür? Und wie kommen Elstern dazu, eine Wertschätzung mit Lachen und Schwätzen zu quittieren? Solche Unklarheiten stören bei einem Autor, der oft bewusst mit Unklarheiten operiert; sie stören nicht als solche, sie stören, weil unklar bleibt, ob es sich um gewollte oder bloss um unterlaufne Unklarheiten handelt. «Verstell dich. Wie sollte etwas / anders sein als Vorstellung?» Ist das ein Druckfehler? Sollte es statt «Vorstellung» nicht doch eher «Verstellung» heissen – womit dann auch der Bezug zur Aufforderung «verstell dich» geklärt wäre. So oder anders: die Verschränkung von Verstellung und Vorstellung wirkt reichlich gezwungen, und die Frage, «wie etwas / anders sein (sollte) als Vorstellung», ist als Formulierung – ob gewollt oder ungewollt, ob dem Autor oder dem Übersetzer anzulasten – offensichtlich missglückt. Niemand sollte sich aber durch solche und ähnliche Unklarheiten davon abhalten lassen, am Leitfaden von Bengt Emil Johnsons Elchzeit eines der ergiebigsten Gelände heutiger Naturdichtung zu explorieren.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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